Integration – aber wie?
07. März 2016
Vortrag von Rabbiner Andreas Nachama, Berlin, beim Begegnungstreffen "Kirchen und Rabbinerkonferenzen" am 07.03.2016 in Hannover*
Heute Abend möchte ich das Thema Integration mit drei verschiedenen Beispielen und einem Blick in die hebräische Bibel versuchen zu umreißen:
1. 1688: Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm lädt aus Frankreich vertriebene Hugenotten in großer Zahl ein, um sein nach dem 30-jährigen Krieg ziemlich entvölkertes Brandenburg-Preußen zu bevölkern. Ich kann das einigermaßen fundiert hier in Kürze darlegen, da ich – vor einigen Jahrzehnten zwar – über Ersatzbürger (d.h. besonders Hugenotten) und Staatsbildung im 17. Jahrhundert in Brandenburg Preußen promoviert habe.
2. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wandern zunächst vorwiegend europäische Juden in den jüdischen Jeschuw, seit der Staatsgründung 1948 auch solche aus arabischen Staaten nach Israel.
3. Seit den 1970er Jahren kamen zunächst einige wenige hundert Juden aus der Sowjetunion nach West-Berlin, dann etwa 200.000 in das wiedervereinigte Deutschland. Auch hierüber kann ich aus eigener Erfahrung berichten, denn ich bin nicht nur Gemeinderabbiner in einer Gemeinde mit russischsprachigen Zuwanderern, sondern war auch über eine Legislaturperiode hinweg während der Ankunftszeit der russischsprachige Juden in Berlin von 1997 bis 2001 Vorstandsvorsitzender der durch den Zuzug von ca. 500 auf 12.00. Mitglieder explodierten jüdischen Gemeinde zu Berlin.
4. Schon die fünf Bücher Moses (Tora) beschäftigen sich mit Fragen des Umgangs mit Fremden, insbesondere auch mit anderen Religionen. Für die "Benej Israel", die Israeliten, später Juden(1) genannt, und für die "Anderen" gibt es nicht nur genaue Begriffe, sondern auch Umgangsempfehlungen.
zu 1:
Schon bevor die Hugenotten ab 1685 nach Brandenburg-Preußen kamen, waren etwa 1671 bis zu 50 aus Wien vertriebene jüdische Familien nach Berlin gekommen, aber deren Ansiedlungsedikt liest sich denn eher wie der Kontrakt für eine ausländische Firma – von Integration kann erst Ende des 18. oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesprochen werden – und den traurigen Ausgang dieses Kapitels kennen wir alle. In die allgemeine christlich geprägte Gesellschaft konnten sie sich nicht integrieren - und innerhalb der jüdischen Gemeinde brauchten sie sich nicht zu integrieren, denn es gab zuvor lange Jahrzehnte keine jüdische Gemeinde in Berlin. Jüdische Gemeinden – das zeigt das Beispiel Amsterdam mit den im 17. Jahrhundert ankommenden Marranos aus Portugal (wir kennen das "Exemplum humanae vitae" des Uriel da Costa) – sind auch nicht immer strahlende Beispiele für Integration gewesen, obwohl man natürlich sagen muss, dass man auf Grund der Jahrhunderte währenden immer wieder an anderen Stellen auftretenden Vertreibungsschicksale die Geschichte der Juden in Europa auch als Geschichte von Integrationsleistungen innerhalb jüdischer Gemeinschaften beschreiben könnte. Wenn wir später bei Punkt vier die biblischen Konzepte umreißen, dann werden wir die in gelebtes Gemeindeleben umgesetzten biblischen Traditionen wiedererkennen.
Die Hugenotten kamen nach Brandenburg–Preußen, weil die Residenten des Kurfürsten – heute würde man sagen Botschafter – die Flüchtlinge gezielt anwarben. Es kamen zwei Gruppen: einerseits bürgerliche Hugenotten mit handwerklichen Berufen, mit Fähigkeiten in Administration oder im Bankgewerbe und andererseits hugenottischen Bauern. Wer nun meint, dass diese Ansiedlung problemlos verlaufen wäre und in eine ordentliche Integration gemündet sei, der irrt gewaltig. Im Berliner Dom wurde den Calvinisten die Kirchstühle zugenagelt, damit sie ihren Gottesdienst im Stehen feiern mussten, denn die Landschaft war nicht wie die Landesherrschaft reformiert, sondern streng lutherisch und hat nur deshalb auf das ius Refomandi (also cuius regio eius religio – wer herrscht bestimmt den Glauben) verzichtet, weil die Landschaft – der Adel und die Patrizier in den Städten - den Hohenzollern in ihrer Konversion zu den Reformierten nicht folgen wollten. Wozu führte dies?
