Themenheft online 2015: "Im Gehen entsteht der Weg. Impulse christlich-jüdischer Begegnung"
Das frührabbinische Judentum und das werdende Christentum - eine Zwillingsgeburt
Susanne Talabardon
1. Avant-Propos
Der folgende Essay versteht sich als ein Versuch, die Ergebnisse der neueren religions-historischen Forschung zu den Anfängen von Judentum und Christentum allgemein- verständlich zusammenzufassen. Aus diesem Grund wird auf einen umfänglichen Apparat an Fußnoten, wie auch auf Zitate in Originalsprachen verzichtet.
Anregungen zum Weiterlesen sowie Angaben zur Sekundärliteratur, auf die sich die Darstellung stützt, finden sich gebündelt am Ende dieser Ausführungen. Bei den angebotenen Zitaten aus Primärquellen wurde versucht, auf Übersetzungen zurückzugreifen, die im Internet verfügbar sind.
Für eine Darstellung der Prozesse, die letztendlich zu einer Differenzierung zwischen dem werdenden Judentum und Christentum führten, kommt es wesentlich darauf an, die sehr unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen, die den damaligen Akteuren und Beobachtern zu eigen waren. Je nachdem, ob es sich bei den von den Forscher/innen verwendeten Quellen um Texte von jüdischen Jesusanhängern, von Juden ohne Bezug zu Jesus von Nazareth, von nichtjüdischen Angehörigen oder Sympathisanten der Jesusbewegung, von Menschen innerhalb oder außerhalb Judäas oder Galiläas, von Nichtjuden ohne Bezug zur Jesusbewegung handelte, wandelt sich die Sicht auf die Dinge erheblich.
Hinzu kommt, dass jene Texte – das Neue Testament, die Schriften der Kirchenväter, die deuterokanonische Literatur[1], die frühen rabbinischen Werke, Briefe, philosophische Abhandlungen u.a.m. – ein nur fragmentarisches Bild jener aufregenden Jahrhunderte vermitteln können, in denen sich Judentum und Christentum in gegenseitiger Abgrenzung voneinander entfalteten. Alles, was die Wissenschaft zu diesem Thema sagen kann, ist daher hypothetisch und vorläufig.
2. Traditionelle Modelle der Abgrenzung von Judentum und Christentum
2.1. Traditionelle jüdische Perspektiven
Den rabbinischen Gelehrten[2], die sich ab dem 2. Jahrhundert zunächst als marginale Strömung innerhalb des werdenden Judentums formierten, präsentierte sich „das“ werdende Christentum keineswegs als eine einheitliche Gruppierung. Sie zeigten an den Auffassungen nichtjüdischer („heidenchristlicher“) Anhänger Jesu kein Interesse, wohl aber an den Überzeugungen der jüdischen („judenchristlichen“) Parteigänger des Nazareners.
Was die „Heiden“ glaubten oder dachten, war in den Augen der Rabbinen vollkommen deren Angelegenheit; ihre Kulte und Religionen fielen als „Avoda Sara“ (d.i. Fremd- oder Götzendienst) nicht in das Ressort rabbinischer Zuständigkeit. Nichtjuden waren kein Teil Israels und daher von der Verpflichtung auf die Tora ausgenommen. Was allerdings jüdische Anhänger Jesu glaubten oder taten, betraf die Gelehrten unmittelbar. Sie vertraten die Auffassung, dass es sich bei den Nazarenern um eine Form von Abweichung („Minut“) von dem von Mose vermittelten Weg der Gebote handelte. Zu den „Minim“ (Anhänger einer Minut) zählten neben den „Judenchristen“ auch jüdische Gnostiker, welche die Identität von Schöpfer- und Erlösergott leugneten.
Während die frühen rabbinischen Gelehrten also den „Heidenchristen“ gegenüber so etwas wie gleichgültige Duldsamkeit an den Tag legten, rieten sie dazu, allzu intensiven Kontakt mit den jüdischen Jesusanhängern zu vermeiden. Diese sollten keine Gelegenheit erhalten, ihre Lehren zu verbreiten.
In den Augen der Rabbinen bildete ihre eigene Interpretation und Aktualisierung der Gebote der Tora, wie sie zuerst in der Mischna (Ende des 2. Jh.) zusammengefasst wurde, die einzig legitime Weiterführung der Traditionen Alt-Israels.
Die Art und Weise, wie die Rabbinen die werdende christlichen Kirche wahrnahmen, wandelte sich indessen Jahrhunderte später, vermutlich auch unter dem Eindruck der Herrschaft Konstantins und seiner Nachfolger. Der Babylonische Talmud (6./7. Jh.) repräsentiert(e) möglicherweise wesentlich offensivere Formen der rabbinischen Auseinandersetzung mit „den Christen“. Deren genauer Umfang ist jedoch im Detail schwer zu bestimmen, da die literarische Gestalt der talmudischen Polemik eindeutige Identifizierungen meist nicht zulässt. Zudem wurde der Talmud im Mittelalter schweren Zensurmaßnahmen unterworfen, die sich gerade gegen dessen vermeintlich antichristliche Äußerungen richteten.
Ein typisches Beispiel für die Polemik des babylonischen Talmud gegen frühchristliche Lehren, in diesem Fall mit indirektem Bezug auf Mt 5,13, liefert bBekhorot 8b. Rabbi Jehoschu‘a ben Chananja begibt sich in das Athenäum [in Rom], um vorgeblich von den dortigen Weisen zu lernen. Es entspinnt sich eine Art Wettkampf, bei dem die Weisen dem Rabbi Aufgaben und Fangfragen vorlegen, die Jehoschu‘a jeweils souverän pariert.
