Themenheft online 2015: "Im Gehen entsteht der Weg. Impulse christlich-jüdischer Begegnung"

Die Lampen der Erläuterung

Das Judentum ist ohne endlos fortgesetzten Kommentar und Kommentar zum Kommentar nicht denkbar.

George Steiner

 

Kommentierung kommt niemals zu einem Ende. In den Welten des interpretatorischen und kritischen Diskurses zeugt, wie wir gesehen haben, ein Buch das andere, bringt ein Essay den anderen hervor, setzt ein Artikel den anderen in die Welt. Die Mechanik der Unaufhörlichkeit ist die der Schwärme der Wanderheuschrecke. Monographie zehrt von Monographie, Vision von Revision. Der Primärtext ist nur der ferne Brunnen autonomer exegetischer Wucherung. Die wahre Quelle des Wälzers von Z sind die Arbeiten von X und Y zum selben Gegenstand. Sowohl von den rhetorischen Konventionen wie von der Substanz her sind Sekundärtexte Texte über Sekundärtexte. Bücher, die literarische Interpretationen und Literaturkritik, Kunstkritik oder Musikästhetik enthalten, sind Bücher über vorangegangene Bücher über dieselben oder verwandte Themen. Essay spricht zu Essay, Artikel plappert mit Artikel in einem endlosen Höhlennetz verdrießlicher Echos. Gegenwärtig sind die bestimmenden Energien und der Geist akademisch-journalistischer Ergüsse in den Geisteswissenschaften tatsächlich tertiärer Ordnung. Wir haben Texte über die Möglichkeit und den erkenntnistheoretischen Status vorangegangener Sekundärtexte. Es gab zum Beispiel Wordsworth. Danach kam die Flut von kommentierender Literatur über Wordsworth. Heute ist das brennende Thema der Arbeiten die semantischen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, über Wordsworth zu schreiben. Unser Gespräch handelt vom Gespräch, und Polonius ist der Meister.

Wie kann persönliche Sensibilität flussaufwärts gehen zu den lebendigen Quellen „ersten Seins“? Hat solch ein Bild des  ursprünglichen überhaupt irgendeine Legitimität? Diese Frage stellt sich ganz fundamental in drei Bereichen der Tradition des Westens.

Das Judentum ist ohne endlos fortgesetzten Kommentar und Kommentar zum Kommentar nicht denkbar. Die Exegese des Talmud entfaltet sich zu ununterbrochenen Talmudstudien und -kommentaren. Die Lampen der Erläuterung müssen vor dem Tabernakel brennen, ohne zu verlöschen. Endlos fortgesetzte Hermeneutik und Überleben im Exil sind, so glaube ich, miteinander verwandt. Der Text der Thora, des biblischen Kanons und die konzentrischen Sphären von Texten über diese Texte treten an die Stelle des zerstörten Tempels. Es ist eine profunde dialektische Bewegung. Einerseits ist aller Kommentar in bestimmtem Sinne schon selbst ein Akt der Exilierung. Alle Exegese und Glossierung rückt den Text in gewisse Entfernung und Verbannung. In die Schleier von Analyse und metamorpher Darlegung gehüllt, befindet sich der Ur-Text schon nicht mehr unmittelbar auf Heimatboden. Andererseits bekräftigt der Kommentar die fortdauernde Autorität und das Überleben des primären Diskurses. Er befreit das Leben des Bedeutens von dem historisch-geographischer Kontingenz. Sind wir zerstreut unter die Völker, so ist der Text unsere Heimat.

