Verlorene Maßstäbe. Herausforderungen durch die Wirtschaftskrise


08. März 2010

Vortrag von Rabbiner Yaron Engelmayer bei der Begegnung "Kirchen und Rabbinerkonferenzen" am 08.03.2010 in Augsburg


Sehr geehrte Damen und Herren Bischöfe und Rabbiner,


Verlorene Maßstäbe – Herausforderungen durch die Wirtschaftskrise – ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Schon allein die Stellungsnahme zu diesem Thema stellt für mich eine Herausforderung dar! Wieso sollte ich als Rabbiner, oder wir als Geistliche, eine öffentliche Meinung zur Wirtschaftskrise haben, woher die Autorisierung dafür, unsere Meinung kundtun zu dürfen oder zu sollen? Bin ich etwa ein Wirtschaftsexperte? Verstehe ich so viel von der Komplexität der globalen Wirtschaftsverhältnisse, um auf die Missstände hinweisen zu können, um Abhilfe bei der aktuellen Krise leisten zu können? Mein einziges Semester in Wirtschaft an der Uni wird dazu wohl kaum ausreichen, um den ganzen ökonomischen Fachleuten Paroli bieten zu können… Gefragt ist auch nicht unser Verständnis der Wirtschaft, sondern die Stimme der Religion – doch wie hängt die mit dem Thema zusammen?

Dies erinnert mich an die Geschichte vom Anhänger eines Rabbiners, welcher zum Rabbiner kommt und ihm sein Leid darüber erzählt, dass die Hühner in seinem Hühnerstall an einer Seuche sterben. Der Rabbiner hört sich alles geduldig an und gibt schließlich einen Ratschlag, was zu tun sei. Nach wenigen Tagen erscheint der Mann wieder und berichtet, dass die Hühner weiterhin sterben. Der Rabbiner gibt dieses Mal einen anderen Ratschlag und entlässt ihn. Erneut erscheint dieser jedoch wieder nach wenigen Tagen und erzählt, dass auch dieser Ratschlag nicht geholfen habe. Daraufhin entgegnet der Rabbiner: „Ratschläge habe ich noch, aber hast du noch Hühner?“

Doch auch wenn die meisten von uns Geistlichen keine Spezialisten auf dem Gebiet des Hühnerzüchtens oder der Wirtschaftskrise sind, glaube ich doch, dass es Sinn macht, aus unserem religiösen Fachwissen heraus Bezug zur Wirtschaftskrise zu nehmen und Stellung zu beziehen, und dies unter anderem aus folgenden Gründen:

1. Wirtschaft ist keine losgelöste theoretische Wissenschaft, sondern eng mit sozialen Strukturen unserer Gesellschaft, mit dem Konsumverhalten, mit der Wertevorstellung und allgemein mit menschlichen Eigenschaften verknüpft. All dies sind Themen, zu denen die Religion Vieles zu sagen und zu lehren hat.
2. Im Judentum macht die Religion nicht an der Tür der Synagoge halt oder beschränkt sich rein auf die religiösen Zeremonien, und im Christentum verhält es sich meines Wissens ebenso. Der g“ttliche Rat und die himmlische Lehre umfassen unser gesamtes Dasein und betreffen jegliche Lebenssituation, bis in die Details hinein. Dies betrifft auch unser zwischenmenschliches, soziales und ökonomisches Verhalten. In den folgenden Ausführungen werden wir s.G.w. einige Beispiele dazu anführen können.
Gesellschaftsformen

Als erstes möchte ich mich gerne auf die Gesellschaftsform beziehen: Diejenige, in der wir leben, und die Idealvorstellung einer Gesellschaft.
In unserem Zeitalter können wir verschiedene Gesellschaftsformen erkennen, die von einem Extrem ins andere reichen. So weist die kapitalistische Gesellschaftsform einen starken Hang zu übertriebenem Individualismus auf. Der eigenen Entfaltung, der Selbstverwirklichung und Realisierung persönlicher Ziele werden grösste Bedeutung beigemessen. Nicht immer wird dabei auf die Grundbedürfnisse der sozial Benachteiligten genügend Rücksicht genommen. Auf der anderen Seite gibt es Gesellschaftsformen, die vom Individuum die Selbstaufgabe gegenüber der Gemeinschaft, die totale Identifikation der eigenen Persönlichkeit mit gemeinsamen Zielen und Ideen und die Einverleibung aller individuellen Interessen in die gemeinsame Sache verlangen. Maimonides lehrte uns, dass stets der goldene Mittelweg zwischen zwei Extremen zu wählen sei. Von dieser Vorstellung eines Mittelweges zwischen den extremen Gesellschaftsformen ist wohl unser Sozialstaat, in dem wir in der BRD leben, nicht allzu weit entfernt, zumal sich in der Torah und deren Geboten ein ähnliches Bild einer Gesellschaft abzeichnet.