Sie [die nichtjüdischen Weisen] sagten zu ihm [Rabbi Jehoschu’a]: Erzähle uns eine fiktionale Geschichte! Sagte er ihnen: Da gab es jenes Maultier, das geboren hatte. Es hatte einen Zettel um den Hals zu hängen, auf dem stand geschrieben: Es gibt eine Forderung gegen das Haus meines Vaters [in Höhe von] hunderttausend Zuz. Sagten sie ihm: Wie soll denn ein Maultier gebären? Sagte er ihnen: Das ist doch eine fiktionale Geschichte! [Sie fragten ihn:] Salz, welches schwach geworden ist – womit soll man es salzen? Sagte er ihnen: Mit der Nachgeburt eines Maultiers. [Fragten sie:] Gibt es etwa eine Nachgeburt eines Maultiers?! – Und Salz, kann es schwach werden?! (bBekhorot 8b)
Natürlich könnte man den kleinen Dialog als dasjenige nehmen, was er auf der Textoberfläche ist: Ein Wettstreit um pfiffige Reaktionen auf absurde Ansinnen. Das Bild vom Salz, das seinen Geschmack verloren hat und nur noch dazu taugt, herausgeworfen und zertreten zu werden (Mt 5,13), ist jedoch ziemlich prägnant. Schließlich wurde es zumeist auf das „alte“ Volk des Bundes, auf Israel, bezogen, das „schwach geworden“ und deshalb durch das neue „Salz der Erde“ ersetzt werden musste. Der Talmud fragt nun (mit gewisser Berechtigung): Ja, geht denn das? Kann das Salz (des Alten Bundes) seine Kraft verlieren? Sicher, lautet die bissige Antwort: Leute, die an die Gebärfähigkeit eines Maultiers glauben, könnten auch die Entsalzung von Salz für möglich halten. Noch sardonischer wirkt die Passage, wenn man davon ausgeht (wofür einiges spricht)[3], dass das unverhofft fruchtbare Tier als Chiffre für die Jungfrau steht, die nach menschlichem Ermessen auch nicht zum Hervorbringen von Kindern taugt. Menschen, die absurden fiktionalen Geschichten aufsitzen, ist nicht zu helfen.
2.2. Traditionelle christliche Perspektiven
Für die frühen „christlichen“ Autoren war die Frage, wer als rechtmäßiger Interpret der (biblischen) Traditionen Alt-Israels gelten konnte, ebenso klar wie sie es für die Rabbinen war: Die werdende Christenheit erklärte sich zur einzig legitimen Erbin der Hebräischen Bibel. Sie war das „Neue Israel“; sie war als Partnerin des „Neuen Bundes“ mit dem Gott Israels verbunden und verdrängte das jüdische Volk, das „Alte Israel“, aus seiner einzigartigen Beziehung zum Ewigen.
Das auf dem Horeb gegebene Gesetz ist bereits veraltet und gehört euch allein, das unsere aber ist für alle Menschen überhaupt. Ist aber ein Gesetz gegen ein anderes aufgestellt, so abrogiert es das frühere, und ein späteres Bündnis hebt in gleicher Weise das frühere auf. Als ewiges und endgültiges Gesetz ist uns Christus gegeben, und verlassen können wir uns auf den Bund, dem kein Gesetz, keine Verordnung, kein Gebot folgt. […] Das wahre, geistige Israel nämlich und die Nachkommen Judas, Jakobs, Isaaks und Abrahams, der trotz seiner Vorhaut, infolge seines Glaubens, von Gott sein Zeugnis erhielt, von ihm gesegnet und zum Vater vieler Völker ernannt wurde, das sind wir, die wir durch diesen gekreuzigten Christus zu Gott geführt wurden, wie sich noch im Laufe des weiteren Gespräches zeigen wird.[4]
Diese theologische Auffassung bezeichnet man in der Forschung als „Substitutionstheorie“. Im Grunde dominierte diese Sicht auf die Dinge sowohl die christliche Theologie, als auch die theologisch inspirierte religionshistorische Perspektive bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Wie in der rabbinischen Sicht gewissermaßen eine direkte Linie von der Tora Moses bis zu Mischna und Talmud führt, so sah sich die werdende Kirche in völliger Kontinuität zu „Mose“; das als überlebt interpretierte Judentum repräsentierte demgegenüber eine „Häresie“ – eine Irrlehre.
2.3. Traditionelle pagane („heidnische“) Perspektiven
Vielen paganen Außenbeobachtern, wie beispielsweise dem Philosophen Kelsos (Celsus; Ende des 2. Jh.), fehlte für diese heftigen Abgrenzungsprozesse zwischen „Juden“ und „Christen“ jegliches Verständnis. Wenn überhaupt Unterschiede zwischen beiden wahrgenommen wurden (was längst nicht immer der Fall war), dann präsentierte sich das werdende Christentum als ein merkwürdig verdrehtes Judentum. Meistens nahm man beide Gemeinschaften als Konglomerat eines orientalischen Kultes wahr, der entweder als (synkretistisch) attraktiv oder als gefährlich bzw. absurd empfunden wurde.
Wir wollen nun bedenken, was er den gläubig gewordenen Juden zu sagen hat. Er behauptet: "dass sie, verführt von Jesus, ihr von den Vätern ererbtes Gesetz verlassen hätten und in ganz lächerlicher Weise betrogen worden wären und zu einem andern Namen und zu einem andern Leben übergelaufen seien" , wobei er nicht einmal dies bedenkt, dass die zum Glauben an Jesus bekehrten Juden "ihr von den Vätern ererbtes Gesetz" gar nicht "verlassen haben". Denn sie leben nach dessen Vorschriften und haben auch von der Armut des Gesetzes, die dann vorhanden ist, wenn man es versteht, ihren Namen erhalten.[…] Hätte Celsus dies alles gewußt, so hätte er seinen Juden nicht diese Worte "zu den Bekehrten aus dem Judentume sprechen lassen; "Was ist euch widerfahren, ihr Bürger, dass ihr das von den Vätern ererbte Gesetz verlassen habt und von jenem, mit dem wir uns eben unterredet haben, verlockt, in ganz lächerlicher Weise betrogen worden, und von uns zu einem andern Namen und zu einem andern Leben übergelaufen seid?[5]
Es zeigt sich, dass die zeitgenössischen Autoren eine jeweils höchst eigene Sicht auf die Entwicklung der beiden Gruppierungen propagierten, die sich in der Regel nicht durch Feinfühligkeit und ‚Objektivität‘ auszeichnete. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Rabbinen und ihren ‚christlichen‘ Gegenspielern bestand darin, dass Erstere prinzipiell kein Interesse an nichtjüdischen Anhängern zeigten: Was die Heiden glaubten und praktizierten, war vollständig deren Angelegenheit. Nichtjuden wurden nicht missioniert. Ganz anders verhielt sich das werdende Christentum. Es entwickelte sich zu einer universal ausgerichteten Strömung, die alle Menschen erreichen und bekehren wollte.
