UM GOTTES WILLEN - Christlich-jüdische Gemeinschaftsfeier
Ansprache von Landesrabbiner em. Dr. h.c. Henry G. Brandt bei der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier
Meine lieben Freunde,
einige von Ihnen, die schon länger in Hannover leben, werden verstehen, dass ich mit tiefer Bewegung hier stehe, dass es mir vergönnt ist, nach so vielen Jahren wieder in dieser Kirche mit euch zu feiern und zu euch zu sprechen.
„Um Gottes Willen“. Natürlich kann man die drei Worte sehr unterschiedlich nuancieren und jedes Mal bedeuten sie etwas anderes – vom absolut Positiven bis hin zum Negativen. Heute möchte ich etwas über den Willen Gottes sprechen, denn es ist bemerkenswert, wie viele Menschen glauben, den Willen Gottes genauestens zu kennen. Natürlich gibt es auch viele, die nichts von ihm wissen wollen. Aber viele in allen Religionen und Konfessionen wissen genauestens, was Gott will und was er nicht will: Wann und wo man beten soll, was man essen darf oder was nicht koscher ist und man daher nicht essen darf, wer darf und wer darf nicht, wer mehr oder wer weniger weiß, wen Gott ernennt dazuzugehören und wer nicht dazu gehört, wie viel man Frauen erlauben darf oder nicht, oder was Männer dürfen, aber nicht Frauen… Sie wissen genau, was Gott will und sie halten sich auch daran.
Auch bei den größeren Problemen der Gesellschaft wissen so viele genau, was Gott will. Die Kreuzfahrer, als sie in das Heilige Land aufbrachen und auf ihrem Weg die Juden im Ghetto beraubten und ermordeten, schrien „Gott will es!“ Der islamistische Fanatiker schreit „Allahu akbar“ und schneidet seinem Opfer die Kehle durch. Als Moshe vom Berg Sinai herunter stürmte, so haben wir letzte Woche in unserem Wochenabschnitt aus der Tora gelesen, und das Volk um das goldene Kalb tanzen sah, da rief er „Mi leAdonaji Elei!“ - „Wer für Gott ist, zu mir! Ein jeder nehme sein Schwert und töte seinen Nächsten“. Und es fielen – fast muss man sagen: Gott sei Dank – nur 3.000. Sie wussten genau oder glaubten genau zu wissen, was Gott will – Gottes Wille geschehe.
Meine lieben Freunde,
zum Guten oder zum Schlechten, woher wissen wir – ehrlich gesagt, Hand aufs Herz – was Gottes Wille ist? Wer von uns kennt seine Wunschliste? Es kommt doch darauf an, wie wir Gott verstehen. Unser Gottesbild spielt hier eine entscheidende Rolle. Ist es eigentlich nicht verwegen, ja sogar unzulässig, überhaupt darüber nachzudenken, dass Gott etwas will, dass er etwas wünscht? Sind das nicht eigentlich menschliche Regungen, die wir ihm unterstellen? Über wen reden wir denn eigentlich?
Denken Sie mal ein bisschen nach. Wenn wir zur Schöpfungsgeschichte zurückkehren, ungeachtet dessen, wie wir sie interpretieren, da sprach ER am Anfang, dass Dinge seien, dass Existenz zum Leben komme: „Und er sprach, es werde Licht“, und er sprach später, es seien die Sonne am Himmel und der Mond und die Sterne. Wenn ich das heute lese, dann denke ich vielleicht nicht wie meine Vorfahren vor drei-, viertausend Jahren an die Gestirne, die ich am Himmel sehe. Ich denke an die Fernsehbilder, die mir zeigen, wie die modernsten Instrumente in die fernsten Ecken des Universums dringen und Milliarden von Sternen und von Galaxien und von Nebeln in den wunderbarsten Farben leuchten in Entfernungen, die unser Verstand nicht mehr fassen kann. Das ist Gottes Schöpfung. Wer ist denn dann Gott, in dem Sinn, dass er eine Wunschliste hat und unseren Speisezettel bestimmt? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Setzen wir da nicht uns und unsere Erfahrungen an seine Stelle?
„Und er sprach, es werde ein Mensch. Als Mann und Frau schuf er sie.“ Auch diese unsere kleine Erde, dieses Staubkörnchen im Universum, ist seine Schöpfung. Soweit wir wissen, mit all den modernsten Mitteln und Teleskopen und Abhörgeräten, haben wir noch nicht erfahren, dass es irgendwo in diesem Universum noch so eine Welt gibt wie unsere, auf der Wesen existieren, die an so etwas denken können, die ebenfalls Fragen stellen können an eine schöpfende Kraft, an diese Macht, die wir Gott nennen, und über sie nachdenken und an sie glauben, wie wir es tun. Wir loben ihn für das, was wir haben und was wir sind und dass wir die Majestät der Schöpfung und der Menschlichkeit erkennen können.
