Verlorene Maßstäbe. Herausforderungen durch die Wirtschaftskrise
08. März 2010
Vortrag von Präses Nikolaus Schneider bei der Begegnung "Kirchen und Rabbinerkonferenzen" am 08.03.2010 in Augsburg
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,
„Verlorene Maßstäbe. Herausforderungen durch die Wirtschaftskrise“ – so lautet das wichtige und komplexe Thema meines Vortrages. Es in 25 Minuten zu behandeln, stellt eine Herausforderung dar. Ich nehme sie gerne an und versuche, mich auf zentrale Aspekte zu konzentrieren. Dabei wird freilich manches nur skizziert werden können und vielleicht wird mir auch eine gewisse Vereinfachung schwieriger Sachverhalte zum Vorwurf gemacht. Ich fühle mich dennoch ermutigt, dieses Risiko einzugehen, weil die Finanz- und Wirtschaftskrise, die vor eineinhalb Jahren begann, noch lange nicht überwunden ist. Diese Krise hat gezeigt, wie wenig auch ausgefeilte Wirtschaftstheorien und differenzierte mathematische Modelle in der Lage waren, die desaströse Entwicklung an den Finanzmärkten vorherzusehen, geschweige denn, sie zu verhüten oder gar zu beherrschen. Als Theologe und Christenmensch bin ich zudem überzeugt: Die Rückbesinnung auf biblische Weisungen und Maßstäbe kann uns auch heute in der komplexen globalen Situation helfen, Wege aus der Krise zu finden und die Grundlagen für eine neue wirtschaftliche und soziale Ordnung zu legen.
1. Grundsätzliche Erklärungen zu Gerechtigkeit und Solidarität.
Die evangelische Kirche hat sich bei verschiedenen Gelegenheiten in der Vergangenheit zu Fragen der Wirtschaft und der sozialen Gerechtigkeit geäußert. Ich erinnere an das gemeinsam mit der katholischen Kirche erarbeitete Sozialwort von 1997 „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ und an die EKD-Denkschrift zur „Gerechten Teilhabe“ aus dem Jahre 2006. Dabei ist folgende fundamentale Überzeugung in verschiedenen Perspektiven immer wieder neu zum Ausdruck gebracht worden:
„Grundlegend muss die Erneuerung der wirtschaftlichen Ordnung auf ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft zielen. …Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten. Die Erwartung, eine Marktwirtschaft ohne solche Verpflichtungen, eine gewissermaßen adjektivlose, reine Marktwirtschaft könne den Hausforderungen besser gerecht werden, ist ein Irrglaube.“
Und ich füge hinzu: Dass es eine reine, faire und transparente Marktwirtschaft geben könnte, ist eine Illusion.
2. Aktuelle Äußerungen zur Finanzkrise
Aber auch unmittelbar zur jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise gab es offizielle Verlautbarungen unserer Kirche. So erklärte die EKD-Synode im November 2008 in Bremen, der Staat habe die Rahmenbedingungen für die Finanzwirtschaft genauer zu bestimmen und zu ergänzen und darauf hinzuwirken, dass die Finanzmärkte weltweit geltenden Regeln unterworfen werden. Wörtlich forderten die Synodalen: „Wir brauchen Staaten und Staatengemeinschaften, die auf der Grundlage einer internationalen Ordnung das wirtschaftliche Geschehen verlässlicher regulieren und in der Lage sind einzugreifen, wenn wirtschaftliche Stabilität, Nachhaltigkeit, Ökologie, Verbraucherschutz oder auch die regionale Entwicklung gefährdet sind.“
Diese Gedanken werden im Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise „Wie ein Riss in einer hohen Mauer“ (2009) noch weiter ausgeführt und präzisiert. Hier wird darüber hinausgehend nun eine besondere Betonung darauf gelegt, dass es sich bei der Finanz- und Wirtschaftskrise keineswegs nur um Phänomene handelt, die gleichsam mit technischen Mitteln zu steuern wären. Vielmehr liegen ihnen fundamentale, nur ethisch zu qualifizierende Fehlentwicklungen zugrunde, die eine umfassende Neuorientierung unserer Gesellschaft und einen grundsätzlichen Wandeln im Denken und Handeln erfordern. Es geht um die Frage nach einer Freiheit, die in Verantwortung gestaltet wird. Es geht aber auch um die Erkenntnis von Schuld, um die Bitte um Vergebung, um Neuanfang und um menschliche Beziehungen, die von Vertrauen und Solidarität bestimmt sind. Es geht also um zentrale Fragen, die die Grundlagen unserer Zivilisation – etwa: Wie können Menschen miteinander leben? - betreffen und bei deren Beantwortung wir Christenmenschen uns unabdingbar unserer jüdisch-christlichen Traditionen zuwenden. Nur aus den Wurzeln unseres Glaubens und im Vertrauen auf die gegenwärtige Wirksamkeit von Gottes Wort und Gottes Geist erwachsen uns Inspiration und Kraft zur Gestaltung der Gegenwartsaufgaben.