Die "Franzosen", wie die gebürtigen Brandenburger die Zuwanderer nannten, blieben unter sich. Sie hatten eine eigene Schule, sprachen französisch, beteten in ihrem Ritus und blieben bis zur Ankunft Napoleons im Preußen des 19. Jahrhunderts eine gettoisierte Gesellschaft.
Friedrich Wilhelm erteilte ihnen Privilegien, so dass beispielsweise die Bürger Königsbergs Eingaben an den Kurfürsten machten, sie wollte auch die Rechte der Franzosen haben – heute würde man das Sozialneid nennen. Französische Beamte wurden von gebürtigen Brandenburgern verprügelt und attackiert. Nein, wir wollen jetzt nicht sagen, ausländerfeindliche Gewalt hätte eine gute alte Tradition. Am schlimmsten traf es die hugenottischen Bauern, denen die vielen verlassenen Gehöfte samt Baumaterial zugewiesen wurden: sie mussten nicht nur mit dem für sie schlechten Boden (Stichwort: Brandenburg sei die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches) kämpfen, sondern wurden auch von den gebürtigen brandenburgischen Bauern vollständig abgelehnt und zogen wenige Jahre nach ihrer Ankunft wieder ab.
Was lehrt uns dies: Der Urvater von Flüchtlingsaufnahme, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg hatte mit Glaubensdifferenzen, mit sprachlichen Barrieren, mentalitätsgeschichtlichen Differenzen und jeder Menge Einsprüche zu kämpfen - und erst Jahrhunderte später galt sein Toleranzedikt als allgemein akzeptiert und bis heute vorbildlich.
zu 2:
Der Staat Israel ist das Ergebnis der vielleicht vorbildlichsten, sicher aber umfassendsten Integration von Flüchtenden aus vielen europäischen, aber auch aus arabischsprachigen Ländern: Vielen gilt das als ein Vorbild für Integration – freilich gab es auch hier eine unübersehbare Zahl an "Altfrommen", die sich der Mehrheitsgesellschaft verweigerten und verweigern, und der Staat und die Mehrheitsgesellschaft Israel räumen ihnen Freiräume ein. Interessant ist, dass es unter älteren Einwanderern gelegentlich zu landsmannschaftlichen Zusammenschlüssen kam - der Spott z.B. über die Jekkes war in den 1950er und 1960er Jahren legendär, heute sind es gelegentlich russischsprachige Inseln in Israel, die an deren Stelle getreten sind. Dabei waren gerade die politischen und kulturellen Nachrichten, das Sprechen der Landessprache, also Iwrith, ein Kern der Integration: Einige der belächelten Jekkes haben sich damals mit einer deutschsprachigen Zeitung diesem Kern der Integration verschlossen, so wie es heutige Integrationsmuffel mit russischsprachigen Medien tun, die nicht nur gedruckt, sondern via Satellit oder Internet frei Haus kommen. Aber grundsätzlich kann man sagen: als Einwandererstaat hatte und hat Israel die Nase vorne.
zu3:
Seit den frühen 1970er Jahren gab es ein „Jüdisches Tor“ in der Berliner Mauer, das via Wien, russischsprachige Juden aus der Sowjetunion nach West-Berlin brachte. Der damalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Heinz Galinski, der als deutscher Jude Auschwitz überlebt hatte, hat seine 5000 Seelen Gemeinde nach Kräften auf die Integration der russischsprachigen Juden eingeschworen. Das gelang gut, weil viele von denen, die vor 1989 kamen, in Ansätzen oder gänzlich deutschsprachig waren, beste berufliche Qualifikationen mitbrachten und kein Interesse an einer gesellschaftlichen Randexistenz hatten.