Das Überwältigende in der Schöpfung ist ihre Gesetzlichkeit und ihre Harmonie. Aus eigener Erfahrung, als ich noch ein Flottenoffizier war, weiß ich, dass ich feststellen kann, wann in 10 Jahren ein bestimmter Stern an einem bestimmten Ort im Himmel sein wird und ich kann meine Uhr oder mein Sextant danach einstellen. Man kann genau wissen, wo in 100 Jahren am östlichen Horizont die Sonne aufgehen wird. Das ganze Universum bewegt sich nach Gesetz und Ordnung und spiegelt eine innere Harmonie, die bezaubernd und betörend ist. Und große Menschen, deren geistige, spirituelle Antennen auf diese Schöpfung eingestellt waren, auf ihre Harmonie, haben uns gemäß ihrer Fähigkeit, in der Sprache ihrer Zeit und in den Grenzen menschlicher Erfahrung vermittelt, wo unser Platz in dieser Schöpfung ist und was dieser Platz von uns verlangt.
Ich habe bewusst als Lesung diesen Auszug aus dem Heiligkeitskodex (Lev. 19) gewählt, weil wir hier eine Anspielung auf die imitatio dei haben, wo Gott uns auffordert zu sein wie er, also eigentlich genau das, was ich vorher als so vermessen gegeißelt habe. Er sagt „seid heilig, denn ich bin heilig“. Und ich möchte jetzt nicht über die Definition, die vielen Definitionen von Heiligkeit sprechen, denn darum geht es ja eigentlich gar nicht, denn schaut mal, welche Instruktion dann folgt, wie wir diese Heiligkeit verwirklichen sollen. Und dies bedeutet nicht, dass wir uns zu den Sternen erheben, dass wir kleine Schöpfungen schaffen, sondern dass wir hier in unserer Welt die Gesetzlichkeit und die Harmonie, besonders die Harmonie der Schöpfung, wieder kreieren, abbilden, aber in unserem Bereich. Ihr sollt Ehrfurcht haben vor euren Eltern. Nehmt das nicht nur wörtlich, sondern hier ist die Harmonie und das Verständnis zwischen den Generationen angesprochen, zwischen Alter und Jugend, was uns oft so abhandengekommen ist. Oder was die Fürsorge für die Schwachen betrifft, auch wenn er über Weinberge und über Plantagen spricht, die viele von uns gar nicht besitzen, aber der Sinn ist doch klar: Teilt von eurem Gut mit den Schwachen der Gesellschaft. Man möchte zusammenfassen, nicht zu lügen und nicht zu betrügen, nicht zu hassen, nicht Rache zu üben. Alles gipfelt schließlich in dem Gebot „Liebe den Fremden“ und mehr noch: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist dir gleich“. Das bedeutet also, dass wir als Menschen aufgerufen sind, alles zu vermeiden, was Hass sät, was Gewalttätigkeit provoziert, wie etwa ungleich verteilte Möglichkeiten, was wir ja heute so massiv beobachten. Es ist unsere Pflicht, eben die Ausgeglichenheit, die wir in der Schöpfung Gottes sehen, bei uns zu imitieren. Ein Beispiel ist der Ruhetag, der die Würde des Menschen untermalt und demonstriert, dass der Mensch kein Sklave der Dinge sein soll.
Meine lieben Freunde,
um Gottes Willen, das können wir auf dieser Welt verwirklichen. Gott hat keine Wunschliste, sondern er fordert uns auf, dass wir das, was er uns vorgezeigt hat, bei uns auch im Kleinen kreieren, im Rahmen unserer Möglichkeit. Denkt noch einmal darüber nach, im 5. Buch in diesem herausragenden 30. Kapitel steht doch in seinem Namen: „Ich habe euch gezeigt, was gut und schlecht ist, was Gut und Böse ist“ - und er ruft uns zu: „Wählet!“ Er sagt nicht, ich will von euch dies oder das, sondern er sagt „Ihr sollt wählen, auf dass ihr segensreich auf dieser Welt lebt.“
Das ist eure Aufgabe. Es ist keine Wunschliste, noch nicht einmal etwas, das wir als Wille bezeichnen können, obwohl es keine Unmöglichkeit wäre. Aber es ergibt sich aus dem, dass wir Kinder Gottes auf dieser Erde sind, dass wir aufgerufen sind, eben das, was er in der Schöpfung schon vorprogrammiert hat auf immer und ewig, in unsere Gesellschaft einzubauen und nachzuahmen. Das ist unsere Aufgabe und wir können wählen und das macht uns als Menschen aus. Wir haben die Möglichkeit, das Gute zu wählen, wir haben die Möglichkeit, die Unsitten und die Gewalttätigkeit aus unserer Gesellschaft zu verbannen. Die Frage nach dem Wie, das herauszuarbeiten ist unsere Sache. Gott hat nicht gesagt, verlasst euch auf mich, ich mache das schon für euch. Er sagte: „Ihr wählet! Und ihr tut das, auf dass ihr segensreich auf dieser Welt lebt.“
Um Gottes Willen ist auch um des Menschen Willen und um des Menschen Willen ist um unser Willen. Lasst uns gemeinsam an die Arbeit gehen. Amen.