Unterstützung der Bedürftigen

Zahlreich sind da die Vorschriften, wie wir mit den Armen und Benachteiligten der Gesellschaft umgehen sollen. Da heißt es z.B. im fünften Buch der Torah: „Wenn unter dir ein Dürftiger sein wird, einer deiner Brüder, in einem deiner Tore, in deinem Lande…, so sollst du deinem Bruder, dem Dürftigen, gegenüber dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht verschließen, sondern du sollst ihm deine Hand öffnen, sollst ihm leihen, wie viel er in seinem Mangel bedarf, wie viel ihm fehlt!“ (15,7-15,8) Einige Sätze davor wird diese allgemeine Anleitung zusätzlich in eine feste Vorschrift gegossen: „Nach Verlauf von drei Jahren sollst du den ganzen Zehnten deines Ertrages in diesem Jahre herausgeben und in deinen Toren niederlegen. Dann soll der Levite kommen, weil er kein Teil noch Erbe bei dir hat, und der Fremde, die Waise und Witwe, die in deinen Toren sind, und sie sollen essen und sich sättigen, auf dass der Ewige, dein G“tt, dich segne in allen Werken deiner Hände, die du vollbringst.“ (14,28–14,29)

Von diesem Gebot leitet sich der jüdische Brauch ab, Maaser ksafim abzusondern und von seinem Gehalt einen Zehntel für die Armen und für soziale Zwecke zur Verfügung zu stellen. Wenn wir heute über „verlorene Maßstäbe“ sprechen, so finden wir hier ein Beispiel dafür, wie solche Maßstäbe aussehen können. Der Talmud und die Halacha, die jüdische Gesetzesvorschrift, empfehlen, nicht weniger als einen Zehntel, aber auch nicht mehr als einen Fünftel des Einkommens für Wohltätigkeit auszugeben. Somit soll einerseits den sozial Bedürftigen Rechnung getragen werden, andererseits soll verhindert werden, dass man dadurch über kurz oder lang selber zum Sozialfall wird.

Das Gebot der Zedaka, der Wohltätigkeit, nimmt in unserer Religion einen höchst bedeutungsvollen und zentralen Platz ein, sodass der Gelehrte Schimon der Gerechte in der mündlichen Lehre, den Sprüchen der Väter, folgenden Weltaufbau konstatiert: „Auf drei Säulen steht die Welt – auf Torah, auf G“ttesdienst und auf der Wohltätigkeit“.

So wesentlich ist das Gebot der Wohltätigkeit, dass erzählt wird, als einmal eine ganze jüdische Ortschaft wohlhabend wurde, die Ortsbewohner ratlos wurden, an wem sie nun das Gebot der Wohltätigkeit ausüben sollten. Schließlich beschloss man, aus dem Nachbarsort einen armen Mann einzuladen, an dem man dieses wichtige Gebot erfüllen könne. Doch mit der Zeit wurde der Eingeladene hochnäsig und übermütig, sodass die Bewohner beschlossen, ihn in die Schranken zu verweisen. Auf die Zurechtweisung erwiderte der Mann jedoch selbstbewusst: „Seid vorsichtig mit euren Worten, sonst gehe ich wieder zurück zu meinem Heimatsort, und dann könnt ihr ja schauen, an wem ihr das Gebot der Wohltätigkeit weiterhin erfüllen wollt!“