Schwieriger wurde die Situation nach der zunächst vom "Runden Tisch der DDR", dann von der Bundesrepublik Deutschland übernommenen Regelung der Kontingentflüchtlinge aus den GUS Staaten. Es waren nicht nur junge Menschen oder Ausreisewillige, sondern eben auch Senioren, die sich auf die Reise machten, weil das Rentensystem nach der Wende in den Nachfolgestaaten der UdSSR annähernd kollabierte. Und die anderen, die kamen, kamen in großer Zahl in jüdische Gemeinden, die oftmals nur aus einer Hand voll Mitgliedern bestand – oder im Fall Berlin, wo statistisch auf jedes Altmitglied 1,2 Neumitglieder kamen. Zudem musste nach der Vereinigung die Jüdische Gemeinde von Berlin West die Gemeinde des Ostteils der Stadt absorbieren. Dies fiel zusammen mit den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen zwischen dem 22. und 26. August 1992 gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter. Es waren die massivsten rassistisch motivierten Angriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wir alle erinnern uns, wie der fassungslose Präsident des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, sich vor Ort informierte und seine Stimme für die Asylbewerber erhob.
Zwischenzeitlich ist die Bilanz der Zuwanderung russischsprachiger Juden eine Erfolgsgeschichte für die jüdischen Gemeinden in Deutschland. Allein diejenigen, die es nicht wenigstens in der deutschen Umgangssprache geschafft haben, sich sprachlich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, leben noch in geschlossenen Zirkeln, freilich meist in jüdischen Altersheimen oder in Rentnerzirkeln.
Aber, wenn man hier eine vorläufige Bilanz ziehen wollte, dann könnte man sagen: Diejenigen, die in Kindesalter oder jugendlichem Alter kamen oder gar hier geboren wurden, haben sich vollkommen in die jüdischen Gemeinden und damit in das Leben der Bundesrepublik integriert.
Problematisch war die Integration ohnehin auch mit diesem Personenkreis nur dann, wenn die Zahl der Zuziehenden in einem kurzen Zeitraum signifikant wurde.
Anders herum: Die zuwandernden ca. 50 Personen pro Jahr zwischen 1972 und 1989 waren von der 5000 Seelen umfassenden jüdischen Gemeinde leicht zu integrieren, man könnte sagen, der eine Zuwanderer pro Woche war Chefsache von Heinz Galinski und der schaffte das auch.
Als die Zahlen dann auf ca. 1000 pro Jahr nach 1989 anstiegen, war die Situation unbefriedigend – sowohl für diejenigen, die kamen, als auch für diejenigen, die da waren. Aber – das ist schon zwei Jahrzehnte her, und also Geschichte.
zu 4:
Begriffsbestimmung
Schon die fünf Bücher Moses (Tora) beschäftigen sich schon mit Fragen des Umgangs mit Fremden, insbesondere auch mit anderen Religionen. Für die "Benej Israel", die Israeliten, später Juden genannt, treten in der Tora folgende Begriffe auf:
Für Israeliten:
1. GOI = Volk
2. AM = Volk
3. LeOM = Nation
für Nichtisraeliten, d.h. für Andersgläubige:
GER = Fremder/Fremdling
Der Fremdling ist ein Migrant, der sich innerhalb der Tore niederläßt, aber einen anderen Glauben hat(2).
Fremder
Der SAR ist ein andersglaubender Reisender. Sie werden zuweilen als Gefahr eingeschätzt, können auch Feinde sein. Ein SAR ist unvereinbar mit dem Glauben Israels.
Ausländer
Ben Necher ist ein andersglaubender Ausländer in der Ferne, zu dem es grundsätzlich keinen Kontakt gibt(3). Er wird in aller Regel als Feind eingestuft. Von ihm wie auch vom SAR können beispielsweise Zinsen verlangt werden, nicht jedoch von einem GER, der im Lande wohnt(4). Wie wichtig die Auseinandersetzung und der Umgang mit dem Fremden ist, belegt, dass "Ger" in der Tora an 53 Stellen genannt wird, während der Schabbat, Abschluss und Höhepunkt der göttlichen Schöpfungsgeschichte und der das Leben frommer Juden prägenden Woche, nur an 24 Stellen enthalten ist.
