Themenheft online 2018: "Angst überwinden - Brücken bauen"
Zocken für den Frieden
Wie das Computerspiel Minecraft im Nahostkonflikt vermitteln soll
David Donschen
Für neun Uhr morgens ist ganz schön Remmidemmi im Computerraum der Izraelia-Schule in Haifa. 20 Kinder brüllen wild durcheinander. Ein Junge reißt sich die viel zu großen Kopfhörer vom Kopf, rennt zu einem Schulkameraden und fuchtelt wild mit seinen Händen vor dessen Monitor herum. Die Sechstklässler sind ziemlich aus dem Häuschen. Klar, statt Mathe steht heute Minecraft auf dem Stundenplan. Da kann man als Elfjähriger schon mal ausflippen. Nicht weniger chaotisch geht es auf den Computermonitoren zu, vor denen die Schüler sitzen. Die Kinder steuern quadratköpfige Avatare durch eine bunte Klötzchenwelt aus Burgen, Höhlen und Becken voller Lava.
Es ist die allererste Stunde in dem Gaming-Projekt. Das Problem: Die Technik will nicht so richtig. Eigentlich sollten heute zwei Schulklassen miteinander übers Internet spielen - die jüdischen Schüler hier mit Kindern einer arabischen Schule ein paar Kilometer weiter entfernt. Itay Warman hastet von einem Computer zum anderen. Aber es bringt nichts. Das Netzwerk spinnt, wie er den enttäuschten Kindern beichten muss.
Warman, kahl geschorener Kopf, schwarze Lederjacke, ist Leiter der Initiative „Games for Peace“ (G4P), die das Schulprojekt veranstaltet. Die Idee hinter dem Programm namens „Play2Talk“: Arabische und jüdische Jugendlichen sollen über das gemeinsame Zocken miteinander ins Gespräch kommen. Denn auch 68 Jahre nach Staatsgründung sind sich Juden und Araber in Israel fremd. Laut einer Umfrage lehnen es fast 50 Prozent der jüdischen Einwohner ab, mit arabischen Familien im selben Haus zu wohnen. Ähnlich hoch sind die Zahlen bei Befragungen arabischer Israelis.
„Ich erschrecke jedes Mal wieder, wenn ich sehe, wie selten die Kinder miteinander reden", erzählt Warman in seinem Auto auf dem Weg zur arabischen Projektschule in Haifa. „Sie wissen überhaupt nichts übereinander.“ Der 44-Jährige spricht aus Erfahrung. Sieben Jahre lang war er Direktor einer Hochbegabtenschule in der Nähe von Tel Aviv.
Die jüdischen Kinder beispielsweise hätten keine Ahnung, wie viele Araber in Israel leben oder dass es neben Muslimen auch Christen und Drusen unter den Arabern gibt. 20 Prozent aller israelischen Staatsbürger sind arabisch, in Haifa ist es jeder zehnte Bewohner. Die Stadt am Mittelmeer gilt eigentlich als Vorzeigeort in Sachen Koexistenz.
Mit dem Auto an der arabischen Abed-El-Rahman-Schule angekommen, zeigt sich aber, wie streng selbst in Haifa die Lebenswelten voneinander getrennt sind. Das Viertel Halisa, in dem die Schule liegt, ist eine kleine Welt für sich. An den Hauswänden hängen verwitterte Wahlplakate in arabischer Sprache. Hinter der Schule ragt das grüne Minarett der örtlichen Moschee in den Himmel. Die Rahman-Schule wird ausschließlich von arabischen Kindern besucht. In Israel ist das normal. Bis auf wenige Ausnahmen sind Schulen streng nach Bevölkerungsgruppen separiert. Genauso wie Sportvereine und Nachbarschaften sind sie meist entweder arabisch oder jüdisch. Durchmischung? Fehlanzeige.