Die Gemara, also der Kommentar zur Mischna, die ihrerseits eine Sammlung und geordnete Zusammenstellung mündlicher Gesetze und Vorschriften darstellt - beide zusammen bilden den Talmud -, und der Midrasch, also der Teil des interpretatorischen Kommentars, der sich insbesondere der Interpretation der Heiligen Schrift widmet, sind von Form wie Substanz her ohne Abschluss. Im Midrasch besteht die Methode des Lesens in argumentativer, modifizierender und überprüfender Glossierung und in Marginalien zum heiligen Text und zu früheren Auffassungen. Hermeneutische Untersuchungen gelten allen Ebenen möglicher Bedeutung: der semantischen, grammatikalischen und lexikalischen. Unglaublich geübtes Gedächtnis und philologische Virtuosität vollführen einen Tanz des Geistes vor der halb geschlossenen, aber strahlenden Bundeslade der Schrift.

Dieses Lesen ohne Ende stellt die wichtigste Garantie jüdischer Identität dar. Unbeirrbares minuziöses Thorastudium geht als Gebot allen anderen Riten und Pflichten vor. Der Dialog mit dem letztlich, aber nur letztlich, unergründlichen Text ist der Atem jüdischer Geschichte und jüdischen Seins. Er hat sich als das Werkzeug zu einem wenig wahrscheinlichen Überleben erwiesen. Zugleich ist es durchaus möglich, dass Geist und Methode des Talmud zu gewissen philologisch-legalistischen Sterilitäten und Zirkularitäten in jüdischer Sensibilität geführt haben. Der Tanz dreht sich endlos um sich selbst. Es sind nicht nur das mosaische Bilderverbot und die seit unvordenklichen Zeiten bestehende jüdische Scheu angesichts des Schöpfungsaktes, die bis vor nur sehr kurzer Zeit den Juden eher zum gelehrten Kommentator als zum Gestalter ästhetischer Form bestimmt haben (wie er das in unvergleichlicher Weise war, als die Psalmen, als das Hohelied, als das Buch Hiob und der Prediger Salomo entstanden). Es ist auch inhärent das Ideal und die Praxis des Sekundären aus Respekt vor dem geoffenbarten Wort. Es ist höchst bezeichnend, dass der größte moderne jüdische Schriftsteller und Meister der Einbildungskraft, Kafka, seiner Prosa die Gestalt von Exegese, von ergründenden, vergeblichen Marginalien zum Abgrund des Bedeutens verleiht.

Die rabbinische Antwort auf das Dilemma endlosen Kommentars ist eine moralischen Handelns und erleuchteter Lebensführung. Die hermeneutische Darlegung ist kein Selbstzweck. Sie zielt darauf ab, die Bedeutungen, die den mannigfachen Verkündigungen der heiligen Botschaft innewohnen, in normative Handlungsanweisungen umzusetzen. Während die Jahrhunderte vergehen, bewahrt die Thora nicht nur dem Buchstaben nach ihre Gestalt. Sie wird vor der Drohung grammatikalischer Vergangenheit behütet. Der sich ewig neu entfaltende Kommentar verleiht den gebothaften, den gedenkenstiftenden, den metaphorischen und esoterischen Komponenten der Textstelle, auf der der forschende Blick liegt, des einzelnen Wortes oder Buchstabens, dem der liebevolle Disput gilt, eine greifbare Gegenwärtigkeit. Die Glossierung insistiert auf Angemessenheit im Hier und Jetzt. Zugleich bereiten Erhellung und Konjektur die Entwicklung zu einer künftigen Ernte vor. Mittels ewig erneuerter Interpretation wird derselbe alte Bibelvers, wird dasselbe alte Gleichnis in Zeiten und an Orten der Bedürftigkeit, die wir noch nicht kennen, Erleuchtungen und praktisch existenzielle Anwendungen bieten, die wir noch nicht gesehen haben.

Der Gegensatz zu kabbalistischer Textauffassung ist aufschlussreich.  Dem Kabbalisten geht es nicht darum, Verstehen in Handlung umzusetzen, sondern um letztendliche Erleuchtung. Er sucht Urgestein. Sieben mal sieben sind die Schichten der Bedeutung des Wortes, des Buchstabens. Meditation im höchsten Stadium, ekstatischer Dienst am Dunklen mögen zu den letzten Geheimnissen des Sinnes führen, jenen Buchstaben aus weißem Feuer, die von der Bedeutung der  Bedeutung künden. Solch Wissen ist selbstgenügsam. Es braucht nicht, es kann nicht umgesetzt werden in die ungefähren Umrisse persönlichen oder gemeinschaftlichen Verhaltens. Ausschlaggebend ist der Akt des Lesens, und der Kabbalist verharrt grenzenlos ergeben im Schweigen.