Doch die Abgabe des Zehnten an die Armen kommt nicht nur den Beschenkten zugute, sondern auch den Schenkenden! So lehren uns die Sprüche der Väter, dass die Zehntenabgabe einen Zaun um den Reichtum bildet, also den Reichtum hütet und bewahrt (3,13). Der Talmud geht sogar noch einen Schritt weiter und konstatiert, dass sich aus der Torah ableiten lässt, dass wer den Zehnten abgebe, sich daran bereichern werde. Und obwohl es sonst untersagt ist, G“tt zu prüfen und Seine Versprechen einzufordern, betont der Talmud, dass es in dieser Hinsicht erlaubt sei! (Babylonischer Talmud Taanit 9a) Über die wörtliche Bedeutung hinaus, die zweifelsohne im Talmud gemeint ist, kann man zusätzlich verstehen, dass ein Mensch nicht wirklich reich ist, wenn er nicht bereit ist, seinen Reichtum zu teilen und diejenigen daran teilhaben zu lassen, die darauf angewiesen sind – es handelt sich also um eine gegenseitige Bereicherung!
Die Bereicherung besteht auch darin, am Geschick der anderen teilzuhaben. Ein bekannter Rabbiner suchte in einem polnischen Städtchen einst einen der Reichen seiner Gemeinde auf, der für seine Wohltätigkeit nicht gerade bekannt war. Es war spät abends, mitten im Winter, als der Rabbiner an der Tür des Reichen klopfte und dieser ihm in einfacher Abendbekleidung öffnete. Der Rabbiner begrüsste den Reichen sehr herzlich und begann sogleich, sich nach allen Verwandten und Bekannten zu erkundigen. Nach einigen Sätzen versuchte der Reiche, den Rabbiner in die gemütlich warme Wohnung hereinzubitten, doch ohne Erfolg. Der Rabbiner fuhr mit der Unterhaltung unbeirrt, weiter an der Tür verharrend, fort. Nach weiteren, endlos erscheinenden Minuten durchzog die Kälte schon den ganzen Körper des Reichen und er konnte sich kaum mehr beherrschen, als er schliesslich fragte: „Herr Rabbiner, es ist mir eine grosse Ehre, dass Sie mich heute Abend aufsuchen, doch zu welchem Zweck sind Sie eigentlich hergekommen?“ Die Erklärung liess nicht auf sich warten: „Da gibt es eine arme Familie, welche Tag und Nacht an der Kälte leidet und dringend Unterstützung braucht!“ Der Reiche entgegnete: „Aber sagen Sie, hätten wir das nicht in der gemütlichen Wohnung besser besprechen können?“ „Nein“, sagte der Rabbiner, „denn dann hätten Sie das Anliegen und das Bedürfnis dieser Familie nach Wärmung nicht wirklich verstanden…“ Empathie, der menschliche Bezug und das Mitgefühl mit dem Leid der Benachteiligten sind ein wichtiger Bestandteil und die Grundlage für das Erfüllen des Gebotes der Wohltätigkeit!

Auch schön zeigt dies folgende kleine Anekdote: Einem reichen Geizhals blieb einmal im Restaurant ein kleiner Knochen im Hals stecken und er drohte zu ersticken. Ein Arzt wurde eilig herbeigerufen und befreite den Mann umgehend von seiner Bedrohung. Kaum hatte dieser sich einigermaßen erholt, wandte er sich an den Arzt und fragte: „Und wieviel schulde ich Ihnen für die fünf Minuten Arbeit?“ Der Arzt, der die Freigebigkeit des Mannes kannte, erwiderte darauf: „Ach wissen Sie, geben Sie mir einfach nur die Hälfte davon, was Sie zu geben bereit waren, als der Knochen noch in Ihrem Hals steckte…“

Die bisher beschriebene Gesellschaftsform ist zwar mit unserem Sozialstaat nicht identisch, hat aber doch gemeinsame Linien aufzuweisen und hört sich für uns vertraut an. Die Menschen sollen individuell nach Reichtum und Wohlstand streben können, dabei jedoch nicht die Armen und Benachteiligten der Gesellschaft außer acht lassen.