„Wir sehen uns auf dem Markt oder der Straße, aber wir reden nicht miteinander“, sagt Nevin Abasi, die an der Rahman-Schule Englisch unterrichtet. Abasi erzählt eine Anekdote von einer Fortbildung: Da kam eine jüdische Lehrerin auf sie zu und war überrascht, dass sie Muslimin ist, dabei trägt Abasi doch gar kein Kopftuch. „Wir leben in derselben Stadt und sind uns trotzdem fremd.“
Um daran etwas zu ändern, suchte das G4P-Team nach einem Ort, an dem sich junge Araber und Juden kennenlernen können. Gefunden haben sie diesen Ort in der virtuellen Welt von Minecraft. Das Computerspiel ist der heiße Scheiß in Kinderzimmern auf der ganzen Welt. 122 Millionen Mal wurde es bisher verkauft. Zum Vergleich: Tetris für den Game Boy verkaufte sich 35 Millionen Mal.
Das Besondere an dem Spiel ist seine Mechanik: Minecraft sieht aus und funktioniert wie Lego. Die Spieler bewegen sich durch eine offene Welt und können diese beliebig verändern. Sie können Rohstoffe abbauen, Werkzeuge schmieden und Gebäude errichten. „Minecraft ist wie ein Sandkasten, in dem jeder sein eigenes Abenteuer erleben kann", erklärt Warman.
Wann immer G4P das Programm an Schulen anbietet, können sie sich vor Anmeldungen kaum retten. Ein Dialogprojekt an dem Kinder freiwillig teilnehmen wollen – in Israel eher die Ausnahme.
Gespielt wird in arabisch-jüdischen Teams über das Internet. In der ersten Stunde etwa müssen sich die Schüler aus einem virtuellen Gefängnis befreien und dafür gemeinsam Rätsel lösen. Anschließend bauen sie ein zerstörtes Dorf in der Minecraft-Welt wieder auf.
Die Technik hilft den Schülern auch, Sprachbarrieren zu überbrücken: Schreibt ein jüdisches Kind etwas Hebräisches in den Chat, dann übersetzt die Software es ins Arabische. Über Chat und Skype sollen sich die Teilnehmer persönlich kennenlernen. So müssen sie sich zum Beispiel ein Geheimnis erzählen oder Dinge des Alltags von ihrem Gegenüber erfragen.
Die virtuelle Welt hat dabei einen entscheidenden Vorteil - es geht vorurteilsfreier zu: „Die Kinder sehen nicht direkt einen Juden, Araber oder Christen vor sich“, erklärt Warman. „Stattdessen sind da nur Avatare. Das macht es einfacher für sie, miteinander in Kontakt zu kommen.“
Mohammed ist einer der Teilnehmer des Gaming-Projekts an der arabischen Rahman-Schule. Der 13-Jährige ist schon länger ein glühender Minecraft-Fan: „Man lernt in dem Spiel unheimlich viele Leute kennen.“ In Minecraft hat er jüdische Kumpels. In der realen Welt nicht. Warum nicht, das zeigt sich, wenn man mit ihm über die Vorurteile spricht, die ihm als arabischem Jungen begegnen: „Mörder, Dieb, Terrorist“, zählt Mohammed auf. Dabei versuchen Schulen und Initiativen in Haifa, mehr als in anderen israelischen Städten, etwas gegen die Stereotype in den Köpfen der Kinder zu unternehmen. Es gibt diverse Partnerprogramme jüdischer und arabischer Schulen, in denen sich die Schüler immer wieder begegnen. „Okay“, findet die Englischlehrerin Abasi die Treffen. „Aber die Ressentiments stehen auch bei diesen Begegnungen immer zwischen uns.“ Sie erkenne das in den Blicken, die sich die Kinder zuwerfen.
Bei „Games for Peace“ ist das anders, meint Abasi. Auch hier treffen sich die Kinder zweimal von Angesicht zu Angesicht. Der Unterschied: Es gebe viel weniger Scheu voreinander, weil die Kinder sich durch das gemeinsame Zocken schon kennen. Und dank der Abenteuer in Minecraft bringen sie gleich Gesprächsstoff mit. Das verbindet, glaubt Abasi.
