Das „Kairos-Palästina-Dokument“ palästinensischer Christinnen und Christen

Das „Kairos-Palästina-Dokument“ palästinensischer Christinnen und Christen

Dr. Michael Volkmann

Vortrag auf der Tagung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit gemeinsam mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Berlin, 17. Januar 2012


1. Einführung

Im Dezember 2009 verbreitete der Ökumenische Rat der Kirchen weltweit einen von einer interkonfessionellen Gruppe palästinensischer Christinnen und Christen verfassten und vom Sprachendienst des ÖRK übersetzten Text und stellte eine direkte Beziehung zu dem 1985 in Südafrika publizierten Kairos-Dokument her, einem Aufruf zur Überwindung der Apartheid. Ziel des „Kairos-Palästina-Dokuments“[1] ist, nach den Worten des ÖRK, „die Beendigung der Besetzung Palästinas durch Israel“[2].

Aufgrund der Verbreitung des Dokuments durch den ÖRK gab es international Reaktionen, auch in Deutschland[3]. Außerhalb evangelischer Palästina-Solidaritätsgruppen wurde der Text intensiv in Kreisen des christlich-jüdischen Dialogs diskutiert. Das Kairos-Palästina-Dokument ist kein offizielles kirchliches Dokument. Seine Verbreitung durch den ÖRK hat jedoch Kirchen zu offiziellen Reaktionen veranlasst. Unter den rund dreißig mir bekannten Reaktionen und Stellungnahmen in deutscher Sprache sind einige wenige, die das Papier kritiklos unterstützen und ebenso wenige, die es kompromisslos ablehnen. Die Mehrzahl der Reaktionen ist differenziert, würdigt manche Passagen des Dokuments, problematisiert jedoch den überwiegenden Teil und stimmt dem Dokument insgesamt nicht zu. Wirkung zeigen vor allem die politischen Forderungen des Dokuments. Gründliche Auseinandersetzungen mit seiner Theologie sind hingegen selten. Dies mag verwundern, bezeichnen doch die Autoren selbst ihren Text nicht als politisches Papier, sondern als „ein Dokument des Glaubens“[4] und einen „Schrei der Hoffnung, wo keine Hoffnung ist“[5].

Im Folgenden würdige ich positive Aussagen des Dokuments, thematisiere dann die kritikwürdigen Stellen und komme am Schluss zu meinem Resümee.

2. Eine Würdigung positiver Aussagen des Dokuments

Der eigentliche Titel des Dokuments lautet „Die Stunde der Wahrheit: Ein Wort des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe aus der Mitte des Leidens der Palästinenser und Palästinenserinnen“. Glaube, Hoffnung und Liebe sind die Stichworte zur Gliederung der Hauptteile des Textes. Voraus gehen eine Einleitung und ein Abschnitt über „Die Realität“. Am Ende des Dokuments wenden sich die Autoren mit Appellen an verschiedene Personen und Gruppen.

Unabhängig von der kritischen Beurteilung eines großen Teils des Dokuments verdient die schwierige Lage der Palästinenser unsere Aufmerksamkeit und Empathie. Niemand kann die gegenwärtige Situation gutheißen. Etliche Reaktionen verweisen auf das bereits bestehende vielfältige kirchliche Engagement für die unter der Situation leidenden Menschen. Den Autoren des Dokuments gebührt Respekt dafür, dass sie an der Hoffnung festhalten, dass Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten ohne Gewalt zu erreichen sind. In der Überzeugung, dass Gott „uns als zwei Völker hierher gestellt“ hat (2-3-1), mahnen sie, „den Hass der Vergangenheit zu überwinden“ (3-3-4) und „in dem anderen das Antlitz Gottes zu sehen“ (9-2). Sie sprechen sich für Liebe statt Rache und für eine Kultur des Lebens statt einer Kultur des Todes aus. Sie appellieren an christliche und auch an muslimische Fundamentalisten, sich vom Fanatismus und Extremismus abzuwenden. Und sie plädieren dafür, einander besser kennen zu lernen und Bildungsprogramme von Feindschaft zu entgiften. Viele Stellungnahmen und Antworten auf das Dokument heben diese und ähnliche Aussagen würdigend hervor. Dies hindert sie jedoch nicht daran, auf andere Aussagen kritisch einzugehen.