Schmittah- und Jowel-Jahr

Es gibt jedoch zwei Gebote in der Torah, deren Systematik eine revolutionäre Auffassung der wirtschaftlichen Gesellschaftsform in sich bergen: die Gebote des Schmittah- und des Joweljahres! Die Torah schreibt dem jüdischen Volk vor, im Lande Israel jedes siebte Jahr als ein landwirtschaftliches Ruhejahr zu begehen, das sogenannte Schmitta-Jahr. Dieses siebte Jahr ruft eine gesellschaftliche Revolution hervor - die gesamte soziale Struktur wird aus ihrer Verankerung gerissen und umgewälzt! Standesunterschiede werden während eines ganzen Jahres vollkommen aufgehoben. Reich und arm, Herren und Diener, Einwohner und Fremde, alle haben sie gleiche Rechte am Getreide des Feldes und an den Früchten der Bäume, alle essen sie von ihnen auf gleiche Weise.

Auch finanzielle Unterschiede werden ausgeglichen: Wenn es jemandem gelungen ist, mit Fleiß und auf ehrliche, treue und faire Art - wie es die Torah vorschreibt - sich ein Vermögen anzuhäufen, so ist ihm geboten, denjenigen zu unterstützen, dem dies nicht vergönnt war (2. Buch Moses 22,24-22,26). Sein Geld muss er dem Armen und Bedürftigen zinslos ausleihen. Nur allzu verständlich ist der Wunsch, dass der entlehnte Betrag wenigstens zurückkehre. Doch auch hiervor macht die Torah nicht halt: (5. Buch Moses 15,1-15,9) "Am Schluss von sieben Jahren halte Erlass! Und dies ist die Bewandtnis des Erlasses: Jeder Schuldherr erlasse sein Darlehen, das er seinem Nächsten geliehen hat... Hüte dich, dass in deinem Herzen nicht ein niederträchtiges Wort sein wird, zu sprechen: 'Das siebte Jahr rückt nahe...' und dein Auge gegen deinen dürftigen Bruder schlecht sein wird und du ihm nicht geben wirst..." Nein, stattdessen sind ein strahlendes Gesicht und ein wohlwollendes Herz gefordert, selbst wenn dem Gläubiger bewusst ist, dass das Darlehen verloren gehen wird!

Das zweite Gebot ist dasjenige des Joweljahres, über das es in der Torah heisst: „Ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und im Land Freiheit ausrufen für alle seine Bewohner; ein Jowel ist es, soll es euch sein, es kehre ein jeder von euch zu seinem Besitze zurück, ein jeder von euch kehre zu seiner Familie zurück… in einem solchen Joweljahre kehre ein jeder zu seinem Besitze zurück!“ (3. Buch Moses 25,10-25,13) Auch die Investition in Land und Boden ist rein temporärer Natur, denn im fünfzigsten Jahr, kehren alle Bodengüter zu ihren ursprünglichen Besitzern zurück. Dabei sollte man sich vor Augen halten, welcher ungeheuren sozialen und wirtschaftlichen Umwälzung dieses Joweljahr gleichkommt: Egal, wie sehr man vom Unglück verfolgt wurde, wie schlecht es das Schicksal mit einem meinte, oder wie sehr man sich selber finanziell das Leben vermasselte; am Ende der fünfzig Jahre wird jeder frei und unabhängig und erhält seinen ursprünglichen Familienbesitz zurück! So erhält jeder die Chance, alle sieben Jahre wieder schuldenfrei da zu stehen, und alle fünfzig Jahre sein Leben wieder vollkommen neu zu orientieren und in die Hand zu nehmen. Schulden und Armut können somit nicht übertragen und an die nächste Generation, an die Kinder, weiter gereicht und vererbt werden! Die Einrichtung des Schmittah- und Joweljahres gleicht bisherige Unterschiede aus und gibt allen dieselbe Möglichkeit, eine neue Seite im Buche des Lebens aufzuschlagen und mit gleichen Bedingungen wieder von vorne zu beginnen.

