Themenheft online 2010: "Verlorene Maßstäbe"

Die Goldene Regel:
Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem anderen zu

Samson Hochfeld
 

Zu den schöpferischen Leistungen des Judentums gehört die Entdeckung des Mitmenschen und damit der Menschheit. Die Sorge der nichtjüdischen antiken Denker konzentriert sich um das Ich, nach dem Wohl und Wehe des andern wird nur nebenher gefragt. Was ist das Ziel des menschlichen Lebens? So lautet das Grundproblem der Ethik bei den griechischen Philosophen; Glückseligkeit, antworten sie und geben je nach ihrem Standpunkt verschiedene Wege an, diese Glückseligkeit zu erreichen: Herrschaft der Vernunft über die Triebe, Genuss, Bedürfnislosigkeit, Gelassenheit. Kein einziger von ihnen aber hat die Antwort gefunden: Du sollst glücklich werden, indem du deinen Mitmenschen glücklich machst, indem du ihm Gutes erweist, ihm hilfst, ihm die Last des Lebens erleichterst. Die nichtjüdische Ethik des Altertums ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, egoistisch orientiert, sie ist Individualethik, der die großen Fragen der Sozialethik fremd bleiben. Die Bibel aber hat den Mitmenschen als notwendigen Faktor in die ethische Betrachtung eingeführt und seine Wohlfahrt zur Norm für die Beurteilung des menschlichen Handelns erhoben.

Denn der Mensch ist nach biblischer Anschauung kein Einzelwesen, das isoliert dasteht und zur Erreichung seines persönlichen Vorteils andere Menschen unterdrücken und ausnutzen darf, er ist vielmehr Glied einer Gesamtheit, die aus gleichberechtigten und gleichverpflichteten Individuen besteht. Die Gesamtheit soll erhalten werden, sie soll wachsen und gedeihen und zu immer höheren Stufen der Kraft und der Leistungen aufsteigen. An dieser Arbeit im Dienste der Gesamtheit soll jeder einzelne teilnehmen und von ihr seinen Menschheitswert empfangen. Je nach Begabung und Anlagen ist ihm im Organismus des Ganzen ein höherer oder niederer Platz zu seiner Betätigung angewiesen, niemand aber ist ausgeschlossen oder so unbrauchbar, dass auf ihn verzichtet werden kann.

Von hier aus verstehen wir, welche Rolle Gerechtigkeit und Liebe in der jüdischen Ethik spielen. Gerechtigkeit bekundet sich allgemein in dem Verhalten, welches Eingriffe in den Lebenskreis anderer meidet oder verhütet, Liebe in dem Verlangen, das Leben anderer zu fördern. Eine Gesamtheit von Menschen kann nicht bestehen ohne Gerechtigkeit und Liebe. Jene grenzt die Befugnisse der einzelnen Glieder von einander ab, diese greift ein, wenn sich Härten bei der Abgrenzung herausstellen; die eine ist der Unterbau, auf dem die Gemeinschaft sicher ruht, die andere der Kitt, der die Quadern und Mauern zusammenhält. Gerechtigkeit und Liebe gehören nach jüdischer Auffassung zusammen wie Regen und Sonnenschein beim Wachstum der Pflanzen oder wie das männliche und das weibliche Element in der Ehe. Die enge Verbindung mit der Liebe hat sie jüdische Gerechtigkeit davor bewahrt, summa iniuria, höchstes Unrecht zu werden, zum starren Prinzip, zum leblosen Formalismus auszuarten; der dauernde Kontakt mit der Gerechtigkeit aber hat die jüdische Liebe davor geschützt, sich in Gefühlsschwelgerei zu verlieren und die realen Bedingungen des Lebens außer acht zu lassen.

Die Nächstenliebe, die demnach die Aufgabe hat, zu lindern und zu mildern, zu unterstützen und beizustehen, zu trösten und zu helfen, mit einem Wort: dem anderen ein menschliches Leben, ein Leben im Rahmen und im Dienst der Gesamtheit zu ermöglichen, umfasst die ganze Skala der Beziehungen, in denen Menschen zu Menschen stehen können; sie reicht von dem Vertrauten und Freunde über den Mitbürger und Volksgenossen bis zum unbekannten Angehörigen fremder Rasse und fernsten Landes; die Tatsache, dass er ein Menschenantlitz trägt, lässt jeden dieser Liebe würdig erscheinen. Die Nächstenliebe macht auch nicht Halt vor den Unterschieden, die Erfolg und Misslingen, Reichtum und Armut, Überfluss und Not geschaffen haben; äußert sie sich dort als Menschenfreundlichkeit und wohlwollende, neidfreie Gesinnung, so hier als Barmherzigkeit, Mildtätigkeit und Armenpflege; sie steigert sich je nach dem Gebot der Stunde von der kleinen Gefälligkeit bis zur großzügigen Hilfsaktion, von der gelegentlichen Gabe bis zur aufopfernden Hingebung.