3. Politik möglich machen
Bei all dem ist in Kirchen unstrittig, dass aus dem Glauben heraus in der Regel keine unmittelbaren und eindeutigen Handlungsanweisungen zur Bewältigung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Aufgaben abgeleitet werden können. Die Kirchen wollen nicht Politik im Sinn von Parteipolitik oder Regierungspolitik machen, sie streben keine exekutive politische Macht an, aber sie wollen eine verantwortungsbewusste Politik möglich machen. Sie wollen auf die Grundlagen politischer Willensbildung einwirken und erwarten, in der Besinnung auf das biblische Zeugnis die nötige Orientierung und Eröffnung neuer Perspektiven zu vermitteln. Schließlich sollen auch den politisch unmittelbar Verantwortlichen Impulse zur Entscheidungsfindung angeboten werden.
4. Die Gier
Es ist auffällig, dass in der gegenwärtigen Diskussion um die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise „Gier“ zu einem Schlüsselbegriff geworden ist. Und dies keineswegs nur in kirchlichen Verlautbarungen, sondern in weiten Kreisen der öffentlichen Diskussion. Dabei wird „Gier“ zum einen als ein individuelles Phänomen wahrgenommen. Ihr sind auch verantwortliche oder aber eben besser gesagt, unverantwortliche Banker und Manger erlegen, vor allem als sie durch ein System fragwürdiger Gratifikationen zusätzliche Anreize zu einem verwerflichen Handeln erhalten haben. Zum anderen: Aber nicht nur das „immer mehr haben wollen“ der Individuen, das freilich nicht auf Banker und Manager beschränkt ist, sondern auch weite Teile der Bevölkerung ergriffen hat, ist Teil des Problems. Vielmehr hat auch das Gewinnstreben ganzer Unternehmen eine zerstörerische Maßlosigkeit angenommen.
In der Epoche der Globalisierung ist die Gier nach Profit ins scheinbar Grenzenlose gewachsen. Das wird etwa an Renditevorgaben deutlich, die nur durch krasse Ausbeutung, Entlassungen großer Zahl von Mitarbeitenden oder durch spekulatives Verhalten zu erreichen sind. Solches Verhalten hat zu falscher Risikoeinschätzung geführt und über verantwortungslose Finanzspekulationen die Krise, wenn nicht hervorgerufen, so doch in diesem Ausmaß erst möglich gemacht.
Dabei ist allerdings das Profitstreben, im Gegensatz zur individuellen Gier, kein subjektiver Impuls und Affekt, dem das Individuum nachgeben oder dem es sich durch Selbstdisziplinierung einfach verweigern könnte. Für die Freie Marktwirtschaft sind nicht nur der Wettbewerb und das Gewinnstreben konstitutiv, sondern in ihr besteht der systemimmanente Zwang, Gewinne, wo immer möglich, zu maximieren, um sich auf diese Weise kurzfristig und dauerhaft Wettbewerbsvorteile zu sichern. Dieses Gewinnstreben steht dem einzelnen Unternehmen nicht zur Disposition. Vielmehr erfahren die einzelnen die Unternehmen das Gewinnstreben gewissermaßen als ein Gesetz, dem es sich nur bei Strafe des Untergangs entziehen kann. Deshalb bedarf es staatlicher Intervention, die auf alle Akteure gleichermaßen wirkt und die die Regeln des Gewinnstrebens in einer international gesicherten Ordnung festlegt.