Die Basis für diese beiden Gebote bildet ein tief religiöser Aspekt, dessen praktische Konsequenz und Übertragung ins irdische Leben sich in Form des Schmittah- und Joweljahres niederschlägt. Wie kann man einem Besitzer vorschreiben, wie er mit seinen Gütern umzugehen hat? Wie kann man ihm verbieten, sein eigenes Land zu bebauen? Nur eine Begründung kann so etwas rechtfertigen: (3. Buch Moses, 25,23) "...denn Mir (dem Ewigen) gehört das Land, denn Fremde und Einwohner seid ihr mit Mir!" Und in den Psalmen heißt es (24,1) "Dem Ewigen gehört die Erde und ihre Fülle..."Und in der Chronik bezeugt König David: (I 29,14) "Denn von Dir ist alles, und von deinen Händen gaben wir Dir." Das Land gehört in Wirklichkeit nicht seinem irdischen Besitzer, und wenn er auch von G“tt das Nutzungsrecht erhielt, so verfügt er trotzdem nicht über das volle Bestimmungsrecht darüber. Anhand des Schmittah- und Joweljahres wird dieses g“ttliche Prinzip gelebt, direkt mit einer großen Portion G“ttesvertrauen in die Praxis umgesetzt und legt somit Zeugnis von dem starken Glauben an G“tt ab.

Geistige Inhalte und Werte

Darüber hinaus besitzt das Schmittah- und Joweljahr eine weitere Komponente, die gerade in der Moderne von besonderer Bedeutung ist. Bauern, welche mit ihrer Feldarbeit während sechs Jahren völlig beschäftigt sind, werden im siebten Jahr zwangsläufig von allen Verpflichtungen der Feldarbeit befreit; es handelt sich also um ein Jahr der allgemeinen Arbeitslosigkeit! Doch wie verbringt man ein Jahr in Arbeitslosigkeit? Wie beschäftigt man sich da, wo es doch in den Sprüchen der Väter heißt, dass man die Arbeit lieben und sich von der Untätigkeit fernhalten soll (1,10)? Die Antwort ist: Selbst der einfache Mann erhält damit die einmalige Gelegenheit, ins Lehrhaus zurückzukehren und Torah zu lernen, ein ganzes Jahr lang! Keine Verpflichtung wird ihn in diesem Jahr davon zurückhalten, weder die Aussaat noch die Ernte. Die Torah betrifft jeden Einzelnen, nicht nur hinsichtlich des "Hütens und Ausübens", sondern auch hinsichtlich des "Lernens und Lehrens"!

Dies ist auch der innere Kern des Schabbat, dem wöchentlichen Ruhetag: Sechs Tage in der Woche ist der Mensch ganz von seinen Beschäftigungen eingenommen. Geschäfte, Verpflichtungen und der allgemeine Lauf der Dinge halten ihn auf Trab und außer Atem, von früh bis spät, Tag um Tag. So vergehen die Tage in einem fort, ohne auch nur einmal anhalten zu können. Bis zum Schabbat. An diesem Tag ist der Mensch gezwungen anzuhalten. Nein, er ist keine Maschine. Er ist ein Mensch, hat Geist und Seele. Am Schabbat und im Schmittah-Jahr befreit er sich von den Fesseln der Zeit, schüttelt seine Abhängigkeit von allen Beschäftigungen ab und erfährt das Gefühl der physischen Unabhängigkeit, um an der geistigen Welt Anteil nehmen zu können - einen ganzen Tag, ein ganzes Jahr lang. Der Mensch erhält die Möglichkeit, sich selbst auf einer anderen, höheren Ebene - von der Ebene der täglichen Bemühungen losgelöst - wieder zu entdecken und seine innere Identität, seine geistige Persönlichkeit neu kennenzulernen.

In einer Welt wie der unseren, in der die einen am Rande des Worcaholics-Dasein ihr Leben verbringen und die anderen damit beschäftigt sind, ihre überschüssige Freizeit irgendwie zu verbringen, manchmal auch totzuschlagen, und eigens dafür schon ganze Industriezweige existieren, hat die Besinnung einen besonderen Stellenwert erhalten. Besinnung auf die eigene Identität, auf Lebenssinn und Werte, die unser Leben erfüllen und ihm einen Inhalt geben. Es ist eine unserer dringlichsten Aufgaben, der Gesellschaft Anstöße zu geben und Wegweiser zu sein, damit die Leere, die allein vom wirtschaftlichen Denken und von den wirtschaftlichen Interessen nicht ausgefüllt wird, durch Bildung, Inhalte und Werte, sowohl zwischenmenschlicher als auch geistiger, angereichert werde.