Zusammenfassend läßt sich diese Begriffe und die von ihnen geprägte Welt in folgende Gruppen einteilen:
• Israel, das den wahren Gott anbetet(5)
• die fremden Beisaßen, die keine Israeliten sind
• die fremden Völker, die Götzen dienen(6)
Ursprünglicher Umgang mit Fremden in biblischen Erzählungen
Zu Beginn der Patriarchengeschichte werden Fremde und Andersgläubige durchaus in das Beziehungsgeflecht Abr(aha)ms einbezogen. Melchisedek, Priester des höchsten Gottes, zugleich ein Kanaaniter, erhält von Abr(aha)m den Zehnten(7). Die jüdische Exegese war ob dieser großen Toleranzgeste wegen in Erklärungsnöten und machte Melchisedek zum Sohn Noahs (= Schem) - mit neuem Namen.(8)
Ein erstes Beispiel für nicht toleranten Umgang mit Fremden wird in Buch Genesis beschrieben: Levi und Simeon, zwei Söhne Jakobs, überfielen die Stadt der Schechemiten und erschlugen jeden und alles, was männlich war. Freilich waren diese gerade vorher zum Glauben Jakobs konvertiert und hatten sich beschnitten. Hier wurden vermeintlich Fremde für die Vergewaltigung der Schwester in großer Zahl als Rachefeldzug erschlagen(9), in einer Zeit vor der Verkündung des lex talionis(10), das dann eine Verhältnismäßigkeit der Strafverfolgung herstellte. "Jakob sprach zu Simeon und Levi: 'Ihr bringt mich ins Unglück, da ihr mich bei den Kanaanitern und Perissitern, den Landeseinwohnern, verhasst gemacht habt. Wir sind ja nur klein an Zahl; sie werden sich gegen mich zusammenrotten und mich erschlagen, und ich werde samt meinem Hause vernichtet.'"(11) Zwar wird hier der unangemessene Rachefeldzug vom Patriarchen getadelt, jedoch allein als Funktion der zahlenmäßigen Unterlegenheit des Jakobsklans, nicht im Kontext von Strafmilde oder Toleranz.
An anderer Stelle werden die Söhne Jakobs/Israels im Kontext einer Hungersnot nach Ägypten verschlagen, um dort von Joseph, ihrem von ihnen dorthin als Sklaven verkauften Bruder, der zwischenzeitlich zum Vizekönig avanciert war, Nahrung zu erhalten. Lange Zeit nach dem Tod Josephs, als die Ägypter nichts mehr von ihrem ehemaligen Vizekönig Joseph in Erinnerung behalten hatten, gerieten die Nachkommen, die dort zwischenzeitlich zu einem Volk herangewachsen waren, in totale Versklavung. Moses war es dann, der diese "Fremdlinge" aus Ägypten gen Kanaan herausführte. Dieser Exodus ging einher mit einem Raub an den Ägyptern, der mit Entschädigung für Sklavenarbeit begründet wurde: "Auch handelten die Israeliten nach der Weisung des Moses und erbaten sich von den Ägyptern silberne und goldene Geräte und Kleider. Der Ewige verschaffte dem Volk Gunst bei den Ägyptern, so dass sie ihnen willfährig waren. Und so beraubten sie die Ägypter."(12)
Noch ungünstiger für Nichtisraeliten wird die Situation nach dem Auszug aus Ägypten im Zuge der Landnahme. "Denn mein Engel wird vor dir herziehen, und er wird dich bringen zu den Amoritern, Hethitern, Perissitern, Kanaanitern, Hiwwitern und Jebusitern; ich will sie vertilgen. Du sollst ihre Götter nicht anbeten und ihnen keine Verehrung zollen! Du sollst ihre Machwerke nicht nachahmen; vielmehr sollst du sie gründlich niederreißen und ihre Weihesteine gänzlich zerbrechen!"(13) Diesen historische Prozesse beschreibenden Positionen der Intoleranz in der Zeit der Stammväter (Genesis) bzw. der Auszugs- und Eroberungsphase (Exodus) stehen nun aber Rechtspositionen gegenüber, die für die Israeliten als "ewige Satzung", als Handlungsanweisungen für die Zukunft gelten sollten.