Wenn die Logik der Kapitalvermehrung keine Grenzen erfährt, wenn sie nicht im Sinne des Gemeinwohles und für alle Beteiligten gleichermaßen reguliert wird, bestimmt und verstärkt sie zunehmend das Denken und Handeln aller Menschen, nicht nur der unternehmerisch tätigen. Jede und jeder Einzelne werden zum „Shareholder“, zum Schnäppchenjäger oder auch zum „homo oekonomicus“, dem alles zur Ware verkommt, und der nur noch darauf aus ist, möglichst billig zu kaufen und möglichst teuer zu verkaufen und so seinen Gewinn zu maximieren. Allein diesem eindimensionalen Maßstab billigt man dann auch noch Rationalität zu.
Jede ethische Forderung wird dagegen als realitätsferne Lyrik in den Bereich der Sonntagsrede verbannt und mit dem Verdikt der Naivität und der Belanglosigkeit versehen. Von „Gutmenschen“ ist dann gerne die Rede, eine Redeweise, die übrigens der Nazisprache entstammt.
5. Die Gier zum Tode
Fast ist es überflüssig zu erwähnen, dass dieser „homo oeökonomicus“ mit seiner eingeschränkten Rationalität, die sich allein an seinem eigenen Vorteil orientiert, den Maßstäben des jüdisch-christlichen Denken und Handelns diamental entgegensteht.
Dieses Denken setzt sich der jeglicher Egozentriertheit, dem „in sich selbst gekrümmt sein“ des Menschen – wie Luther es so treffend beschrieb -, also der Sünde schlechthin entgegen. Die Ausrichtung auf Gott und den Nächsten versteht unser Glaube als heilsame Befreiung von dieser Sünde. Nicht von ungefähr ordnet die mittelalterliche Kirche deshalb die dem „homo oeökonomicus“ zur Wesensbestimmung gewordene unersättliche Gier, die Avaritia, zu den sogenannten sieben Todsünden. Wobei der Ausdruck Todsünde insofern durchaus treffend ist, als dass diese Sünde die Grundlagen des Lebens selbst unterhöhlt und schließlich infrage stellt. Nebenbei sei angemerkt, dass der Bruder der Gier aus der Familie der Todsünden, der Geiz, bis vor kurzem als äußerst vorbildlich dargestellt wurde: „Geiz ist geil“. Das war ein jahrelang benutzter Werbespruch, der sicher auch zur Aushöhlung der ethischen Grundlagen unseres Gemeinwesens beigetragen hat.
Jesus sagt: „Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.“ (Lukas 12,15) Im ersten Timotheusbrief wird die Geldgier als die Wurzel allen Übels identifiziert (1. Timotheus 6,10).
Ja, der Mammon selbst wird zum Götzen und die Habgier zum Götzendienst, der schließlich ins Verderben führen muss. Diesen inneren Zusammenhang von Habgier und Gottlosigkeit mit seinen fatalen Folgen kennt auch der Psalmist. Er sagt: „Denn der Gottlose rühmt sich seines Mutwillens und der Habgierige sagt dem Herrn ab und lästert ihn. (Psalm 10,3)
Die von der biblischen Botschaft formulierte Alternative lautet also: Entweder der Glaube an den lebendigen Gott oder der Glaube an das Geld, an Baal, den toten Fruchtbarkeitsgötzen. Beides zusammen schien damals und scheint heute nicht möglich zu sein. Und wer weiß, vielleicht hat der ja der Säkularismus, den wir heute in den westlichen Gesellschaften verstärkt beklagen, schlicht in dieser fundamentalen Glaubensentscheidung seine eigentlichen Wurzeln.
Das Fatale ist, dass zur Gottlosigkeit, die durch Habgier hervorgerufen wird, heute nicht nur individuelle, sondern auch systembedingte Anreize geboten werden. Dadurch wird die zerstörerische Habgier gleichsam enthemmt und zur prägenden Lebenseinstellung.
Ein anschauliches, geradezu architypisches Beispiel für das verhängnisvolle Wirken der Habsucht findet sich schon in einer alten Erzählung aus der griechischen Antike: als König Midas, der Dionysos freundlich aufnahm, als Gegenleistung für seine Gastfreundschaft mit der Erfüllung eines Wunsches belohnt werden soll, erbittet dieser in seiner Torheit und Gier, dass sich alles, was er berührte, fortan in Gold verwandeln solle. Ihm wird sein Wunsch erfüllt. Der anfänglichen Euphorie folgt allerdings schon bald das Entsetzen: Denn auch Speise und Trank werden dem König nun zu Gold. Er kann nicht mehr essen, trinken, lieben und droht, an den Folgen seiner maßlosen Gier zu verenden.