Inwieweit Computerspiele helfen können, Konflikte zu lösen, dieser Frage gehen mittlerweile auch Wissenschaftler nach. In Berlin-Kreuzberg sitzt Professor Jens Junge in seinem Büro an der privaten Hochschule für Kommunikation und Design. Sein Schreibtisch ist vollgepackt mit Büchern und Studien zum Thema „Spiele“ und „Gamification“. Junge ist Ludologe, was übersetzt so viel heißt wie „Spielewissenschaftler“. Er und sein Team am Institut für Ludologie erforschen, wie Spiele gesellschaftlich wirken. Den Ansatz von G4P hält Junge für wirksam: „Wenn wir spielen, erleben wir gemeinsam Emotionen.“ Diese Emotionen seien für das Hirn viel prägender als Vorurteile. „Die Kinder bekommen plötzlich mit: Mein Gegenüber ist ja so ein Mensch wie ich.“
Längst ist das Konzept „Zocken für den Frieden“ nicht mehr nur auf Kinder beschränkt. Am Trinity College in Dublin entwickelt ein Team aus Wissenschaftlern ein Onlinerollenspiel für Polizisten und Soldaten. Das Spiel soll die Kräfte auf EU-Missionen vorbereiten, wie es sie gerade in Mali oder den palästinensischen Gebieten gibt. So wird es den Spielern möglich sein, verschiedene Nationalitäten anzunehmen oder in die Rolle des anderen Geschlechts zu schlüpfen. Die Macher versprechen sich davon eine bessere Kommunikation und ein höheres Maß an Kooperation zwischen den verschiedenen militärischen und zivilen Kräften.
Zwei Millionen Euro gibt die EU für die Entwicklung des Spiels aus. Das klingt nach viel Geld. Im Vergleich zu den Kosten persönlicher Trainings, bei denen Polizisten und Soldaten aus allen Teilen Europas an den gleichen Ort gebracht werden müssen, ist so ein Onlinespiel aber geradezu ein Schnäppchen.
Ähnliche Überlegungen stehen auch hinter „Play2Talk“: Denn es ist jedes Mal ein ziemlicher Aufwand, jüdische und arabische Schüler zusammenzubringen, vor allem, wenn sie in unterschiedlichen Teilen Israels leben. Computer mit Internetanschluss gibt es dagegen an fast jeder Schule. Und so haben bereits über 1.000 Schüler in den vergangenen drei Jahren bei „Play2Talk“ mitgemacht. Tausende weitere Jugendliche sollen folgen. Dafür braucht die Initiative Geld. Bislang kommt ein Großteil der finanziellen Mittel von der US-Botschaft und einem Bildungsnetzwerk.
Vom Staat selbst gibt es nicht viel Unterstützung. Auch wenn Israels Bildungsminister Naftali Bennett die Initiative jüngst auf Twitter lobte, sagt Warman: „Es steht nicht auf der Agenda des Bildungsministeriums, dass sich Juden und Araber näher kommen.“ Viel mehr will er dazu nicht sagen. Nur diesen einen Satz noch: „Es ist kein Zufall, dass die Situation so ist, wie sie ist.“
Und „Games for Peace“ hat nicht nur mit fehlender Unterstützung zu kämpfen. Immer wieder sieht sich die Initiative mit Rassismus konfrontiert: Etwa wenn bei einem Online-Event Hakenkreuze in der Spielewelt von Minecraft auftauchen. Oder wenn eine drusische Schule es partout ablehnt, mit einer muslimischen Schule zusammenzuarbeiten.
Immer wieder gibt es aber auch kleine Erfolgsgeschichten. Zum Beispiel von der jüdischen Klasse aus der Nähe von Tel Aviv und den drusischen Kinder aus dem Norden, die überhaupt nicht mehr aufhören, sich gegenseitig WhatsApp-Nachrichten zu schicken und über das Projekt hinaus Treffen organisieren. Mehr als ein zaghafter Anfang ist das zwar nicht. Aber immerhin schaffen die Kinder mit Hilfe eines Computerspiels etwas, das ihre Eltern längst verlernt haben. Nämlich nicht immer nur übereinander zu sprechen – sondern auch mal wieder miteinander.
© Erschienen in neues deutschland (27.05.2017)
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