Haltung zum Nichtisraeliten in der biblischen Gesetzgebung
Im „Bundesbuch“ genannten Abschnitt der Tora(14) ist eine zentrale Thematik das Sklavenrecht und die Frage des Rechts für Fremde. Hier finden wir einen Kontrapunkt zur oben zitierten Invasionsanweisung, keinen Bund mit den Landeseinwohnern einzugehen und ihre "Weihesteine" und Altäre niederzureißen.
"Einen Fremdling sollst du nicht unterdrücken und ihn nicht bedrängen. Denn Fremdlinge seid ihr selbst gewesen im Lande Ägypten. Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr nicht unterdrücken."(15)
Diejenigen, die wir heute als Migranten bezeichnen würden, also dauerhafte Beisaßen, gelten "wie Einheimische"(16). In dieser Rechtsauffassung ist das "vor dem Gesetz sind alle gleich" bereits angelegt. Diese Weisung hat zur Konsequenz, dass ein in die Familie oder in eine jüdische Ortschaft aufgenommener Fremder wie die schutzbedürftigen Witwen und Waisen behandelt werden, bei Rechtsgleichheit den Einheimischen gegenüber(17). Dies ist der Kontrapunkt zu dem oben beschriebenen "Niederreißen ihrer Altäre"(18).
Grundsätzlich lässt sich die biblische Haltung jedoch mit den wiederholten Hinweisen zusammenfassen, Israel solle sich nicht über die Fremden erheben, sondern sich der eigenen Situation als Fremde im Exil erinnern. Diese Rückbesinnung auf Gottes besondere Beziehung zu den Schwachen schließt jetzt die Fremden im Land mit ein.
Haltung zum Nichtisraeliten in der talmudischen Überlieferung
Der Talmud entsteht zu einer Zeit, in der durch die imperiale Politik Roms sowie der Zerstörung Jerusalems einerseits sowie durch die Entstehung des Christentums andererseits, Judentum sich völlig neu definieren musste. Jüdische Siedlungen in Erez Israel und das zentrale Heiligtum, der Tempel, entfielen. Judentum als Diasporareligion hatte zwar seit dem babylonischen Exil neben den zentralen Einrichtungen in und um Jerusalem bereits Jahrhunderte bestanden, musste nun aber zur alleinigen Lebens- und Überlebensformen werden. Folglich versucht der Talmud, ähnlich wie in der Phase der Landnahme, zunächst mit eher exklusivistischen Positionen an die biblischen Vorgaben anzuschließen. Die Positionen der Toleranz dem Fremden, des GER, gegenüber konnten als biblisches Recht zwar nicht in frage gestellt werden, aber die Rabbiner fanden doch einen Weg sie außer Kraft zu setzen. Sie postulierten, dass die Toleranzpositionen nur dann in Kraft treten würden, wenn auch das Schabbat- und Jubeljahr(19) mit seinen weitreichenden sozialen Sicherungssystemen für Sklaven eingehalten werden, also beschränkten sie auf den funktionierenden biblischen Staat(20). Auf diese Weise hatten die Rabbiner eine elegante Form gefunden, um sich der weitreichenden Toleranz Andersgläubigen gegenüber in einer Phase auch aggressiver Agitation(21) durch das sich formierende junge Christentum weitestgehend zu entziehen, soweit für eine eigene Haltung anderen Religionen gegenüber ohne eigenen staatlichen Rahmen überhaupt Raum blieb. An verschiedenen Stellen des Talmud werden Angehörige anderer Religionen aufgrund ihrer Grausamkeit gegenüber Juden verurteilt. So brauchen einerseits nichtjüdische Zeugen nicht vor einem rabbinischen Gerichtshof (Beth Din) gehört zu werden(22), andererseits sollen auch nichtjüdische Bedürftige unterstützt werden(23). Rabbi Elieser behauptet, dass es unter den nichtjüdischen Völkern keine Gerechten gäbe, die Anteil an der kommenden Welt haben, während Rabbi Joshua behauptet, dass es in der Tat derartige Gerechte gäbe(24), die Anteil an der kommenden Welt haben, wenn sie die 7 noachidischen Gebote einhalten:
• Das Verbot zu morden
• Das Verbot der Gotteslästerung (= Anerkennung eines höchsten Gottes / in einigen Auslegungen mit Beisassen)
• Das Verbot des Götzendienstes
• Das Gebot der Einrichtung von Gerichtshöfen
• Das Verbot der Blutschande
• Das Verbot der Räuberei
• Das Verbot des Genusses von Fleisch vom lebenden Tier.