Ich fasse zusammen: Die Gier des Menschen ist keine Erfindung der Neuzeit. Aber sie ist eine Eigenschaft, die in einer deregulierten Marktwirtschaft zusätzliche Anreize und Enthemmung erfährt. Dieser Entschränkung der Gier zu wehren – durch Gesetze, Vorschriften, Regeln und Erziehung zum Maßhalten, vor allem durch das Setzen anderer Werte und Ziele – das ist nicht nur Aufgabe der ethischen, sondern auch der ökonomischen Vernunft. Es ist die Frage nach einem von Gott begleiteten und gesegneten Leben. Es ist eine Frage des guten Lebens für Einzelne und Gesellschaft, ja es ist auch eine Frage des Überlebens unseres Planeten.
6. Gerechte Verteilung und Reichtumsbeschränkung
Ein weiteres fundamentales Problem, das durch die Wirtschafts- und Finanzkrise verstärkt in unser Bewusstsein gelangt, zeigt sich in der Frage nach der gerechten Verteilung der erwirtschafteten Güter. Auch hier wird deutlich, dass eine biblisch orientierte Ethik wichtige Impulse zur Lösung der Fragen nach Recht und Gerechtigkeit in unseren ökonomischen Strukturen geben kann. Zu Recht wird im Wort der EKD zur Finanzkrise festgestellt:
„Menschen, deren persönliche Lebensperspektive zerstört wird, empfinden es als zynisch, wenn schlingernde Finanzinstitute mit Steuernmitteln stabilisiert werden, während man die Empfänger von Sozialleistungen zu Eigenverantwortung und Eigenvorsorge aufruft. Vertrauen ist zerstört – in Verantwortungsträger, aber auch in die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft.“ Ich füge hinzu: Die Abfindungen für unverantwortliche Manager oder ihre fortlaufenden Bezahlungen rufen unvermeidlich Entsetzen, Unverständnis oder sogar Wut hervor.
In der Erklärung der EKD-Synode von Bremen heißt es: „Die Politik muss nun an den Ursachen der Krise ansetzen, um eine Fortsetzung des Fehlverhaltens zu verhindern. Es darf nicht sein, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.“
Ich füge hinzu: Leider ist zu befürchten, dass genau dies geschehen wird.
Hinter diesen Sätzen steht nicht nur die Erfahrung der aktuellen Krise und ihres Verlaufes. Den Hintergrund für diese Einschätzung liefert auch die zunehmend als ungerecht empfundene Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Und in der Tat: Hinter dieser Empfindung, die von weiten Teilen der Bevölkerung geteilt wird, steht eine wirtschaftliche Entwicklung, die weltweit, aber auch in Deutschland, zu einer zunehmenden Spreizung des Einkommens und des Vermögens geführt hat. Das ist im letzten OECD-Bericht unmissverständlich klar gestellt worden. Dort heißt es:
Der Bericht „zeigt auf, dass sich mindestens seit Mitte der 1980er Jahre, wahrscheinlich aber schon seit Mitte der 1970er Jahre ein kontinuierlicher Anstieg der Einkommensungleichheit vollzogen hat. Von der Zunahme der Disparitäten waren die meisten (wenn auch nicht alle) Länder betroffen, wobei in Kanada und Deutschland in jüngster Zeit z.B. erhebliche Ausweitungen zu verzeichnen waren.“
Konkret bedeutet diese Entwicklung folgendes: Während das Jahresdurchschnittseinkommen in den 1990er Jahren weitgehend konstant blieb, stieg es bei den
• oberen 10% um 6%,
• den oberen 0,01% um 17%,
• den wohlhabendsten 650 Deutschen um 35% und
• den 65 reichsten um 53%.
Entsprechend geringer wurde besonders das Einkommen der einkommensschwächsten Teile der Bevölkerung, und auch die Mittelschicht hat in Deutschland spürbare Einbußen hinnehmen müssen.