3. Kritik an politischen und theologischen Aussagen des Dokuments

a) Kritik an politischen Aussagen

In ihrer Beschreibung der Realität der Besetzung (1-1 bis 1-5-1), unter der sie leiden, nennen die Autoren eine Reihe von israelischen Maßnahmen. Sie gehen jedoch nicht auf ihre Ursachen ein. Sie beklagen die „Trennmauer“ und die Checkpoints, ohne von den Selbstmordattentaten zu reden, gegen die diese schützen sollen. Sie beklagen den Krieg in Gaza ohne von den zehntausend Raketen zu sprechen, die von dort auf Israel abgefeuert wurden. Sie beklagen die Gefangenen, ohne nach deren Vergehen zu fragen, und die Flüchtlinge, ohne die Ursachen für ihre Flucht und für die ungelöste Flüchtlingsfrage zu thematisieren, geschweige denn die Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Ländern zu erwähnen. Sie beklagen die Emigration von Christen, ohne deren innerpalästinensische und innerarabische Ursachen anzusprechen. So verleihen sie ihrer Sicht der Dinge eine Einseitigkeit, die sich durch das gesamte Dokument zieht. Israel erscheint als der ungerecht Handelnde, die Palästinenser als die Leidenden. Dass umgekehrt auch Palästinenser ungerecht handeln und Israelis leiden, kommt nicht in den Blick. Es fehlt jede palästinensische Selbstkritik in Bezug auf die Jahrzehnte lange destruktive Politik seitens der palästinensischen und anderer arabischen Regierungen. Völlig undenkbar erscheint ein Schuldbekenntnis in Bezug auf die antijüdische Tradition der orientalischen Christenheit. Manche Stellungnahmen kritisieren das Dokument daher als selbstgerecht. Tatsächlich stilisiert es die Palästinenser als hilflose Opfer. Mit Israel werden die Begriffe „Feind“ und „das Böse“ verknüpft. Zu diesem geschönten Selbstbild gehört das gänzlich fehlende Verständnis für die Sorgen, Schmerzen und Ängste von Israelis etwa angesichts der Bedrohung durch den Iran und seine radikal-islamischen Verbündeten im Libanon und in Gaza.

Kritikwürdig sind auch zahlreiche Zweideutigkeiten im Kairos-Palästina-Dokument.

Einerseits enthält das Dokument einen Appell an die Muslime, dem Fanatismus und Extremismus abzuschwören (5-4-1), andererseits aber auch die undifferenzierte Aussage (4-2-5): „Wir haben Hochachtung vor allen [!], die ihr Leben für unsere Nation hingegeben haben, und sagen, dass jeder Bürger bereit sein muss, sein Leben, seine Freiheit und sein Land zu verteidigen.“ Es sind ja unter diesen Toten erschreckend viele, deren Tod den einzigen Zweck hatte, möglichst viele unbeteiligte Zivilisten mit zu ermorden. Dieser Satz wird von vielen als inakzeptable Würdigung der Selbstmordattentäter verstanden.

Die Autoren bekennen sich zur Gewaltfreiheit und zugleich zum „legitimen Widerstand“. Den Begriff Terrorismus setzen sie in Anführungszeichen (4-3), offenbar lehnen sie es ab, zwischen Terrorismus und „legitimem Widerstand“ zu differenzieren. Ihre Behauptung, wenn es keine Besatzung gebe, gebe es auch keinen Widerstand (1-4; 4-3), ist historisch nicht haltbar und ein trügerisches Versprechen für die Zukunft. Unklar bleibt nämlich, auf welches Territorium sich der Begriff „Besetzung“ bezieht. Die Autoren vermeiden jede Aussage, die Israel zu seinem Land in eine positive Beziehung setzen würde. Viele Palästinenser halten auch den Staat Israel für palästinensisches Territorium.