Das Manna

Wir Juden blicken auch immer zurück auf die Zeit der Wüstenwanderung, denn es war die Zeit, in der wir die Torah empfingen und aus erster Hand in uns aufnehmen durften. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass gerade in dieser Zeit für die Grundbedürfnisse der Menschen von G“tt Sonderregelungen eingeführt wurden, insbesondere für das Problem der Ernährung: das himmlische Manna. Obwohl es sich beim Manna um ein historisch einmaliges Phänomen handelt, können wir von dessen Beschreibung und Gesetzen so manche wertvolle Einsicht für unsere aktuelle Wirtschaftslage entnehmen. Es geht um Erziehung und Wertevermittlung. Das Manna ist Brot mit geistiger Nahrung, das wichtige Grundlagen vermittelt. Zum Beispiel hatte es folgende Eigenschaften:
Das Manna erschien jeden Morgen und verschwand am gleichen Abend wieder, und wollte man sich davon gegen den Willen G”ttes bis zum nächsten Tag aufsparen, so verfaulte es über Nacht. Jeden Morgen soll der Mensch von neuem dafür dankbar sein, die Güte G”ttes empfangen zu dürfen, jeden Abend von neuem darauf vertrauen, dass G”tt auch tags darauf für seine Nahrung und sonstigen Bedürfnisse vorsorgen wird! Diese Funktion, uns täglich an die Ursache und Quelle solcher “Selbstverständlichkeiten” zu erinnern, hat das Gebet übernommen.

Des Weiteren galt für das Manna: (2. Buch Moses 16,18) “Wer sich anhäufte, hatte keinen Überschuss, und wer weniger einsammelte, dem fehlte nicht.” Die Gierigen und Geizigen konnten sich noch so sehr den ganzen Tag bemühen, am Abend hatten sie trotzdem gleich viel Manna wie derjenige, der nur wenig einsammelte und den Rest des Tages mit dem Studium der Torah verbrachte. Dies soll uns als deutliches Beispiel dafür dienen, wie wenig Bestimmungskraft der Mensch über seinen finanziellen Status in Wirklichkeit hat, wie wenig er ihn beherrscht und ihn im Griff hat! Das übermäßige Verlangen nach Geld und Wohlstand bringt dem Menschen letztendlich nicht viel. Oft hat das Schicksal für ihn trotz allem nicht ein Leben in Wohlstand und Reichtum vorgesehen, oder vielleicht noch schlimmer, ein Leben in Reichtum aber mit innerer Leere und ohne wahre Freunde und Werte, wie König Salomon sagte: „Es gibt Reichtum, der seinem Besitzer zu seinem Nachteil erhalten ist!“

Dieser letzte Punkt lässt sich noch bedeutend erweitern. In den Sprüchen der Väter heißt es: (4, 1) “Wer ist ein Reicher? - Der mit seinem Anteil glücklich und zufrieden ist.” Genügsamkeit ist wahrer Reichtum, Begierde die wirkliche Armut! Denn was die Mündliche Lehre hier als wahren Reichtum definiert, ist das genaue Gegenteil der Begierde. Begierde ist der Drang, das zu besitzen, was einem nicht gehört. Kaum ist dieses Ziel jedoch erreicht, interessiert der soeben noch begehrte Gegenstand der Begierde nicht mehr, denn diese hat sich bereits wieder ein neues Ziel ins Auge gefasst, wiederum etwas, das dem Begehrenden noch nicht eigen ist. So kann sogar der in unserer Begriffswelt “Reiche” in Wirklichkeit zu den Ärmsten dieser Erde gehören, ständig auf der Jagd nach fremdem Besitz - Glück und Zufriedenheit wird er nicht erreichen. Dies gilt wohl auch für die Maßlosigkeit der Beträge, Zuschüsse, Boni und Ähnliches, welche von manchen „Superreichen“ noch zusätzlich begehrt werden: Freut man sich aber über dasjenige, was G”tt einem zukommen lässt, und ist man damit glücklich und zufrieden, dann zählt man zu den wahren Reichen.
Diese Art von Reichtum oder Armut, bedingt durch die innere Einstellung, traten besonders beim Manna zutage. So schildern unsere Weisen, dass im Manna mit wenigen Ausnahmen alle kulinarischen Geschmacksrichtungen zu finden und zu schmecken waren, ganz auf Wunsch des jeweils Essenden! (babylonischer Talmud Joma 75a) Dies traf aber nur auf diejenigen zu, die das Manna dankbar und erfreut entgegennahmen und mit der g”ttlichen Gabe zufrieden waren - die wahren Reichen. Andere jedoch gelüstete es; sie sehnten sich – ausgerechnet - nach den Speisen Ägyptens zurück (Numeri 11, 5), welche Ironie! Sie waren von der Begierde nach Anderem ergriffen und mit ihrem himmlischen Anteil nicht zufrieden. Für sie blieb das wunderbare Manna eine eintönige, täglich wiederkehrende Einheitsnahrung... (Numeri 5, 6)

