Themenheft online 2016: "UM GOTTES WILLEN"

Weltliche Talmud-Schulen

In Israel wächst eine Bewegung, die auch Nicht-Religiösen jüdische Werte und Traditionen vermitteln will. Das Judentum besteht für sie nicht nur aus Orthodoxen und Ultra-Orthodoxen. Es ist für sie nicht nur eine Religion, sondern eine Kultur.

Von Andreas Main


"Wenn wir im Klassenzimmer unser jüdisches Erbe und jüdische Werte weitergeben, dann widerspricht das nicht unserer säkularen Grundhaltung. Wenn nur eine einzige, also eine religiöse Position zu hören ist, das ist problematisch: Wir hingegen bieten Seminare an, in denen wir über säkulares Judentum und säkular-jüdische Werte sprechen. Wir fördern die Vielfalt der Positionen, denn das Judentum besteht nicht nur aus Orthodoxen und Ultra-Orthodoxen."

Sagt dieser Lehrer einer säkularen Yeshiva, einer weltlichen Talmudschule, in einer israelischen Fernsehsendung. Und seine Kollegin fügt hinzu: Das Judentum sei nicht nur eine Religion, es sei eine Kultur, eine Zivilisation, ein Volk, ein Text, eine Geschichte.

Menschen, die das Judentum auf diese Weise primär kulturell verstehen, will Ofer Zalzberg in seiner neuen Organisation zusammen bringen. "Kumu" heißt sie, übersetzt: Steh auf! Aufstehen sollen jene, die sich zum Beispiel in weltlichen Religionsschulen engagieren. Sie sollen ihr kulturelles Anliegen in den politischen Raum tragen - und das nicht mit dem Ziel, Orthodoxe oder Ultra-Orthodoxe zu schwächen; vielmehr will Kumu die orthodoxe Minderheit und die nicht-orthodoxe Mehrheit in Israel zusammen bringen. Ofer Zalzberg ist Politikberater in einer international tätigen Nicht-Regierungsorganisation - und er bezeichnet sich als Agnostiker:

"Ich weiß nicht, ob es Gott gibt oder nicht. Aber ich habe nichts dagegen einzuwenden, dass das Jüdische Teil des öffentlichen Lebens in Israel ist."

Immer mehr Israelis sehen das so. Sie nennen sich "Cultural Jews", "kulturelle Juden". Zehntausende sind in Kontakt mit dieser Bewegung. Junge Erwachsene gehen in säkulare Yeshivas. Oder sie besuchen ein Beit Midrash. Diese Bildungshäuser - sie sind offen für Religiöse und Nicht-Religiöse, Männer und Frauen. Gemeinsam studieren sie dort jene religiösen Texte, auf denen das Judentum basiert - allerdings nicht, um ihren Glauben zu vertiefen, sondern um das gemeinsame Erbe zu verstehen. Jüdische Erneuerung, wie sie in all den säkularen Yeshivas geschieht, müsse nun auch politische Konsequenzen haben, fordert Ofer Zalzberg:

"Viele Menschen in Israel wollen auf jüdische Art heiraten oder beschnitten oder beerdigt werden - aber nicht unbedingt auf religiös-orthodoxe Weise. Wir möchten das ermöglichen."

Noch aber sagt das Personenstandsgesetz in Israel: Die Religionsgemeinschaften sind zuständig etwa für Eheschließungen. Das gilt gleichermaßen für Juden, Christen und Muslime in Israel. Mit Blick auf das Judentum sind aber nur die orthodoxen Gemeinden vom Staat anerkannt, nicht jedoch die jüdisch-konservativen oder jüdisch-liberalen Gemeinden. Die Rabbinats-Gerichte sind nur mit orthodoxen Richtern besetzt, und nur sie können gültige Eheschließungen oder -scheidungen vollziehen. Eine Zivilehe gibt es nicht.

Forderung nach Anerkennung verschiedener Strömungen im Judentum

"Was ich mir für Israel wünsche: Dass der Staat anerkennt, dass es verschiedene Strömungen im Judentum gibt. Und nicht nur die Orthodoxie, jene Richtung, die nach der Halacha lebt, also dem jüdischen Gesetz. Wenn auch andere Strömungen anerkannt sind, dann dürfen auch deren Vertreter, egal ob Rabbiner oder das Pendant dazu, Ehen schließen und Ehen scheiden. Das schließt nicht aus, dass auch die Zivil-Ehe eingeführt wird und jemand etwa im Rathaus heiraten kann."

Ein entsprechender Gesetzesantrag der sozialdemokratischen Awoda-Partei zur Zivilehe ist erst kürzlich in der Knesset gescheitert. Aber aus Zalzbergs Sicht ist die Zivilehe nicht zentral. Der säkulare Kampf gegen die Religion sei gescheitert und werde weiter scheitern; und er spalte die Gesellschaft. Auch die Forderung nach einer Trennung von Staat und Religion sei überholt. Er bezeichnet sich und seine Kumu-Bewegung als post-säkularistisch:

"Es geht uns nicht darum, Staat und Religion grundsätzlich zu trennen. Wir können nicht ignorieren, dass etwa nationalreligiöse Juden in Israel den Staat als heilig ansehen. Für sie ist die Staatlichkeit eine Phase im Prozess der Erlösung - nach dem Motto: Gott greift in die Geschichte ein, deshalb existiert der Staat. Für sie ist es wichtig, dass der Rabbiner, der sie verheiratet oder die Beschneidung vornimmt, ein Vertreter dieses Staates ist. Das können wir akzeptieren. Aber so wie der orthodoxe Rabbiner ein Angestellter des Staates ist, könnte auch jener kulturelle oder säkulare Rabbiner, der mich traut, ein Angestellter des Staates sein. Wenn Israel die diversen Strömungen im Judentum als legitim anerkennt, dann wird auch niemand mehr fordern, Staat und Synagoge zu trennen. Es gäbe einfach weitere Optionen."

Besonders junge Israelis bekennen sich zunehmend zu ihrer Tradition und leben dennoch nicht nach der Halacha. Sie beachten nicht die Speisegesetze; das Shabbat-Mahl aber ist ihnen ebenso wichtig wie die jüdischen Feiertage mit ihren Ritualen - nicht aus religiösen Gründen, sondern als Teil der eigenen Kultur ist.

"So viele unserer Werte erodieren heutzutage. Der Grund: die Über-Individualisierung, die Atomisierung der Gesellschaft. Wir müssen zurück zu unseren großartigen Traditionen. Wir müssen uns fragen: Welche kulturellen Ressourcen können uns helfen, unser Leben zu verbessern?"

Mit freundlicher Genehmigung des Deutschlandfunks, 17.09.2014


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