Die Formulierung, „dass die israelische Besatzung palästinensischen Landes Sünde gegen Gott und die Menschen“ (2-5) bzw. „das Böse“ (4-2-1) ist, erscheint mir theologisch überzogen. Besatzungen sind eine nicht grundsätzlich zu verhindernde Tatsache. Sie sind im internationalen Recht geregelt, und Israel hält sich an dieses Recht und verweigert den Palästinensern keineswegs das Existenzrecht, wie in 4-2-4 behauptet wird. Im internationalen Besatzungsrecht ist vorgesehen, eine Besetzung durch Verhandlungen bis zu einem Friedensvertrag zum Ende zu bringen. Der Frieden zwischen Israel und Ägypten ist so zustande gekommen. Die Autoren erklären den Verhandlungsweg jedoch für gescheitert. Sie sprechen von zwanzig Jahren ergebnislosen Verhandlungen, erwähnen dabei aber nicht die fünf Jahre der Al-Aqsa-Intifada, die den Oslo-Friedensprozess zum Erliegen brachte. Bislang sind alle Wege zum Frieden gescheitert, gewaltsame und gewaltlose, auch der Weg internationalen Druck. Diesen jedoch und nicht den Verhandlungsweg wollen die Autoren trotz seines Scheiterns neu beschreiten. Sie bezeichnen es als ihr Ziel, „den Unterdrücker zu zwingen, von seiner Aggression abzulassen“ (4-2-3). Von einer anderen als der israelischen Aggression ist keine Rede.

Das Dokument hat die Vision, dass die beiden Völker im Land zusammen leben und Gerechtigkeit und Frieden schaffen können (2-3-1). Allerdings ist die Zweistaatenlösung für die Autoren kein Thema. Im Dokument ist nur von einem Staat (9-3), einer Gesellschaft (4-3), einem gemeinsamen politischen Leben (5-2-4) die Rede, nirgends von zwei Staaten. Ich interpretiere dies als Vision eines bi-nationalen Staates. In diesem einen Staat für beide Völker würden Juden zur Minderheit werden, dominiert von einer muslimischen Mehrheit, eventuell vermehrt um zurückkehrende Flüchtlinge, die „das Recht auf Heimkehr haben“ (1-1-6). Ein solcher Staat würde die Schutzfunktion nicht erfüllen können, die der Staat Israel für die Juden hat und die auch von den evangelischen Kirchen in Deutschland gewürdigt wird. Das eigentliche Problem des Konflikts und auch des hier zu analysierenden Dokuments liegt offensichtlich nicht in der Zuspitzung auf die Frage der Besatzung, sondern in der Frage der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz des jüdischen Staates Israel durch seine arabischen Nachbarn. Das Existenzrecht des Staates Israel ist aus der Sicht der evangelischen Kirchen in Deutschland nicht hinterfragbar.

Kritik verdient auch der Vergleich Israels mit dem früheren südafrikanischen Apartheidstaat, der im Text angelegt ist und durch die Titulierung des Papiers als Kairos-Dokument offenbar vor allem vom ÖRK gewollt wird. Der Apartheidvorwurf zielt auf das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat. So wie die Apartheid in Südafrika beendet wurde, soll nach dem Willen der Autoren und des ÖRK der jüdische Charakter des Staates Israel abgeschafft werden. Hinter dieser Forderung steht die Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus, welcher Philip Potter als Generalsekretär des ÖRK anlässlich ihrer Annahme durch die UNO im November 1975 noch vehement widersprochen hat. Nach Ende des Kalten Krieges erklärte die UN diese antisemitische Resolution für nichtig.

Mit ihrer Zuspitzung auf das Thema Besetzung ignorieren die Autoren völlig die palästinensische Autonomie als Zwischenschritt auf dem Weg zur staatlichen Freiheit. Die gegenwärtige Regierung nutzte mit Erfolg die Chancen der Autonomie zum Aufbau funktionierender zivilgesellschaftlicher Institutionen im Westjordanland. Israel reagierte darauf mit dem Abbau von Sicherheitskontrollen. Der nachfolgende Aufschwung ermöglichte dem Westjordanland ein Wirtschaftswachstum von bis zu 8 %. Dieser Wandel schlägt sich im Dokument nicht nieder. Er macht jedoch den palästinensischen Versuch international als Staat anerkannt zu werden erst möglich.