Für die spätantike Welt implizierte diese Weichenstellung nichts weniger als eine Revolution. Vor der universalen Ausrichtung des werdenden Christentums gab es im Wesentlichen zwei Arten von ‚Religionen‘ (besser: Kulten): Zum einen wurden die Götter im traditionellen Rahmen der eigenen Ethnie, der eigenen Stadt bzw. der eigenen Kultur gepflegt.[6] Man wurde also in eine ‚Religion‘ hineingeboren, die man aufgrund der familiären Bindung und der politisch-sozialen Loyalität zu seinem Wohnumfeld selbstverständlich praktizierte. Zum anderen existierten zahlreiche überregionale ‚Religionen‘, wie zum Beispiel die sog. Mysterienkulte (zum Beispiel der Mithras- oder der Isiskult). Diese konnte man aus persönlicher Neigung, gewissermaßen privat, der heimatlichen öffentlichen ‚Religion‘ hinzufügen. Im Ergebnis entstanden zahlreiche Synkretismen – Mischformen und Verschmelzungen regionaler und überregionaler Kulte oder individuelle Kombinationen aus privater und öffentlicher religiöser Praxis.
Im Unterschied zum ‚Judentum‘, das sich als ethnisch ausgerichtete ‚Religion‘ beinahe nahtlos in den spätantiken Kontext fügte, brach das werdende Christentum mit vielen dieser Jahrhunderte alten Konventionen: Es ließ sich gerade nicht auf ethnische Begrenzungen ein, es verweigerte jedweden Synkretismus und nahm für sich die ‚jüdischen‘ Privilegien in Anspruch, nicht am üblichen Herrscherkult teilzuhaben. Um die teilweise harschen Reaktionen der Umwelt auf diesen neu entstehenden ‚Kult‘ zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass das werdende Christentum im Grunde jede der bewährten und alten Konventionen kultischer Sozialisation in Frage stellte.[7]
2.4. Exkurs: Paulus
Wie kam es dazu? Wie konnte sich eine kleine Gruppe jüdischer Jesusanhänger zu einer universal missionierenden Strömung entwickeln? Eine erste Weichenstellung, die letztlich in die beschriebene Revolution mündete, vollzog sich schon recht früh. Man sieht sie bereits im theologischen Konzept des Paulus (starb ca. 65), dem die Christenheit die ältesten Stellungnahmen zum Wirken Jesu verdankt.
Im Folgenden wird versucht, quasi im Telegrammstil, eine Sicht auf den ältesten Autor des Neuen Testament zu entwickeln, die ihn bewusst im Kontext der beschriebenen ‚kultischen Revolution‘ verortet.[8] In Teilen der neutestamentlichen Wissenschaft hat sich die Auffassung durchgesetzt, Paulus als einen jüdischen Denker zu beschreiben. Wie sich zeigen wird, kann diese Perspektive tatsächlich dazu verhelfen, sein Anliegen und seine Aktivitäten besser zu verstehen.
Paulus, der mit seinem jüdischen Traditionsnamen Scha’ul (Saul) hieß, wurde in eine griechisch sprachige Familie in Tarsus hineingeboren. Es hat den Anschein, als habe er eine sorgfältige jüdische Ausbildung erfahren. Er kannte die Bibel, verstand sich auf jüdische Interpretationstechniken und beherrschte wohl auch die hebräische Sprache. In einem seiner autobiographischen Zeugnisse (Gal 1,13-14) bezeichnet er sich selbst als Traditionalisten und radikalen Eiferer für die Tora, der die frühe Jesusbewegung als gefährlich einstufte und verfolgte.
An einem bestimmten Zeitpunkt erfuhr er eine Vision des auferstandenen Christus (1 Kor 15,8-9).[9] Dies Ereignis sollte zu seiner ultimativen Lebenswende werden. Für Paulus, den traditionell ausgebildeten Juden, konnte die Gewissheit, dass Jesus von Nazareth von den Toten auferweckt worden war, nur eines bedeuten: Die Endzeit war angebrochen, die Auferstehung aller Toten und das Jüngste Gericht stand unmittelbar bevor.
Nun galt es zu reagieren. Etliche prophetische Texte der Bibel setzen voraus, dass „am Ende der Tage“ auch die Weltvölker ihre Ablehnung des Gottes Israels aufgeben und zum Zion pilgern werden:
Am Ende der Tage wird es geschehen:/ Gegründet steht der Berg mit dem Haus des Ewigen /als höchster der Berge/ überragt er die Hügel. /Es strömen zu ihm / alle Völker. / es gehen viele Nationen und sagen: / Auf, lasst uns zum Berg des Ewigen hinaufziehen, / zum Haus des Gottes Jakobs. / Er lehre uns Seine Wege, / auf Seinen Pfaden wollen wir gehen. / Denn von Zion zieht Weisung [Tora] aus, /und das Wort des Ewigen aus Jerusalem./ Er richtet unter den Völkern, / weist viele Nationen zurecht./ Dann schmieden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen / und ihre Lanzen zu Winzermessern./ Kein Volk erhebt mehr/ gegen Volk ein Schwert. /Und man lernt nicht mehr den Krieg. (Jes 2,2-4)
Für Paulus (wie übrigens auch für andere jüdische Denker zu anderen Zeiten) war klar, dass der Anbruch der Endzeit einen Paradigmenwechsel im Verhalten gegenüber den Nichtjuden bedeutete: Sie mussten jetzt so schnell wie möglich zum Gott Israels bekehrt werden, damit der Alte Äon so bald wie möglich an sein Ende kam und das eschatologische Friedensreich anbrechen konnte. So erklärt sich die fiebrige Hast, mit der Paulus von Stadt zu Stadt eilte, um möglichst vielen Heiden „sein Evangelium“, seine Variante der Frohen Botschaft zu überbringen, die davon handelte, dass ein erster Mensch vom Tode erweckt worden war:
Ich erinnere euch aber, Brüder, der frohen Botschaft [des Evangeliums], die ich euch gefrohbotschaftet habe, die ihr auch angenommen habt […]: Ich habe euch nämlich zuerst überliefert, was auch ich empfangen habe: dass Christus gestorben ist für unsere Sünden entsprechend der Schriften und dass er begraben wurde und dass er am dritten Tage auferweckt wurde entsprechend der Schriften und dass er gesehen wurde von Kephas und danach von den Zwölf. (1Kor 15,1.3-5)
Für Paulus war es ziemlich unwichtig, wie genau Jesus gelebt oder was er gelehrt hatte. Entscheidend für ihn war die Tatsache, dass ein Mensch (sündlos) gelebt hatte und tatsächlich gestorben war (schließlich wurde er ja begraben) und dass dieser selbe Mensch auferweckt wurde (schließlich wurde er von Kephas/Petrus und vielen anderen gesehen, darunter als letztem auch von Paulus). Damit war die Endzeit zweifelsfrei angebrochen.