Zusammenfassung

Zusammenfassend können wir also folgende Punkte nennen:

1. Das wirtschaftliche Verhalten der Gesellschaft beginnt im Kopf und im Herzen, weswegen wir, die Vertreter der jüdischen und der christlichen Religion, zur Besinnung auf die ethischen Maßstäbe wirtschaftlichen Handelns mahnen.
2. Wohltätigkeit sollte nicht nur in Form des Sozialstaates institutionalisiert wahrgenommen, sondern in unseren Herzen und unseren Köpfen getragen und als Bereicherung für uns verstanden werden.
3. Anhand des Schmittah- und Joweljahres ergibt sich die Möglichkeit, jedem eine neue Chance zu geben, sich eine Existenz erneut aufzubauen. Eine Vorstellung, die für unsere heutige Gesellschaftsform eher einer Utopie gleichkommt. Darüber hinaus können wir diesem System entnehmen, dass die geistige Fortbildung, Werte und Inhalte einen zentralen Platz im Leben der Gesellschaft einnehmen sollten.
4. Vom Manna in der Wüste geht die Belehrung aus, für das, was man erhält und besitzt, täglich dankbar zu sein. Außerdem sollten sich die menschlichen Bemühungen nicht auf das Anhäufen von Reichtum konzentrieren. Zur inneren Erfüllung und Glückseligkeit führt viel mehr der Weg desjenigen, der mit dem zufrieden ist, was ihm zukommt, auch wenn es sich nicht um übermäßigen Wohlstand handelt.

Beschließen möchte ich den Vortrag mit einer kleinen Anekdote, die Vieles von dem Gesagten und über den Auslöser der Wirtschaftskrise sehr geistreich wiedergibt:

Dem Saschenka ist es gelungen, aus dem kommunistischen Russland zu entkommen, und er kommt relativ mittellos in Paris an, wo ihn sein guter Freund Pierre empfängt. Der instruiert ihn auch gleich und macht ihn mit dem neuen System bekannt: „Also, Saschenka, morgen gehst du zuerst einmal zur Bank und eröffnest mit dem Geld, das du dabei hast, ein Konto. Dann beantragst du gleich ein Checkheft, und damit kannst du Checks ausfüllen, deine Unterschrift unten hinsetzen und einkaufen.“ Saschenka, der von dieser Einrichtung noch nicht gehört hat, ist sofort begeistert! Gleich am nächsten Morgen geht er hin zur Bank, eröffnet das Konto und holt sich das Checkheft ab. Und schon greift er ins Volle, leistet sich eine wunderbare Wohnungseinrichtung, teure Markenkleidung und einen tollen Wagen. Nach zwei Tagen wird er vom Bankdirektor persönlich zu einem Gespräch eingeladen. „Monsieur Saschenka, das können Sie nicht machen! Sie haben sich in den letzten zwei Tagen so viel geleistet, dass Sie nun der Bank zwei Millionen schulden!“ Saschenka, der das System bestens verstanden hat, bleibt völlig ungerührt, greift in seine Tasche und zückt das Checkheft mit den Worten: „Wieviel haben Sie gesagt – zwei Millionen? Das ist gar kein Problem, das haben wir gleich beglichen…“

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.