Die breiteste Ablehnung erfährt der Boykottaufruf gegen „alle von der Besatzung hergestellten Güter“ (4-2-6) bzw. gegen ganz Israel (7-1). Das hat mehrere Gründe. Zum einen hat Deutschland mit dem Boykott von Juden den Weg aus der Zivilisation in die Barbarei angetreten. Die wirtschaftliche Bedeutung eines solchen Boykotts ist nicht das Entscheidende, sondern seine propagandistische als Einfallstor des Antisemitismus. Denn ein Boykott ist mit einer einseitigen Schuldzuweisung an Israel verbunden. Dass die Realität so ist, wie sie ist, hängt jedoch auch mit dem politischen Handeln der palästinensischen Seite und etlicher arabischer Staaten zusammen. Im israelisch-palästinensischen Konflikt sind die Palästinenser als die Schwächeren dennoch verantwortlich Handelnde. Um Frieden zu erreichen, müssen sich beide Seiten bewegen, nicht nur eine. Schließlich bedeuteten internationale Sanktionen, dass eine Verhandlungslösung durch Zwang ersetzt würde. Niemand aber hat das Recht, einen existierenden Staat durch äußeren Zwang aufzulösen. Der Boykottaufruf richtet sich an „Einzelpersonen, Gesellschaften und Staaten“ (4-2-6). Die ganze Welt soll Israel boykottieren, eine gespenstische Vorstellung, das wäre nicht mehr Gewaltlosigkeit, sondern kalter Krieg. Wenn als Ziel „die Befreiung beider Völker von den extremistischen Positionen der verschiedenen israelischen [!] Regierungen“ angegeben wird (4-2-6), so verbleibt als einzige Alternative eine erzwungene palästinensische Regierung, Fatah oder Hamas, für beide Völker.

b) Kritik an theologischen Aussagen

Das Dokument setzt mit einem trinitarischen Glaubensbekenntnis ein, über das Klaus Wengst in seiner Analyse der Theologie des Kairos-Palästina-Dokuments schreibt: „In allen drei Artikeln fällt die ebenso umfassende wie ausschließliche Bezogenheit auf das Universum, die Welt, die Menschheit auf.“[6] – „Gott ist als der Gott aller Welt beschrieben. Jesus hat die Funktion, ein neues Licht auf das Alte Testament zu werfen und der heilige Geist dient als Hermeneut, der dazu anleitet, das Alte Testament ganz und gar auf das allein in universaler Ausrichtung verstandene Neue Testament hin zu lesen.“ Wengst stellt das Dokument in die lange christliche Tradition, die die Universalität gegen die Besonderheit Israels ausspielt. Palästinensische Spezialität sei es, dass dies gelinge, „ohne Israel und seine Geschichte oder Aspekte seiner Geschichte auch nur ein einziges Mal zu benennen“. Israels Besonderheit bleibe jedoch gerade auch im Neuen Testament erhalten.

Jesus wird, so Wengst, von den Autoren des Dokuments aus dem Judentum herausgelöst. Das Wort „Revolution“ für Jesu Wirkung behaupte einen Bruch Jesu mit der biblisch-jüdischen Tradition. Dieser behauptete Bruch werde noch verstärkt durch die Aussage, Jesus habe „eine neue Lehre“ bezüglich der „Themen wie die Verheißungen, die Erwählung, das Volk Gottes und das Land“ gebracht (2-2-2). Die Darstellung Jesu in den Evangelien gehört nach Wengst jedoch ganz und gar in den jüdischen Kontext hinein.

Das Kairos-Dokument vertritt das traditionelle Schema von Verheißung und Erfüllung, das nach Wengst im Neuen Testament terminologisch nur einmal begegnet (Apg. 13,32-33). Die Mehrheit der neutestamentlichen Stellen, argumentiert er weiter, setzt die Verheißungen an Israel in Geltung und bestätigt sie.

Wengst betont auch, dass im Neuen Testament der Zusammenhang von Volk und Land Israel nicht aufgehoben wird, während das Kairos-Palästina-Dokument das Land aus der Bindung an Israel löst und in eine universelle Perspektive rückt. „An keiner einzigen Stelle [im Kairos-Palästina-Dokument] werden die Begriffe ‚Land‘ und ‚Israel‘ in positiver Hinsicht auch nur entfernt miteinander in Verbindung gebracht; in Bezug auf das ‚Land‘ erscheint Israel ausschließlich als Besatzer“[7] . Wengst hält diesen Befund für hochproblematisch. Die theologische Auseinandersetzung um das Land sei aufs engste mit der politischen verknüpft. Wenn das Kairos-Palästina-Dokument das Land westlich des Jordans als „unser Land“ (2-3) bezeichne, stelle es das Existenzrecht Israels in Frage, so der emeritierte Bochumer Neutestamentler.