Der übliche Weg, die Nichtjuden zum Gott Israels zu bekehren, erforderte eine sorgfältige Instruktion in den jüdischen Traditionen, sodann mussten sich die Männer der Beschneidung unterziehen. Eben dieses Verfahren wurde auch von (fast) allen anderen Aposteln der frühen Jesusbewegung propagiert, die wie Paulus der Meinung waren, die Endzeit sei nun angebrochen, weswegen man die Heiden nun zum Zion bringen müsse.
Paulus war völlig anderer Auffassung. Ihm drängte die Zeit so sehr, dass er sozusagen ein vereinfachtes Verfahren vorschlug, um den Heiden den Eintritt in das „alte“ (!) Gottesvolk zu ermöglichen. Die theologische Konstruktion, die diesen „Noteingang“ begründen sollte, bezeichnet man als Rechtfertigungslehre. Paulus zufolge hatten sowohl Juden (durch die Gebote der Tora), als auch Heiden (durch die wohlgeordnete Schöpfung) Kenntnis vom Willen des Ewigen. Wer diesen aber ignorierte oder ihm nicht entsprechen konnte, würde sich im Endgericht die Todesstrafe zuziehen. Jesus hatte nun – trotz seines sündlosen Lebens – den Kreuzestod erleiden müssen. Dies konnte man sich nur in der Weise erklären, dass er diese Strafe gewissermaßen freiwillig und stellvertretend für alle anderen auf sich genommen hatte („stellvertretender Sühnetod“). Paulus meinte nun, dass sich Nichtjuden auf diese durch Jesus bereits vorweg genommene Todesstrafe glaubend berufen könnten. Dies müssten sie durch die Taufe dokumentieren, wodurch sie durch den Heiligen Geist zu einer „neuen Kreatur“ würden und deshalb die Gebote der Tora einhalten könnten. Auf diese Weise sollten die Heiden auch ohne langwierige Belehrung und Beschneidung zu Mitgliedern des Volkes Israel werden.
Für die Juden galt dieses Verfahren übrigens nicht. Sie waren ja bereits Teil des Gottesvolkes und glaubten schon an den Ewigen Israels und waren außerdem durch die Beschneidung auf die Einhaltung der Gebote der Tora verpflichtet. Allerdings wurde Paulus nicht müde zu betonen, dass der Zugang zu Israel durch die Taufe keineswegs eine Mitgliedschaft „zweiter Klasse“ implizierte. Niemand, weder Jude noch Heide, hätte qua Abstammung, wegen seiner Beschneidung oder aufgrund seiner Unbeschnittenheit irgendeinen Vorzug vor dem anderen.
Der Universalismus der werdenden Christenheit verdankte sich also der Überzeugung, dass durch die Auferweckung Jesu die Endzeit angebrochen war und dass nun ein/e jede/r zum Einen Gott (Israels) bekehrt werden müsse. Der von Paulus sehr erfolgreich propagierte Sonderweg für die Heiden, dessen komplizierte theologische Begründung übrigens schon in der Generation nach ihm nicht mehr wirklich verstanden wurde, führte zu großen missionarischen Erfolgen des werdenden Christentums gerade unter Nichtjuden. In manchen („heidenchristlich“ dominierten) Gemeinden hatte der Verzicht auf die Unterweisung und die Beschneidung allerdings auf lange Sicht den Nebeneffekt, dass sie sich von der jüdischen Tradition zunehmend entfremdeten bzw. diese gar nicht erst kennenlernten.
3. Wissenschaftliche Perspektiven
Wendet man sich den wissenschaftlichen Modellen zu, die zur Beschreibung der Entwicklung des frühen Judentums bzw. des werdenden Christentums entwickelt wurden, so macht man zunächst die bestürzende Beobachtung, dass diese Konzepte hochgradig von den jeweils herrschenden theologischen Vorgaben abhängig sind. Mit der „Objektivität“ der Wissenschaft ist es eben nicht so weit her – was keineswegs nur für die Theologie gilt. Eigentlich wäre ja denn auch das Gegenteil erstaunlich: Wenn es nämlich den Forscher/innen gelänge, sich in ihrem Urteil von den Paradigmata ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Kontexte gänzlich unabhängig zu halten.
3.1. Frühjudentum als „Spätjudentum“ – Verkappte Substitutionslehre
Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts (und bei manchen christlichen Gelehrten noch darüber hinaus) importierte eine Mehrheit der Wissenschaftler/innen die Substitutionslehre in ihre Darstellungen der Vorgänge im ersten und zweiten Jahrhundert. Als besonders entlarvend erscheint in diesem Zusammenhang der Begriff „Spätjudentum“, der tatsächlich für das werdende Judentum der ersten Jahrhunderte (!) zum Einsatz kommt.