In ihrem Bestreben, alle Lebensverhältnisse zu umspannen und mit der Hilfe das Richtige zu treffen, hat die jüdische Nächstenliebe einen Grundsatz aufgestellt, der sich als überaus fruchtbar erweist und der überall befolgt werden kann: versetze dich in die Lage des anderen, dann urteile und handle! Stehst du einem Unbekannten gegenüber, der dich nötig hat, bedenke, wie ihm zu Mute sein mag! Naht sich dir ein Unglücklicher, der sich vergangenen hatte, berücksichtige die Umstände, unter denen er auf den Abweg getrieben wurde! Bist du im Zweifel über die Motive, die in dem verfehlten Leben des anderen wirksam gewesen sind, urteile nach der günstigen Seite! In der zartesten Weiße kommt diese Aufforderung, sich in die Lage, die Stimmung, die Mentalität des andern hineinzuversetzen, zur Geltung bei der Regelung des Verhältnisses von Herr und Knecht: man soll, so gebietet das Judentum, den Dienenden seine untergeordnete Stellung nicht fühlen lassen, man soll mit Milde über ihn herrschen, man soll ihm nichts zumuten, was seine Menschenwürde verletzt.

Eine besondere Darlegung verdient die Stellung des Judentums zum Problem der Feindesliebe oder, was damit zusammenhängt, zur Frage nach der Zulässigkeit der persönlichen Rache. Ist auch in unsrer ganzen Bibel das ihr zugesprochene Wort: „Du sollst deinen Feind hassen!“ nicht zu finden, so wird doch die Abwehr grundlosen Angriffs, der Kampf gegen Rechtsbruch und Friedensstörung gefordert und gutgeheißen. Dem Gegner sich willenlos ausliefern hieße: ihn in seinem Vernichtungswillen bestärken; der Gewalt freien Raum gewähren hieße: den Bestand der menschlichen Gemeinschaft gefährden. Ist also die Verteidigung ethisch gerechtfertigt, so ist doch die Rache eine Überschreitung des Zulässigen und Notwendigen. Groll aufspeichern, zu günstiger Zeit das Erlittene heimzahlen, Böses mit Bösem vergelten ist nicht nur eine Sünde gegen den andern, sondern auch eine Versündigung an der eigenen Menschenwürde. Das ist der Kern des jüdischen Gebots der Feindesliebe: auch der Feind ist und bleibt Mensch, wie sehr er sein Menschentum verleugnet haben mag. Kommt er in Not, so sollst du vergessen können und ihm deine Hilfe nicht weigern; niemals aber darfst du dich verleiten lassen, seinem Beispiel zu folgen und ihm deine Hilfe nicht weigern; niemals aber darfst du dich verleiten lassen, seinem Beispiel zu folgen und damit dich selber zu erniedrigen.

Vergessen können um des Menschen und der Menschheit willen, verzeihen und Versöhnung üben, das ist nach jüdischer Lehre das höchste, feinste und wirksamste Mittel, den Bestand der Gesamtheit zu sichern. Würden alle Beleidigungen, Verstöße und Schädigungen im Gedächtnis aufbewahrt und bei Gelegenheit erwidert, so wäre der Krieg aller gegen alle da und ein Leben in der Gemeinschaft unmöglich. Nur dadurch, dass man seine Person mit ihrem Interessen dem menschlichen Ganzen ein- und unterordnet, im Gedeihen der Allgemeinheit das Ziel und den Lohn der eigenen Mühen erblickt, gewinnt man die Kraft, sich zu überwinden und nicht bloß auf die Befriedigung der Eitelkeit, sondern auch auf die Durchsetzung vielleicht berechtigter Forderungen zu verzichten. Mit diesem Blick auf das Ganze hat deshalb das Judentum einerseits vorgeschrieben, Streit zu vermeiden und den bereits ausgebrochenen so bald als möglich beizulegen, andererseits hat es als oberstes Verdienst gepriesen, die Eintracht unter den Menschen zu mehren. Mitlebende, die sich entzweit haben, einander wieder näher zu bringen, Streitigkeiten anderer zu schlichten durch Wegräumung von Missverständnissen und Beseitigung von Verstimmungen, dem Frieden eine dauernde Heimstatt auf Erden zu bereiten, mit diesen Mahnungen krönt das Judentum sein Gebot der Nächstenliebe.

(Quelle: Hans Küng/Walter Homolka, Hrsg., Weltethos aus den Quellen des Judentums. Herder-Verlag, Freiburg/Br. 2008)


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