Themenheft online 2017: "Nun gehe hin und lerne"

Was wir von Israel lernen können – und müssen

Gil Yaron, Jerusalem


Terror gehört in Europa plötzlich zum Alltag – wie in Israel seit Jahrzehnten. Wird die Antwort ähnlich sein? In Israel sind Waffen überall, Datenschutz unbekannt. Für die Demokratie eine harte Probe.

Wer sich in Israel zum Kinofilm verspätet, stolpert auf dem Weg zu seinem Sitzplatz im Dunkeln gelegentlich über Hindernisse: Läufe von Maschinengewehren, die Soldaten unter ihrem Sitz platziert haben. Bei vielen deutschen Touristen hinterlässt die Allgegenwart von Waffen in Israels Straßenbild oft den größten Eindruck. Im Gegensatz zu Europäern, bei denen der Anblick von Waffen Unbehagen auslöst, fühlen sich viele Israelis nur sicher, wenn sich ein Bewaffneter in ihrer Nähe befindet. Wachposten stehen in jedem Einkaufszentrum, vor Cafés oder Parkhäusern, wo sie Kofferräume und Handtaschen nach Bomben absuchen. Bei jedem Schulausflug muss ein Bewaffneter dabei sein, so will es das Gesetz. Sie bewachen Eingänge von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Supermärkten.

Sicherheit soll präsent sein. Streifenwagen haben ihr Blaulicht immer an, auch auf dem Heimweg. Viele Soldaten nehmen ihre Waffen auf Fronturlaub mit nach Hause und sitzen mit Sturmgewehr im Kaffeehaus, gehen damit Shoppen oder Geld abheben. Siedler schlendern, die Uzi über die Schulter geschlungen, durch die Einkaufsstraßen Jerusalems. Auch viele Normalbürger sind bewaffnet: Elektriker, die in Tel Aviv Klimaanlagen reparieren. Familienväter, die mit Kindern durch den Wald spazieren. Vertreter auf Geschäftsreisen – bei vielen sieht man die Ausbuchtung, die das Pistolenhalfter am Gürtel ins T-Shirt drückt.

Aber das ist nur ein Teil von Israels Kampf gegen den Terror. Die ganze Gesellschaft versteht sich als Teil des Existenzkampfs. Kinder werden dazu erzogen, nach verdächtigen Objekten Ausschau zu halten. Jeder Gegenstand gilt als potenziell gefährlich: die leere Bierdose am Bürgersteig, das verdächtig geparkte Auto, der Reifen am rostigen Fahrrad, das seit Tagen an einer belebten Kreuzung angekettet ist. Entschärfungskommandos sind oft im Einsatz, sperren ganze Straßenzüge, weil jemand eine Handtasche liegen ließ. Was in dem Land oft als bequeme, weil glaubwürdige Ausrede für Verspätungen dient. Zugleich vertraut das Land der digitalen Terrorabwehr. Datenschutz ist vielen ein Fremdwort. Es gibt kaum Debatten, auf welche privaten Informationen die Sicherheitsorgane zugreifen dürfen. Viele Menschen in Israel gehen einfach davon aus, dass Telefonate und E-Mails abgehört werden, und finden, dies sei ein kleiner Preis.

Von Deutschland aus gesehen, wo die Menschen sehr sensibel auf Datenschutz reagieren, drängt sich die Frage auf: Lassen die Israelis ihre demokratischen Grundrechte ohne Wenn und Aber einschränken – der Terrorabwehr zuliebe? So einfach ist es nicht: Zwar reichen die Befugnisse des Geheimdienstes weit. Aber zugleich wächst das Bewusstsein für die Gefahren von zu viel Macht der Sicherheitsbehörden. Es gibt Versuche, die Aufsicht über die Sicherheitskräfte zu stärken: Festgenommene müssen binnen 24 Stunden einem Richter vorgeführt werden, haben Anrecht auf rechtlichen Beistand und medizinische Versorgung. In Extremfällen, sogenannten Tickenden-Bomben-Fällen, dürfen Agenten den Festgenommenen immer noch rechtlichen Beistand vorenthalten. Sogar „mäßiger physischer Druck“ – ein Euphemismus für sanktionierte Folter – ist erlaubt, wenn ein unmittelbar bevorstehendes Attentat verhindert werden könnte.

Für Freude und Freiheit nimmt man Risiken in Kauf

Doch von Israel kann man noch drei andere Dinge lernen. Erstens: dass es trotz höchster Sicherheitsmaßnahmen keinen absoluten Schutz gibt – auch dort geschehen immer wieder Attentate. Zweitens: Den Israelis sind ihre Lebensfreude und ihre Demokratie ebenso wichtig wie ihre Sicherheit. Selbst wenn es konkrete Attentatsdrohungen gibt, wird kein Fußballspiel oder Open-Air Festival abgesagt. Für Freude und Freiheit nimmt man Sicherheitsrisiken in Kauf.

Und drittens, am wichtigsten: Die Balance zwischen Sicherheitsbedürfnis der jüdischen Mehrheit und Gleichberechtigung der arabischen Minderheit ist sehr schwierig zu halten. 20 Prozent der Bevölkerung sind muslimische Araber. Sie identifizieren sich mit dem Freiheitskampf ihrer Verwandten – den Palästinensern. Der Staat und die Armee sind immer noch der größte Arbeitgeber im Land. Araber fanden hier aber lange keine und heute nur wenige Jobs. Aus Furcht vor Sabotageakten. Immer wieder kommt es zu Exzessen von Polizei oder Armee gegen arabische Staatsbürger. Deren Verhältnis zu den Sicherheitskräften ist eher von Angst als von Anerkennung geprägt.

Das öffentliche Klima, in dem Araber oft als Feindbild wahrgenommen werden, ist Teil eines Teufelskreises, in dem diese Minderheit ausgegrenzt oder diskriminiert wird und dann tatsächlich zum Feind überläuft – was die Vorurteile nur bestärkt. Dennoch gibt es Fortschritte bei den Rechten der Minderheiten – vor allem dank der liberalen Justiz. Ein Bauverbot für Minarette ist in Israel so undenkbar wie eine Einschränkung der Pressefreiheit.

Zwar wacht ein Militärzensor darüber, dass Zeitungen keine militärischen Staatsgeheimnisse preisgeben. Trotzdem werden sich die Israelis eines wohl nie nehmen lassen: das Recht, ihre Regierung zu kritisieren und intensiv über den besten Weg zu diskutieren, wie man den Terror bekämpfen und demokratisch bleiben kann.

Veröffentlicht am
20.07.2016 in der "WELT";
 hier wiedergegeben mit
freundlicher Genehmigung


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