In der Auslegung dieser noachidischen Gebote streiten die jüdischen Kommentatoren darum, ob nun Christen wegen des Kruzifix als Götzendiener anzusehen seien oder nicht, kommen aber meist zu dem Schluss, dass sie als noachidische Fremden anzusehen sind(25). Letztlich bleibt jedoch die Haltung zu anderen Religionen im Ermessen des einzelnen rabbinischen Gelehrten und seiner Gemeinde, denn die im Talmud festgehaltenen Diskussionen werden nicht etwa wie die von Rabbi Gerschom(26) im 11. Jahrhundert verfügte Takana(27) zur Monogamie rechtsverbindlich. Es sind Momentaufnahmen einer Debatte in einem spezifischen historischen Umfeld, die später in anderen Situationen zur Positionsbestimmung herangezogen werden konnten.
Unsere Veranstaltung fragt: Welchen Beitrag können die Kirchen und die jüdische Gemeinschaft zu einer Kultur der Integration leisten?
Und wir fragen uns:
Ja - und welchen Anteil sollen oder müssen die Flüchtenden selbst leisten?
Jüdische Gemeinden weltweit haben eine große Erfahrung beim Thema Integration, denn Juden wurden und werden immer wieder aus ihren Heimatländern vertrieben – die Diskriminierung der deutschen Juden und ihre Vertreibung aus Deutschland in den 1930er Jahren und die daraus resultierende Emigration ist ein Beispiel – die Diskriminierung der russischsprachigen Juden in der früheren Sowjetunion und die daraus resultierenden Kontingentflüchtlinge, die nach Deutschland kamen, sind ein anderes Beispiel. Flüchtlinge werden dabei immer gerne mit Vorurteilen belegt, "d i e" deutschen Juden – hieß es in den USA in den 1930er Jahren, "d i e" russischen Juden hier bei uns in den 1990er Jahren. Dass es sich in dem einen Fall um deutschsprachige Juden im anderen Fall um "russischsprachige" Juden handelte, spielt für solche Generalisierungen keine Rolle – und so stelle ich mir die Frage, ob es möglicherweise nicht auch eine unzulässige Verallgemeinerung ist, den Flüchtenden von heute, die aus arabischsprachige Ländern kommen, eben mal so generell Antisemitismus oder anti-christliche Haltungen zu unterstellen.
Also wir müssen auch umgekehrt fragen:
Welchen Anteil sollen Flüchtende selbst an diesem Prozess der Integration haben? Wer Grenzen überschreitet, der muss sich auch an dem orientieren, was dort Usus ist. Juden sind ein Teil Europas. Antisemitismus hat hier sowenig Platz, wie anti-islamische Vorurteile. Wir Juden sind mit dem "Ökumenischen Rat Berlin" einig, der forderte abzustellen, dass in Aufnahmeeinrichtungen oder davor „unkontrollierte islamische Kräfte […] ein Gefühl der Angst und Ohnmacht“ bei flüchtenden Christen aus den Bürgerkriegsgebieten erzeugen oder es „vermehrt zu Diskriminierungen aufgrund der (christlichen) Religionszugehörigkeit“ kommt. Wir fordern mit unseren christlichen Geschwistern demnach eigene Schutzräume für Christen und eine bessere „religiöse Mischung“ unter den Sicherheitskräften in und vor den Einrichtungen, die wir für ihre Unterkunft oder ihre weitere Integration betreiben.