Diesem Terminus liegt die Überzeugung zugrunde, dass sich die Entwicklung der ‚Religion‘ Alt-Israels in mehreren Etappen gewissermaßen konsequent auf Jesus von Nazareth hin vollzog. Auf die „Religion des Moses“, repräsentiert durch die Tora, folgte nämlich (jenem Modell gemäß) die „Religion der Propheten“. Diese stellte gegenüber ‚mosaischen‘ Entwicklungsstufe, die eher archaischen Vergeltungsmechanismen verpflichtet war, einen wesentlichen Fortschritt dar. Den Neuansätzen der „zwischentestamentarischen Zeit“, in der apokalyptische Konzepte und mit ihnen die Vorstellung von Auferstehung und eines Lebens nach dem Tode entstanden, folgte die Zeit Jesu und, parallel dazu, eben das „Spätjudentum“.
Der Begriff impliziert, es mit einem absterbenden Phänomen zu tun zu bekommen, das sich – eben wegen des zeitgleichen Auftretens Jesu – eigentlich schon von selbst erledigt hatte. Erstaunlich nur, dass diejenigen Autor/innen, die jenen Begriff im 20. Jahrhundert immer noch verwendeten, es inzwischen mit fast zwei Jahrtausenden „Spätjudentum“ zu tun gehabt hatten.
3.2. „Parting of The Ways“ – Das Modell der „getrennten Wege“
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde das beschriebene Stufenmodell von der Überzeugung abgelöst, Judentum und Christentum wären zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung einfach „getrennte Wege“ gegangen („parting of the Ways“). Dabei wurde grundsätzlich vorausgesetzt, das ‚Christentum‘ hätte sich vom bereits bestehenden ‚Judentum‘ abgegrenzt. Das gegenseitige Verhältnis könnte man demzufolge als Mutter-und Tochter-Religionen beschreiben.[10]
Recht unterschiedlich wurden allerdings die Einsatzpunkte jener Trennung datiert. Manche sahen bereits in Jesus von Nazareth den „Begründer des Christentums“, da er es mit der Einhaltung mancher Gebote nicht so genau genommen und überdies eine den Heiden gegenüber aufgeschlossene Haltung an den Tag gelegt hätte. Andere erkoren Paulus zum „Religionsstifter“: Jesus habe als Jude gelebt und sei als Jude gestorben; bei seinem Tod wäre von einer Hinwendung zu Nichtjuden gar nichts zu sehen gewesen. Der Apostel aus Tarsus hätte indessen mit seiner Heidenmission ohne Beschneidung einen tiefen Keil zwischen die Anhänger Jesu und das jüdische Volk getrieben.
Demgegenüber datieren wieder andere das Trennungsdatum noch später. Die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Gefolge des Großen Jüdischen Aufstandes (66-70) sei für die Trennung der Wege verantwortlich zu machen. Für beide Gemeinschaften wäre eine tief greifende Neuorientierung erforderlich gewesen, die letztlich gravierende Unterschiede zwischen beiden generiert hätte. Vielleicht aber muss das ‚parting of the ways‘ noch später angesetzt werden – etwa in die Zeit des Bar-Kochba-Aufstandes (132-135). Immerhin berichtet Justin Martyr (ca. 100-165) in seiner Apologie (I,31), die Juden hätten die Christen verfolgt, weil sie an besagtem Aufstand nicht teilnehmen wollten. Eine Aufforderung zum Mitkämpfen wäre aber nur dann sinnvoll gewesen, wenn es noch nicht zu einer Trennung zwischen beiden gekommen wäre…
3.3. „Wave-Theory“ – oder: Alles ist ein wenig komplexer
Die Probleme einer solchen „Trennung der Wege“ treten bei genauerem Hinsehen schnell zutage: Komplexe und diffuse Gebilde wie (religiöse) Strömungen, die sich aus vielen einzelnen Gruppen in unterschiedlichen Regionen zusammensetzen, sind keine Straßen, die sich mal eben gabeln können. Jede Art von ‚parting of the ways‘ setzt jedoch voraus, dass es sich bei ‚Judentum‘ und ‚Christentum‘ jeweils um homogene Größen handelt.
Weiterhin erweist es sich als problematisch, dass die Wissenschaft ihren Denkmodellen allzu oft einen modernen Begriff von Religion (etwa im Sinne von „Konfession“) zugrunde legt. Dieser lässt sich jedoch auf die spätantiken Verhältnisse nicht übertragen. Die ‚Kulte‘ der ersten Jahrhunderte erfüllten eine ganze Reihe von öffentlichen Funktionen, die den ‚Religionen‘ Europas nach den Konfessionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts mit guten Gründen entzogen wurden. Sie waren keineswegs von theoretischen Lehrgebäuden (Theologien) geprägte Vereinigungen, die sich um die spirituellen Anliegen ihrer Mitglieder zu sorgen hatten.
So ist es durchaus nicht plausibel, die Lehrmeinung eines bestimmten Gelehrten, zum Beispiel des nordafrikanischen Theologen Tertullian (um 150-220), für besonders repräsentativ zu halten. Niemand vermag genau zu sagen, ob und, wenn ja, wie sehr die überlieferten Schriften der spätantiken Autoren die Bevölkerung erreichten. Immerhin konnten die weitaus meisten Menschen nicht lesen und schreiben; Handschriften waren zumeist teuer und daher in ihrer Reichweite begrenzt. Mit Sicherheit haben Predigten, öffentliche Reden und Debatten sowie mündlich tradierte Erzählungen einen weitaus größeren Eindruck hinterlassen – leider sind diese wiederum selten im Nachhinein aufgeschrieben worden.
Wer also versucht, die Anfänge von Judentum und Christentum auf der Basis der tradierten Texte zu rekonstruieren, muss vorsichtig sein: Es ist gut möglich, dass manche Äußerungen, die aufgrund des gegenwärtig vorliegenden Bildausschnittes repräsentativ erscheinen, es tatsächlich gar nicht waren. Die Konsequenz kann nur lauten, sämtliche Vorgänge für komplexer und diffuser zu halten, als sie auf den ersten Blick erscheinen.