Ebenso wenig wie die Gier ist die Konzentration von Reichtum auf der einen und der Ausbreitung von Armut auf der anderen Seite ein Phänomen der letzten Jahrzehnte. So stimmt der Prophet Jesaja im 8. Jh. v.Ch. geradezu eine Totenklage an, als er ausruft: „Weh denen, die ein Haus zum anderen bringen und einen Acker an den andern rücken, bis kein Raum mehr da ist und sie allein das Land besitzen!“ (Jesaja 5,8) Entscheidend über unser Nachdenken, Reden und Handeln heute ist aber: Das Missverhältnis bei der Verteilung des Reichtums hat im globalen Maßstab ein derartiges Ausmaß erreicht, dass es geradezu groteske Dimensionen angenommen hat.So hält 1% der Weltbevölkerung etwa 40% des weltweiten Vermögens.
Die reichsten 2% der Weltbevölkerung besitzen mehr als 51% und auf die reichsten 10% entfallen etwa 85% des weltweiten Vermögens. Dagegen müssen sich die unteren 50% der Weltbevölkerung mit weniger als 1% des weltweiten Vermögens begnügen.
Die soziale Realität, die sich hinter diesen Zahlen verbirgt, kennen wir nicht nur aus den Berichten aus den sogenannten Entwicklungsländern. Wir erfahren sie mittlerweile schwächer, aber doch unverkennbar, auch vor unserer eigenen Haustür. Diese Realität verweist auf „verlorene Maßstäbe“, auf eine Welt, die in Unordnung geraten ist. Sie fordert ein neues Gleichgewicht, weil „Gerechtigkeit ein Volk erhöht; aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Sprüche 14,34) und wir wissen, „dass der Herr der Elenden Sache führen und den Armen Recht schaffen wird.“ (Psalm 140,13) Es ist diese biblisch gewonnene Einsicht, die die Kirchen in ihrem gemeinsamen Sozialwort dazu veranlasst hat, eine vorrangige Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten zu formulieren.
Die wachsende soziale Ungerechtigkeit ist theologisch und ethisch verwerflich. Sie ist sozial explosiv, wie an brennenden Autos und gewalttätigen Demonstrationen zu sehen ist. Sie ist aber auch ökonomisch kontraproduktiv. Denn sie führt dazu, dass ungeheure Mengen von Kapital um den Globus zirkulieren, dort nach optimalen Anlagemöglichkeiten suchen und dann die berüchtigten Finanzblasen produzieren, die früher oder später zum Platzen kommen und dann unkalkulierbare Risiken erzeugen. Oder dieses überschüssige Kapital wird über die staatliche Kreditaufnahme indirekt umverteilt und auf diese Weise wird gleichsam künstlich Nachfrage produziert. Dadurch wird die Krise zwar hinausgezögert und verlängert, behoben wird sie allerdings keineswegs.
Die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums mittels der Verschuldung öffentlicher Haushalte ist zweifellos ein Instrument, dem eine hohe Attraktivität zu Eigen ist. Denn diese Umverteilung geschieht auf freiwilliger Basis, sie lindert den Mangel und hilft so, soziale Krisen nicht ausbrechen zu lassen. Das geschieht allerdings immer mit dem vagen Versprechen, eines Tages die Kredite mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen. Ob und wann und wie dieses Versprechen einzulösen ist, wird indes zunehmend fraglich und stellt damit dieses System staatlicher Umverteilung durch Kreditaufnahme grundsätzlich infrage. Letztlich ist es eine Verschiebung des Problems in die Zukunft, eine Lösung zu Lasten der kommenden Generationen und deshalb alles andere als eine ethisch vertretbare nachhaltige Lösung.
Schließlich sei angemerkt, dass Ökonomen wie etwa der renommierte und mit einem Nobelpreis bedachte Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stieglitz der Meinung sind, dass die gegenwärtigen ökonomischen Krisen durch die oben beschriebenen, ungeheuren Disparitäten ausgelöst werden.
7. Schuld und Schulden – bezahlen und erlassen
Ich bin damit zum vorletzten Punkt meiner Überlegungen gekommen.
Es ist keineswegs nur in der deutschen Sprache ein erstaunliches Phänomen, dass sich Begriffe aus der Ökonomie in einer großen Nähe zur religiösen Ausdrucksweise befinden. So steht hinter dem „Kredit“ kein anderes Wort als das lateinische „credo“, ich glaube. Der Gläubiger muss eben Vertrauen in den Schuldner legen. Vertrauen, zumindest insoweit, dass dieser seine Schulden tilgt und eines Tages auch begleicht. Ohne diesen Glauben wird er ihm schwerlich sein Geld verleihen.