Die bleibende Erwählung Israels und die Bundestreue Gottes mit dem gelobten Land als elementarem Bestandteil der Bundesschlüsse sind für die Kirchen in Deutschland jedoch zentrale Aussagen, die die Mitte des christlichen Glaubens betreffen. Gottes besonderes Verhältnis zu Israel lässt sich nicht universalistisch relativieren. In der EKD-Studie „Christen und Juden III“ heißt es: „Die von palästinensischen Christen geforderte Universalisierung aller biblischen Aussagen über das Land (‚jedem Volk hat Gott ein Land gegeben‘) widerspricht der … biblischen Einsicht, dass Gott sich selbst unauflöslich an das jüdische Volk gebunden hat. Bund und Land aber gehören zusammen.“[8] Diese Kritik trifft auch für das „Kairos-Palästina-Dokument“ zu.

Weiter noch geht die Amerikanische Zentrale Rabbinerkonferenz (Central Conference of American Rabbis, CCAR) in ihrer „Zurückweisung“[9] . Sie wirft dem Dokument eine enterbungstheologische Sprache vor, die dem Judentum abspreche, Religion des Bundes zu sein. Somit löscht es „die Jahre aus, in denen die christliche Seele auf der Suche war und Reue zeigte, als ob es sie nicht gegeben hätte“. Das Dokument, so die CCAR, hat einen enterbungstheologischen und antisemitischen Charakter: „Eine genaue Lektüre des Kairos-Papiers zeigt, dass es alles andere ist, als ein Dokument, das auf Wahrheit beruht. Die sorgfältige Abwägung dessen, was es sagt und was es nicht sagt, der Geschichte, die es zeichnet und der Geschichte, die es verschleiert, sowie des moralischen Maßstabes, den es an Israel anlegt, während es gleichzeitig Kompromisse angesichts palästinensischer Gewalt macht, enthüllt ein moralisch inkonsistentes und theologisch suspektes Dokument, das nur einen Teil der Wahrheit ausspricht, und manchmal nicht einmal das.“ – Das Kairos-Palästina-Dokument, resümiert die CCAR, fordert „christliche Gläubige auf der ganzen Welt auf…, eine Politik der BDS gegen Israel als Ausdruck ihres Glaubens zu übernehmen“. - „Daher erklärt die Central Conference of American Rabbis: - Das Kairos-Papier ist ein sachlich, theologisch und moralisch mangelhaftes Dokument.“

4. Resümee

Das Kairos-Palästina-Dokument wird nur in begrenzten Kreisen vor allem der Evangelischen Kirche unkritisch propagiert, außerhalb dieser Kreise erfährt es deutliche und berechtigte Kritik. Es hat keine Chance weitere Kreise für seine Ziele einzunehmen, schon gar nicht die relevanten politischen Parteien.

Ein Blick in die Homepage www.kairospalestine.ps zeigt, dass selbst unter christlichen Palästinensern das Interesse nachlässt: Die Zahl der Unterzeichner stieg im vierten Halbjahr nach der Veröffentlichung, von März bis September 2011, nur noch um zehn Prozent, seitdem um weniger als 1 % (von 2.455 am 29.3.2011 auf 2.710 am 15.9.2011 und auf 2.727 am 14.01.2012).

So ist die vielleicht positivste Entwicklung die, dass der Internationale Rat der Christen und Juden (ICCJ) den Austausch mit den Autoren des Dokuments sucht, im Juli 2010 in Istanbul und im Oktober 2011 in Beit Jala. Nach der Tagung in Istanbul erschien die ICCJ-Stellungnahme „Habt Erbarmen mit den Worten“[10]. Darin warnt der ICCJ vor Polarisierungen und ermutigt zur offenen Debatte.

„Die arabischen ChristInnen und der christlich-jüdische Dialog“ lautete das Thema der Jahrestagung von Studium in Israel Anfang dieses Monats in Rothenburg, wo das Kairos-Palästina-Dokument in einer Arbeitsgruppe zur Sprache kam. Zwei Anfragen der dortigen arabischen Gesprächspartner erscheinen mir besonders wichtig: Welche Rolle spielt im christlich-jüdischen Dialog die Frage nach der Gerechtigkeit? Und wie konsequent wird im christlich-jüdischen Dialog die theologische Auseinandersetzung mit den Ansichten der so genannten Christlichen Zionisten geführt?

Als problematisches polarisierendes Beispiel sehe ich die Arbeitshilfe der ACK Baden-Württemberg zum Kairos-Palästina-Dokument an. In dieser Arbeitshilfe, die nur unterstützende Kommentare zum Dokument wiedergibt, wird das jüdische Volk mit den Vollstreckern der Schoa, also mit der SS, verglichen und der Zionismus als krasses Apartheidsystem bezeichnet[11] . Die evangelische Kirchenleitung in Württemberg hat sie allen Pfarrämtern zugesandt.