Diesem Anliegen versucht die gegenwärtige Forschung dadurch zu entsprechen, dass sie die Grenzen zwischen den beiden werdenden ‚Religionen‘ durchlässig denkt.[11] Impulse und Innovationen – etwa platonische Konzepte oder magische Techniken – wurden aus der Umwelt aufgenommen und parallel verarbeitet. Ebenso beeinflussten sich die beiden permanent gegenseitig; die Abgrenzungsprozesse vollzogen sich eher osmotisch als hermetisch.
Daniel Boyarin, einer der Exponenten dieses Paradigmenwechsels, hat vorgeschlagen, sich „das Judentum und das Christentum des zweiten und dritten Jahrhunderts als Markierungspunkte auf einer Skala“ zu denken,[12] die von der völligen Ablehnung der Hebräischen Bibel (und mit ihr der gemeinsamen Wurzel von Juden und Christen) durch die Marcioniten bis zur völligen Ablehnung Jesu durch manche jüdische Gruppen reicht. Zwischen diesen beiden Extremen existierten jedoch vielerlei Zwischenstufen, bei denen der Grad gegenseitiger Abgrenzung weit weniger deutlich war. Diese Perspektive bezeichnet Boyarin – unter Rückgriff auf linguistische Theoriebildungen – als Wave-Theory (Wellentheorie).
Aus der Grundannahme eines breiten Spektrums mehr oder weniger interferierender judäo-christlicher Strömungen ergibt sich zum einen, dass mit sehr viel längeren Entwicklungs- und Trennungsprozessen zu rechnen ist, als es ältere Perspektiven suggerieren. Zum anderen muss wohl davon ausgegangen werden, dass sich die Ausprägung distinkter ‚jüdischer‘ und ‚christlicher‘ Identitäten in den verschiedenen Siedlungsräumen und Kulturkreisen in jeweils eigener Weise und zu unterschiedlichen Zeiten vollzog.
Ein gutes Beispiel für die Komplexität dieser Vorgänge bildet Antiochia. Als eine der größten Metropolen des Imperium Romanum verfügte die Stadt sowohl über vitale jüdische, wie auch bedeutende christliche Gemeinschaften. In Antiochia wirkte von etwa 381 bis 397 Johannes Chrysostomus (344/349-407), der seinen griechischen Beinamen („Goldmund“) außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten verdankte. In die Geschichte der jüdisch-christlichen Beziehungen ging er als einer derjenigen ein, der sich in seinen Predigten heftigster und wahrlich übler Invektiven gegen das jüdische Volk befleißigte. Tatsächlich bestand sein Problem darin, dass seine „christliche“ Gemeinde, die Hörer/innen seiner Predigten, nichts dabei fanden, am Schabbat in die Synagoge und am Sonntag in die Kirche zu gehen. Sie feierten jüdische und christliche Feste gleichermaßen – weil sie die ‚Grenze‘ zwischen den beiden Gemeinschaften nicht als ausschließend wahrnahmen. Sehr zum Ärger des Predigers Chrysostomus.
4. Rekonstruktion: Der lange Weg zur eigenen Identität
Dennoch braucht die Komplexität eines Prozesses niemanden davon abhalten, sich nicht an einer Darstellung der langwierigen Identitätsfindung zu versuchen. Auch in diesem Fall muss eine grobe Skizze genügen, wie sie im Rahmen eines Essays möglich ist.
Das jüdische Volk (und in ihm etliche Jesusanhänger) erlebten die ersten Jahrhunderte als geprägt von schweren militärischen Katastrophen. Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg wurde das Heilige Land von 66-70 (73) vom Großen Jüdischen Aufstand erschüttert, der für alle Bewohner – unabhängig welcher Ethnie und kultischer Zugehörigkeit – gravierende Konsequenzen hatte. Von 132 bis 135 tobte erneut ein blutiger Krieg im Lande. Dieses Mal vollzog sich das Kampfgeschehen wohl kleinräumiger, deswegen aber nicht minder heftig. In der Folgezeit kam es im gesamten Imperium zu jeweils massiven Restriktionen der Römer gegen das jüdische Volk, das beispielsweise mit einer Sondersteuer, dem fiscus iudaicus, belegt wurde.
In den Jahren zwischen den beiden antirömischen Aufständen im Heiligen Land (ca. 114-117) rebellierten jüdische Gemeinschaften in der Diaspora, so in Ägypten und der Kyrenaika, auf Zypern und möglicher Weise in „Babylon“ (Mesopotamien). In der Folge gingen einst blühende und bedeutende jüdische Gemeinden (wie die Alexandrias) unter; manche von ihnen für sehr lange Zeit.
Im Umfeld Palästinas erfuhr das jüdische Leben schwere Beeinträchtigungen. Es scheint, dass viele Juden in den Jahrzehnten nach den Aufständen versuchten, in größtmöglicher Anpassung an die herrschende Kultur zu überleben. Mindestens deuten archäologische Befunde darauf hin, dass es im späten 2. Jahrhundert zu einer massiven Abkehr von den „väterlichen Traditionen“ in vielen jüdischen Städten Palästinas kam.[13] Eine kleine Anzahl von Gelehrten bemühte sich jedoch, ebendiese „väterlichen Traditionen“ zu erhalten, zu lehren, zu aktualisieren und im Alltag zu leben. Aus diesen marginalen, informell organisierten Gruppen entwickelte sich das sog. rabbinische Judentum, das zunehmenden Einfluss gewann und etwa ab dem 6. Jahrhundert die Führung des Volkes übernehmen sollte.
Zur gleichen Zeit prosperierten jüdische Gemeinden in anderen Teilen des Imperiums. Auch (zunehmend) ‚heidenchristliche‘ Gemeinschaften außerhalb Palästinas nahmen, trotz sporadischer lokaler Verfolgungen, an Bedeutung zu. Es ist wohl davon auszugehen, dass die rabbinische Lesart der „väterlichen Traditionen“, die recht eigentlich erst das „klassische Judentum“ ausprägen sollte, in jüdischen Gemeinden weiter Teile des Römischen Reiches unbekannt war bzw. keinen nennenswerten Einfluss hatte.