Aber in den biblischen Schriften kommt von Anfang an auch ein anderes Prinzip zur Geltung. So wie der Schuldige nicht zwangsläufig für seine Tat büßen muss, sondern eher auch auf Barmherzigkeit und Vergebung und einen neuen Anfang hoffen darf, so ist auch dem Schuldner die Chance zum Erlass seiner Schulden in Aussicht gestellt. Die Tora weiß vom siebenten Jahr, das zu einem Sabbatjahr bestimmt sein soll und dem sieben Mal siebten Jahr, dem Jobeljahr, in dem es neben einer allgemeinen Entschuldung und Freilassung der Sklaven gar durch die Neuverteilung des Grundeigentums zur Wiederherstellung der ursprünglichen Eigentumsverhältnisse kommen soll. Der zutiefst humane Gedanke, der hinter dieser Rechtssatzung steht, ist Ausdruck des Bemühens, jeder Generation die Chance zu einem neuen Anfang unbelastet von der Schuld und den Schulden der Väter und Mütter zu ermöglichen. Die Rückgabe von Grund und Boden, des produktiven Vermögens in der Antike schlechthin, an die ursprünglichen Besitzer war geradezu die Bedingung der Möglichkeit eines Lebens in Freiheit und Selbstverantwortung. Und dazu hatte der Herr sein Volk Israel schließlich aus der Sklaverei in Ägypten befreit und in das Land geführt, in dem Milch und Honig fließt. Hier sollten sie exemplarisch unter Beweis stellen, welchen Entwurf Gott für seine Menschheit im Allgemeinen verwirklicht sehen wollte.
Im Zusammenhang mit der Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer haben die großen Kirchen in Deutschland 1998 bereits an diese alten Rechtssatzungen des jüdischen Volkes erinnert. Ich zitiere ein Wort Johannes Pauls II., der nachdrücklich zu einem Schuldenerlass für die ärmsten Länder der Welt aufrief: „So werden sich … die Christen zur Stimme aller Armen der Welt machen müssen, in dem sie das Jubeljahr als eine passende Zeit hinstellen, um u.a. an eine Überprüfung, wenn nicht überhaupt an einen erheblichen Erlass der internationalen Schulden zu denken, die auf dem Geschick vieler Nationen lasten.“
Und an anderer Stelle heißt es: „Der Grundsatz, dass die Schulden gezahlt werden müssen, ist sicher richtig. Es ist jedoch nicht erlaubt, eine Zahlung einzufordern oder zu beanspruchen, die zu politischen Maßnahmen zwingt, die ganze Völker in den Hunger und in die Verzweiflung treiben würden. Man kann nicht verlangen, dass die aufgelaufenen Schulden mit unzumutbaren Opfern bezahlt werden. In diesen Fällen ist es notwendig – wie es übrigens teilweise schon geschieht – Formen der Erleichterung der Rückzahlung, der Stundung oder auch der Tilgung der Schulden zu finden, Formen, die mit dem Grundrecht der Völker auf Erhaltung und Fortschritt vereinbar sind“.
Der erste große Schuldenerlass, der auf dem G8-Treffen in Köln verabredet wurde, war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Was hier zur Situation der hoch verschuldeten Länder südlicher Hemisphäre gesagt wird, wird in nicht ferner Zukunft auch auf die entwickelten Länder und auf die sich dort akkumelierten Staatsschulden zutreffen. Will man diese Schulden nicht zukünftigen Generationen auflasten oder jetzt schon drastische Einsparungen in den öffentlichen Haushalten vornehmen, mit den dann unschwer vorhersehbaren sozialen und politischen Folgen, wird man sich einer kontrollierten Entschuldung im Sinne des Schuldenerlasses auf Dauer nur schwer entziehen können. Die Alternative, sich mittels einer beschleunigten Geldentwertung dieses Problems zu entledigen, ist in jedem Fall weder gerechter noch leichter zu steuern und birgt damit ungleich höhere Risiken. Ich bin der Meinung, dass wir einen gesellschaftlich verabredeten Entschuldungsplan brauchen, und nicht den Druck auf die Sozialleistungen zum staatlichen Schuldenabbau.