Diese Varianten interpretatorischer Erfahrung angesichts von Bedeutung, nämlich die einer Verantwortlichkeit, die zur Tat zwingt und die reine Rezeptivität werden beide Auswirkungen auf das Konzept der Begegnung mit Gegenwart haben.

Der zweite Bereich, in dem die Beziehungen zwischen dem Primären und dem Sekundären, zwischen dem Inspirierten und dem Diskursiven profund disputiert werden, ist der  mittelalterlicher Scholastik. Selbstreplizierend und variantenreich windet sich die Helix scholastischen Kommentars um den Stamm des biblischen und kirchenväterlichen Kanons. Unser ganzes Thema veranschaulicht sich auf geradezu emblematische Weise in einer Reihe berühmter Titel aus dem 12. Jahrhundert: auf Anselm von Laons Glossa ordinaria über die Psalmen und die Episteln des Paulus folgt Media glossatura von Gilbert von Poitiers; letzterer wiederum führt zu Magna glossatura von Petrus Lombardus. Die bis ins Feinste führende Strenge formaler Analyse, die sich verästelnden Nuancen grammatikalisch-semantischen Ergründens in den Lesefertigkeiten mittelalterlicher Scholastiker sind heute nicht mehr Bestandteil allgemeiner oder eigentlich priviligierter Bildung. Wären sie das, so würde ein Großteil heutiger Semiotik und Grammatiktheorie als von jener früheren Phänomenologie und Methodologie extremer Genauigkeit abgeleitet erscheinen. Insbesondere erschiene uns der Götzendienst unserer Tage am Fetisch „Information“, an klassifikatorischer Logistik und Datenspeicherung als nahezu parodistische Erfüllung des im mittelalterlichen Geist angelegten enzyklopädischen Verlangens, des allesfresserischen Appetits auf eine summa, auf eine summa summarum der schriftlich festgehaltenen, glossierten und mit Fußnoten versehenen Welt.

Dieser Appetit führt im Verein mit dem Postulat einer vierfachen, aufsteigenden Stufenleiter des Verstehens vom Buchstäblichen und Moralischen bis hin zum Allegorischen und Anagogischen oder rein Spirituellen – eine Stufenleiter, ohne die der dramatische Aufbau von Dantes Commedia undenkbar gewesen wäre - zu unendlichem Kommentar. Scholastische und kirchliche Autoritäten waren sich dieses Dilemmas in aller Schärfe bewusst. Sie beobachteten, wie der geoffenbarte Text unter der Last ewig weiterwuchender Interpretationen, Paraphrase und glossierender Ausarbeitung zu leiden hatte. Tiefseetauscher berichten, dass von einer bestimmten Tiefe an das menschliche Hirn von der obsessiven Illusion ergriffen wird, natürliches Atmen sei wieder möglich. Wenn das geschieht, nimmt der Taucher seinen Helm ab und ertrinkt. Er ist trunken von einer tödlichen Verzückung, die le vertige des grandes profundeurs, „Schwindlichkeit in großen Tiefen“, genannt wird. Die Meister des scholastischen Lesens und Erläuterns kannten dieses Schwindelgefühl.