4. 1. Die „Konstantinische Wende“
Die politischen Reformen Kaiser Konstantins (272/3-337) mündeten in einem (weiteren) Versuch, die Einheit des auseinander driftenden Imperiums durch kultische Reformen zu befördern. Im Jahre 313 promulgierten er und sein Mitkaiser Licinius die „Mailänder Vereinbarung“, die es den Bewohnern des Reiches – unter ihnen ausdrücklich auch den Christen – gestattete, einer religio ihrer Wahl anzuhängen. Die Aufwertung des Christentums zu einer „Staatsreligion“ war damit nicht impliziert, auch wenn Konstantin in den folgenden Jahren christliche Institutionen und Personen ausdrücklich förderte.
Die erheblichen Konsequenzen, die sich aus den konstantinischen Reformen für das werdende Christentum ergaben, sind hinlänglich bekannt. Im Folgenden soll es deshalb vor allem darum gehen, welche Auswirkungen diese für das werdende Judentum und für das gegenseitige Verhältnis zeitigten.
Die Privilegierung des Christentums brachte zunächst keine reale Verschlechterung der jüdischen Belange mit sich; es kam – im Gegenteil – zunächst zu einem Aufschwung jüdischen Lebens gerade in Palästina. Die Reformen Konstantins beinhalteten nämlich unter anderem eine Stärkung kultureller Selbstverwaltung, wovon reger Gebrauch gemacht wurde. Vermutlich kam es (erst jetzt) zur Ausprägung derjenigen Institutionen, die in der klassischen Literatur bereits mit den Anfängen der rabbinischen Bewegung in Verbindung gebracht wurden: zu einem Repräsentanten (Nassí) der palästinischen Judenheit, der zumeist etwas unglücklich als „Patriarch“ bezeichnet wird, zu den Anfängen rabbinischer Rechtsprechung und eines (wie auch immer gearteten) Schulwesens.
Auf der anderen Seite leitete die Herrschaft Konstantins auch eine paradoxe Entwicklung ein, in deren Verlauf Palästina stärker in den Mittelpunkt des christlichen Interesses rückte. Bis zu jener Zeit hatte das Heilige Land für das werdende Christentum eine erstaunlich geringe Rolle gespielt. Nach dem Untergang der Jerusalemer ‚Urgemeinde‘ im Jahre 70 befanden sich die (demographischen und ideellen) Zentren christlichen Labens durchweg außerhalb Palästinas. Die Stätten des historischen Jesus fanden nach 135 kaum mehr Aufmerksamkeit. Konstantins Mutter Helena (248/50-330) leitete durch ihren Besuch im Heiligen Land eine durchgreifende Änderung ein. Der Legende nach soll sie am Ort der späteren Grabeskirche das Kreuz Christi aufgefunden haben; neben der Grabeskirche gehen auch die Geburtskirche zu Bethlehem und ein Bau auf dem Ölberg auf ihre Initiative zurück.
Diese Aktivitäten führten zu einer deutlich zunehmenden christlichen Präsenz im Heiligen Land. Pilger bereisten es, um die Stätten der Patriarchen und Propheten (!) zu besichtigen; manche von ihnen ließen sich dauerhaft dort nieder. Weitere Kirchen wurden gebaut – wie zum Beispiel die prachtvolle Marienkirche („Nea“) im Cardo zu Jerusalem durch Kaiser Justinian I. (482-565). All dies führte dazu, das sich die jüdische Bevölkerung des Heiligen Landes auf paradoxe Art und Weise mit den eigenen Traditionen konfrontiert sah: Beriefen sich doch die überwiegend heidnischen Anhänger Jesu auf biblische Erzählungen, suchten die Gräber Abrahams, Isaaks und Jakobs auf und behaupteten gleichzeitig, „die Juden“ würden ihr eigenes jahrhundertelanges Erbe falsch verstehen, weil sie in der Bibel keine Hinweise auf Jesus zu entdecken vermochten.
Diese Faktoren, der Aufschwung jüdischer Selbstverwaltung begünstigt durch die konstantinischen Reformen sowie die deutlich erhöhte christliche Präsenz im Heiligen Land, führten zu einer Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen innerhalb der jüdischen Bevölkerung Palästinas. Jene Entwicklung manifestierte sich in einem deutlich zunehmenden Bau von Synagogen in Galiläa, der dem Errichten von Kirchen gewissermaßen parallel läuft. Zum anderen nahm im 4. und 5. Jahrhundert die Produktion von rabbinischen Schriften (mindestens derer, die bis auf den heutigen Tag erhalten sind) einen klaren Aufschwung. Es entstanden Texte zur Aktualisierung der Bibel (Midraschim) und ein bedeutender Kommentar zur Mischna (der palästinische oder Jerusalemer Talmud).
4.2. Die Epoche nach Konstantin
Der Prozess der forcierten Selbstdefinition des Judentums wurde in der Epoche nach Konstantin durch zahlreiche Edikte und Gesetze der nunmehr zumeist christlichen Kaiser gestützt und erzwungen, die ‚das Judentum‘ als eine Sondergruppe innerhalb des Imperiums definierten und diskriminierten. Allein zwischen 337 (Tod Konstantins) und 408/423 (Tod des Arcadius/Honorius) wurden fünfzig (!) die Juden betreffende Gesetze promulgiert. Insbesondere nach dem Jahr 380 geriet das Judentum sukzessive juristisch unter Druck: Es wurden Konversionsverbote erlassen, der Besitz christlicher Sklaven, das Eingehen Mischehen wurde untersagt (388). Ab dem frühem 5. Jahrhundert waren regionale Verbote von Bräuchen (Purim) zu verzeichnen. 418/425 erfolgte der Ausschluss von Juden aus kaiserlichem Dienst. Die um das Jahr 429 dekretierte Aufhebung des „Patriarchats“ beendete die durch Konstantin begünstigte kultische Selbstverwaltung.