Mit dieser Entschuldung öffentlicher wie privater Haushalte wird allerdings auch ein Mentalitätswandel einzuleiten sein, der weite Teile der Bevölkerung umfassen muss. Wenn u.a. durch steuerliche Maßnahmen eine gerechtere Verteilung des Einkommens erreicht wurde, muss auch eine Kultur begünstigt werden, in der Kredite in der Regel nur dann beantragt, angeboten und in Anspruch genommen werden können, wenn sie einem investiven und nicht einem konsumtiven Zweck dienen.
Jede Krise enthält auch die Chance zur Gesundung. Ich bin zurückhaltend, eine solche Entwicklung heute schon deutlich zu sehen. Es wird vieles gefordert und verabredet, umgesetzt wurde weniges. So ist also eher gedämpfter, oder fast möchte ich sagen „methodischer Optimismus“ angesagt, wenn es darum geht, dass ein neues Maßhalten, ein bewusster Verzicht, eine auch ökologisch angemessene Lebensweise die schrankenlose Gier und das “Leben auf Pump“ ablösen und damit das Zusammenleben auf ungeahnte Weise bereichern und vertiefen wird. Aber eine Alternative dazu haben wir nicht!
Ein Schritt in diese Richtung ist auch, Geldanlagen an ethischen und nachhaltigen Kriterien auszurichten, so wie es jetzt vom Rat der EKD für eigene Investitionen beschlossen und den evangelischen Gliedkirchen empfohlen worden ist. Sogenannte „Ethikfilter“ über Geldanlagen zu legen, ist mittlerweile ein gebräuchliches Instrument der Banken geworden.
8. Theologischer Abschluss. Verlorene Maßstäbe – Menschen auf der Suche nach den Weisungen die Gott in ihre Herzen gegeben und in ihre Sinne geschrieben hat (vgl. Jeremia 31,33b)
Die Bibel zeichnet in ihren Jahrtausende alten Schriften ein realistisches und zugleich zeitloses Bild vom Menschen und von menschlichen Gesellschaften.
Den Menschen – nach dem Bilde Gottes geschaffen und von Gott zur Verantwortung und Freiheit berufen – wurden von Gott Maßstäbe und Weisungen für ein gutes Leben in Frieden und Gerechtigkeit offenbart.
Das Leben der einzelnen Menschen, das Leben der menschlichen Gesellschaften stellt sich in Geschichten „verlorener Maßstäbe“ und in Geschichten des Suchens und des Vergegenwärtigens der Maßstäbe dar, die Gott in die Herzen von Menschen geschrieben hat und schreibt.
Die Bibel erzählt und bezeugt, dass Gott uns Menschen bei dieser Suche nicht allein lässt. Für uns Christenmenschen ist es das lebendige Wort Gottes, Jesus Christus, der uns Gottes Maßstäbe und Weisungen vermittelt, in unsere Herzen gibt und in unsere Sinne schreibt.
Gottes Maßstäbe und Weisungen zielen auch für uns nicht allein auf das ganz private Seelenheil der Einzelnen. Gottes Maßstäbe und Weisungen leiten an zu einem Leben in Gerechtigkeit und Frieden. Das gilt für unsere Gesellschaften und deshalb auch für unser Wirtschaften und für unsere Wirtschaftssysteme.
Auch glaubende Menschen, die sich von Gottes Wort gerufen wissen und in Worten und Taten verantwortlich antworten wollen, sind nicht vor Habgier und auch nicht vor Anmaßung und Besserwisserei gefeit. Wir alle leben davon, dass Gott uns unsere Schuld vergibt und uns Strafe erlässt. Aber darauf können wir aus guten Gründen auch vertrauen, denn Gottes Gerechtigkeit wird qualifiziert durch seine Barmherzigkeit!
Und nur, wenn wir in unseren Gesellschaften und auch in unserem Wirtschaftsgebaren unsere Gerechtigkeit nicht zu einer formalen Gerechtigkeit oder zu einem „Leistung muss sich lohnen Prinzip“ versimplifizieren, nur dann haben wir Gottes Maßstäbe in unseren Herzen und für unseren Verstand nicht verloren. Und nur darin liegt Hoffnung für die zukünftige Entwicklung des menschlichen Lebens auf diesem Planeten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.