Daher denn auch die systematischen und gesetzgeberischen Versuche, sich auf eine Endlichkeit zu einigen. Das Primäre musste vor dem erstickenden Wachstum des Sekundären geschützt werden. Päpstliche und synodale Bemühungen wurden unternommen, um die wahre und immerwährende Bedeutung des Geoffenbarten festzulegen. Man beachte den radikalen Unterschied zwischen katholischer und judaischer Auffassung des biblischen Textes. Es gibt keine zeitliche Einmaligkeit, kein Änigma der Geschichtlichkeit („Warum an diesem bestimmten Ort, warum zu jener bestimmten Zeit?“) in der judaischen Sicht der Schöpfung und der mosaischen Entgegennahme und Weitergabe des Gesetzes. Es gibt eine strikte, äußerst mysterienhafte Zeitlichkeit in der Ankunft Christi und seiner geistlichen Aufgabe. Da beides auf diese Weise natürlich, wenn auch unerklärlich in die  wirkliche Zeit eingebettet ist, muss die Bedeutung dieser Ankunft, müssen die normativen Konsequenzen der Aussprüche Christi und der Schriften der Apostel nun einmal in der Ewigkeit stabilisiert werden. Die Thora ist mit allem individuellen und glaubensgemeinschaftlichen Leben unbestimmt synchron. Die Evangelien, die Episteln und die Glaubensakte sind das nicht.

Um zu Endlichkeiten der Bedeutung zu  gelangen, muss man unterbrechen, sind Punkte zu setzen. Man muss die krebsartige Vermehrung von Interpretationen und Neuinterpretationen zum Stillstand bringen. Die erläuternden und gesetzgeberischen Dekrete, die von Rom und den Wächtern über orthodoxe Lehre im Paris des Mittelalters verkündet wurden, die doktrinär-metaphysische Abgeschlossenheit der Summa des Thomas von Aquin lassen sich als eine Reihe von Versuchen ansehen, einen hermeneutischen „Endpunkt“ zu setzen. Ihrem Wesen nach proklamieren sie, dass der Primärtext dieses und das bedeuten kann, jenes aber nicht. Die Gleichungen, die rationales Verständnis und explikative Autorität ins Verhältnis zur Offenbarung setzen, sind komplex, aber letztlich lösbar. Dementsprechend lässt sich das Dogma als hermeneutische Punktsetzung definieren, als die Verkündigung eines semantischen Abschlusses. Orthodoxe Ewigkeit ist das genaue Gegenteil der Unendlichkeit interpretatorischer Revision und Kommentierung. Laut Glaube, Logik und Grammatikauffassung der Scholastik ist (wie später bei Hegel) Ewigkeit geführte Ordnung und geschlossene Form. Unendlichkeit ist satanisches Chaos.

Folglich lässt sich Häresie als „nicht endende Neudeutung“ und Neubewertung definieren. Die Häresie verwirft exegetische Endlichkeit. Kein Text fordert: ne varietur. Der Häretiker ist jemand, der den Diskurs ohne Ende fortsetzt. Seine Neuinterpretationen und Revisionen, seine neuen „Übersetzungen“ erzeugen selbst dort, wo sie sich aus strategischen Gründen zu einer Rückkehr zur authentischen Quelle bekennen, erzeugen selbst dort, wo sie versichern, sie würden das Verständnis des Primärtextes erleichtern und könnten den Bedürfnissen einer unstabilen Welt angemessener entsprechen, eine in die Breite führende Hermeneutik ohne Ende. Die römisch-katholische Warnung, dass Interpretation ohne Ende unausweichlich selbst dort, wo sie beansprucht, „fundamentalistisch“ zu sein und auf den Urtext zurückzuführen, zunächst in historische Kritik, dann in mehr oder weniger metaphorischen Deismus und schließlich in Agnostizismus übergeht, hat logisch und historisch gesehen, ihre Berechtigung. Sekundärer Diskurs ist, wo er ohne Endlichkeit auftritt, schismatisch.
 

Quelle: George Steiner, Von realer Gegenwart, Carl Hanser Verlag, München 1990, S. 61ff.
George Steiner, geboren 1929 in Paris, ist Professor für englische und
vergleichende Literaturwissenschaften, Schrifstellter und Philosoph.
Er gilt als einer der letzten großen Universalgelehrten unserer Zeit.


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