Paradoxer Weise begünstigte also die Konstantinische Wende die Selbstfindung beider „Geschwister“: des werdenden Christentums ebenso, wie des werdenden Judentums. Letzteres wurde durch die Entwicklung des Christentums zur Staatsreligion zweifach auf sich selbst aufmerksam: Im Zuge der wachsenden Präsenz des Christentums in Palästina wurde die jüdische Bevölkerung zum Zeuge einer höchst eigenwilligen Verwendung ihrer Traditionen durch die Christen. Die wachsende rechtliche Diskriminierung von Juden nach 380 unterstützte Rückbesinnung und Gruppenbildung gewissermaßen auf negative Weise und „von außen“.
Das vielerorts äußerst vitale Judentum bereitete den Kirchenvätern Kopfzerbrechen und verursachte so manche üble Invektiven (vgl. Melito von Sardes oder der erwähnte Chrysostomus). Das Judentum, welches eigentlich durch das Neue Gottesvolk abgelöst werden sollte, florierte munter weiter oder gar wieder. Es ist ebendiese Substitutionslehre, eine theologische Konstruktion, die sich mit der historischen Realität nicht in Übereinstimmung bringen ließ und daher immer wieder zum Anlass heftiger christlicher Angriffe auf das Judentum wurde und werden sollte.
5. Literatur
• Daniel Boyarin, Abgrenzungen. Die Aufspaltung des Judäo-Christentums, ANTZ 10, Berlin, Dortmund 2009.
• Paula Fredriksen, Oded Irshai, Christianity and Anti-Judaism in Late Antiquity: Polemics and Policies, from the Second to the Seventh Centuries, In: Steven T. Katz (Hg.) The Cambridge History of Judaism, Volume 4: The Late Roman-Rabbinic Period, Cambridge 2006, S. 977-1035; vgl. http://www.bu.edu/religion/files/pdf/Christianity-and-Anti-Judaism-in-Late-Antiquity-Polemics-and-Policies-from-the-Second-to-the-Seventh-Centuries.pdf
• John Gager, Reinventing Paul, Oxford u.a. 2002.
• Peter Schäfer, Jesus im Talmud, Tübingen 2007.
• Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society: 200 B.C.E. to 640 C.E., Princeton 2004.
• Guy Stroumsa, The Christian Hermeneutical Revolution and its Double Helix," in: Pieter W. van der Horst u.a. (Hg.), The Use of Sacred Books in the Ancient World, Leuven 1998, S. 9-28. Vgl. http://pluto.huji.ac.il/~stroumsa/Helix.pdf
Anmerkungen
[1] Als deuterokanonische Literatur bezeichnet man diejenigen Werke, die zeitlich parallel bzw. nach Abschluss des jeweiligen Kanons der Bibel verfasst worden sind. Ältere Begriffe für dieses gewaltige Korpus spätantiker Texte sind „Apokryphen“ oder „Pseudepigraphen“.
[2] Als Rabbinen (von hebr. Rabbi, in etwa: „mein Meister“) bezeichnet man eine Gruppe von jüdischen Gelehrten, die etwa ab dem 2. Jahrhundert versuchten, die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem zu kompensieren. Auffassungen und Methoden der Rabbinen kann man aus den Schriften dieser Strömung entnehmen, zu denen die Mischna, die Midraschim (Anmerkungen zur Bibel) und – allen voran – der (babylonische) Talmud gehören.
[3] Vgl. Peter Schäfer, Jesus in the Talmud, Princeton, Oxford 2007, S. 23-24.
[4] Justin Martyr (ca. 100-165), Dialog mit dem Juden Tryphon, XI, 2.5; zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter (BKV): http://www.unifr.ch/bkv/kapitel100-10.htm; letzter Zugriff: 04.10.2012, 17:36 Uhr.
[5] Das Zitat bietet einen Auszug aus Origenes‘ Hauptwerk Contra Celsum, in welchem der alexandrinische Kirchenvater ausführlich (und zumeist werkgetreu) aus der Polemik des paganen Philosophen Kelsos (spätes 2. Jh.), ???T?? ?????, „Wahre Lehre“, gegen das Christentum zitiert. Vgl. Origenes, Contra Celsum II,1.4; zitiert nach: Bibliothek der Kirchenväter, http://www.unifr.ch/bkv/kapitel139.htm; letzter Zugriff: 04.10.2012, 18:08 Uhr.
[6] Zusätzlich zur regionalen und ethnischen Loyalität brachte man auch seine politische Zugehörigkeit beispielsweise zum Imperium Romanum kultisch zum Ausdruck. Es sind dies die sog. Herrscher- oder Kaiserkulte, die von den Bewohnern eines Landes in der Regel selbstverständlich geübt wurden. Nur das jüdische Volk war von dessen üblichen Formen dispensiert, musste aber im Tempel zu Jerusalem seine Loyalität zum Imperium Romanum durch eigenständige Opfer und Liturgien erweisen.
[7] Vgl. Guy Stroumsa, Doppelhelix, und Paula Frederikson, Christianity.
[8] Der Kern der folgenden Ausführungen verdankt sich John Gager, Reinventing Paul.
[9] An anderer Stelle (2 Kor 12,2-4) beschreibt er seine Erfahrung im Stile einer Himmelsreise, während derer er „in den dritten Himmel entrückt“ wurde und dort „unaussprechliche Worte“ hörte.
[10] Vgl. Adam H. Becker, Annette Yoshiko Reed (Hg.), The Ways that Never Parted: Jews and Christians in Late Antiquity and the Early Middle Ages, Fortress Press 2007.
[11] Vgl. Daniel Boyarin, Abgrenzungen.
[12] Boyarin, Abgrenzungen, S. 23.
[13] Vgl. Seth Schwartz, Imperialism and Jewish Society.
Quelle: Zuerst erschienen in COMPASS-Infodienst, Online-Extra Nr. 177, Februar 2013.
Prof. Dr. Susanne Talabardon ist Professorin für Judaistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.
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