Darum halte ich es für wichtig, dass wir in den Kirchen den im Herbst erschienenen Antisemitismusbericht der Bundesregierung studieren. Nicht nur die Stellen, in denen die Kirchen direkt angesprochen werden und die sich auf den traditionellen Antijudaismus beziehen, sondern auch was dort über die Einseitigkeit, Intensität, Schärfe und Unangemessenheit linksextremer Kritik an Israel geschrieben wird, geht uns an: „Im angeblich aggressiven Vorgehen Israels wird die alleinige Ursache für den Nahostkonflikt gesehen, die arabische beziehungsweise palästinensische Seite wird hingegen nur als unschuldiges Opfer wahrgenommen, die legitimen Sicherheitsinteressen Israels werden nicht beachtet; auch finden die bedenklichen Ansichten und Handlungen der islamistischen und nichtislamistischen Gegner des Staates kaum kritische Aufmerksamkeit. Die besondere Empörung über angebliche oder tatsachliche Menschenrechtsverletzungen durch Israel steht für Doppel-Standards bei der Einschätzung, direkte und indirekte Anspielungen deuten auf eine Gleichsetzung mit dem Apartheidstaat oder dem Nationalsozialismus hin.“[12]

Aussagen wie die zitierten findet man sowohl im Kairos-Palästina-Dokument als auch in der Arbeitshilfe der ACK Baden-Württemberg und im Deutschen Pfarrerblatt.

Über eine 2004 in Bielefeld veröffentlichte empirische Erhebung heißt es im Antisemitismusbericht der Bundesregierung: „Die – durchaus überzeugende – Schlussfolgerung der Untersuchung lautet, dass Israelkritik ohne Antisemitismus zwar durchaus nachweisbar ist, jedoch wesentlich häufiger Kritik an Israel mit antisemitischen Untertönen unterfüttert wird.“[13]

So ist das auch in der Kirche. Das zeigt die Auseinandersetzung um das Kairos-Palästina-Dokument. Und darauf müssen die Kirchen reagieren.


Anmerkungen

[1] Kairos-Palästina-Dokument, http://www.oikoumene.org/de/dokumentation/documents/other-ecumenical-bodies/kairos-palaestina-dokument.html.
[2] Ökumenischer Rat der Kirchen – Nachrichten: Aufruf palästinensischer Christen und Christinnen zur Beendigung der Besetzung, ohne Ort, ohne Datum.
[3] Das Votum der Evangelischen Mittel-Ost-Kommission (EMOK) vom 22.04.2010 wurde am 31.08.2011 von der Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland angenommen: http://www.evangelische-kirche.de/international/emok/71428.html.
[4] Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Baden-Württemberg, Arbeitshilfe zum Kairos-Dokument der Christinnen und Christen in Palästina,
Stuttgart 2011, S. 5 (Impulse zum Gespräch; Bd. 2).
[5] Kairos-Palästina-Dokument, Einführung. Zitate aus dem Dokument werden im Folgenden durch die in Klammern nachgestellte Abschnittsnummer nachgewiesen.
[6] Klaus Wengst, Land Israel und universales Heil im Neuen Testament. Eine theologische Auseinandersetzung mit dem „Kairos-Palästina-Dokument“, COMPASS Online-extra Nr. 145, Juli 2010, http://www.compass-infodienst.de/Klaus_Wengst__Das__Kairos-Palaestina-Dokument__-_Eine_theologische_Auseinanderse.9899.0.html,
Abschnitt 1. Dort auch die beiden folgenden Zitate.
[7] Ebenda, Abschnitt 5.
[8] Christen und Juden I-III. Die Studien der Evangelischen Kirche in Deutschland 1975-2000, hrsg. im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 2002, S. 194, Abschnitt 4.6.3.
[9] „A Rebuttal to the Kairos-Document“, Deutsche Übersetzung „Erklärung zum Kairos-Dokument (2009)“: http://www.christen-und-juden.de/html/rebuttal.htm. Dort auch die nachfolgenden Zitate aus der CCAR-Erklärung.
[10] http://jcrelations.net/de/?item=3203.
[11] Arbeitshilfe (s.o. Anm. 4), S. 45 bzw. 47.
[12] http://www.christen-und-juden.de/Download/Studie2011.pdf, S. 27.
[13] Ebenda, S. 59.