Als Mitglied der Expertenkommission des deutschen Bundestages zum Thema "Antisemitismus" habe ich deshalb die Forderung gestellt, in einigen Erstunterkünften für Flüchtende eine empirische Befragung durchzuführen, um festzustellen, ob es dort Antisemitismus, anti-demokratische Grundhaltungen oder antichristliche Haltungen gebe, damit man, sollte es tatsächlich so sein, mit geeigneten politischen Bildungsmaßnahmen dagegen gezielt vorgehen kann.
Andererseits – die Bibel sagt nicht, dass offene Grenzen gottgewollt sind. Wer also Grenzen überschreitet, muss auch selbst einen Anteil geben an seiner Integration jenseits der von ihm überschrittenen Grenzen. Integration ist auch Geben und nicht nur Nehmen.
(* bei dem hier wiedergegebenen Text handelt es sich um eine schriftliche Skizze,
die als Vorlage zu einem weitgehend frei gehaltenen Vortrag diente.
Es gilt das gesprochene Wort.)
ANMERKUNGEN
(1) Seit der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft zunehmend Bezeichnung nicht mehr ausschließlich für die Mitglieder der Stammes Jehuda, sondern für alle Israeliten.
(2) Seit Zerstörung des zweiten Tempels ist "GER" zunehmend Synonym bzw. terminus technicus für Proselyt. Ursprünglich war der Begriff für den Proselyten GER ZEDEK, ist aber sowohl umgangssprachlich als auch in der rabbinischen Literatur oft unter Weglassung des ZEDEK zu GER verkürzt worden.
(3) vgl. 2 Samuel 22,45-46: "Die Söhne der Fremde schmeichelten mir; wie sie mich hörten, gehorchten sie mir. 46 Die Söhne der Fremde duckten sich nieder, kamen hervor aus ihren Burgen."
(4) vgl. 5 Moses 23,21 "Von dem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, aber von deinem Stammesgenossen nicht." Der GER wird, da innerhalb der Tore Israels wohnend, wie ein Stammesgenosse angesehen.
(5) In den Begriffen der christlichen Kirche entspräche dies denjenigen, die durch Jesus ihr Heil erlangen.
(6) In den Begriffen der christlichen Kirche entspräche dies denjenigen, die zur Hölle fahren.
(7) vgl. 1 Moses 14, 18-20.
(8) vgl. Raschi zu 1 Moses 14,18 und BT Nedarim fol. 32b
(9) vgl. 1 Moses 34, 1-31 Genaugenommen wurden hier eigentlich Konvertierte erschlagen. Sie wurden aber offenbar noch als andersgläubige Fremde angesehen.
(10) vgl. 2 Moses 21,24-27:"Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, 25 Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme! [...]27 Wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er die Person als Ersatz für den Zahn freigeben. "
(11) 1 Moses 34,30
(12) vgl. 2 Moses 12,35
(13) 2 Moses 23,23-25
(14) 2 Moses 20,22 - 23,33
(15) 2 Moses 22,20
(16) 3 Moses 19,33: "Hält sich ein Fremdling bei dir in eurem Lande auf, so dürft ihr ihn nicht bedrücken. 34 Wie ein Einheimischer von euch selbst soll euch der Fremdling gelten, der bei euch weilt; du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid ja auch Fremdlinge gewesen im Ägypterland."
(17) vgl. 4 Moses 15,16: "Das gleiche Gesetz und das gleiche Recht gelte für euch und für den Fremden, der sich bei euch aufhält."
(18) vgl. 2. Moses 34,11
(19) SCHABBATJAHR, vgl. 2 Moses 23, 10ff; JUBELJAHR vgl. 3 Moses 25, 1ff
(20) vgl. EJ Bd. 15, Sp. 421
(21) vgl. Esther Rabba 2:3
(22) vgl. BT Baba Kamma 15a
(23) vgl. BT Gittin 61a
(24) vgl. BT Sanhedrin Fol.13. Auf diese Textstelle hat Leo Baeck hingewiesen.
(25) Jakob Katz hält diese Art von Toleranzableitung für apologetisch, um den Umgang mit Christen zu legitimieren.
(26) Rabbi Gerschom ben Judah Me'or HaGola lebte von 960 bis 1028 in Mainz.
(27) Eine von rabbinischen Autoritäten verfügte Rechtsordnung.