Themenheft online 2019: "Mensch, wo bist Du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft"

„Damit Gott sehe, dass wir Christen sind“
Über die Geburt des Antisemitismus aus dem Geist des Christentums.

Christoph Münz


Versucht man nach nun fast zweitausendjähriger Geschichte der Begegnung zwischen Juden und Christen Bilanz zu ziehen, fällt diese Bilanz in erschütterndem Maße zuungunsten der Christen und des Christentums aus. In der Geschichte der Menschheit ist uns kein annähernd vergleichbarer, zweiter Fall bekannt, in dem das Aufeinandertreffen zweier Religionen über einen kontinuierlich so langen Zeitraum auf so erschreckend mörderische Weise vonstatten ging, wie dies im Fall von Christen und Juden geschah.

Mit dem Entstehen der ersten Christengemeinden beginnend setzte ein Prozeß christlicherseits ein, der auf allen nur denkbaren Ebenen Juden und Judentum diskreditierte, diskriminierte, befeindete und bekämpfte, verstellte und entwürdigte. Theologisch erniedrigt, sozial ausgegrenzt, rechtlich den Rechtlosen gleichgestellt, war Juden fortan ein Schicksal zugedacht, daß ihnen zwischen Taufe und Tod eine nur weithin mühselige und unsichere Existenz beschied. Die Evangelien von Matthäus und Johannes und die Paulusbriefe bildeten die Grundlage für die Ausarbeitung einer Theologie durch die Kirchenväter, die in ihrer antijüdischen Denkweise und Wortwahl nicht selten sich kaum noch unterschied von den antisemitischen Hetztiraden des NS-Propagandaorgans ‘Der Stürmer’. Mit der Hochzeit von Macht und Kirche, der Durchsetzung des Christentums als Staatsreligion durch Konstantin im 4. Jhd., folgte der Theorie die Praxis. Unzählige Juden und Judentum diskriminierende Konzilsbeschlüsse konnten nun mit Hilfe und im Schutz der weltlichen Mächte in die Praxis umgesetzt werden. In Abermillionen von Predigten und Bibelauslegungen wurde das christliche Gift der Judenfeindschaft in die Herzen der Gläubigen eingeimpft und bildete die Grundlage für unzählige Pogrome, für Verfolgung und Vertreibung der Juden, ja schließlich für Mord und Totschlag an ihnen. Begegnung zwischen Christen und Juden wurde zweitausend Jahre lang für die Juden zu allermeist zu einer ‘Zergegnung’, einer Begegnung mit für Juden zumeist tödlichem Ausgang.

Als die Nazis 1933 die Macht an sich rissen, fanden sie den Boden für ihr Vernichtungswerk bestens vorbereitet. Sehr vieles von dem, was in jenen 12 Jahren mit den Juden geschah, hatte Vorbild und Vorläufer in Theorie und Praxis in der seit 1900 Jahren die Geschichte des Abendlandes prägenden Geschichte der christlichen Kirchen und ihrer Gläubigen.

„Der Vernichtungsprozeß der Nazis“, schreibt der amerikanisch-jüdische Historiker Raul Hilberg, „kam nicht aus heiterem Himmel; er war der Höhepunkt einer zyklischen Entwicklung. Wir können diese Entwicklung in den drei aufeinanderfolgenden Zielsetzungen antijüdischer Amtswalter nachvollziehen. Die Missionare des Christentums erklärten einst: Ihr habt kein Recht, als Juden unter uns zu leben. Die nachfolgenden weltlichen Herrscher verkündeten: Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben. Die deutschen Nazis schließlich verfügten: Ihr habt kein Recht, zu leben. [...] Die deutschen Nazis brachen also nicht mit der Vergangenheit; sie bauten auf ihr auf. Sie begannen nicht, sie vollendeten eine Entwicklung“.(1)

Am Beginn dieser Entwicklung standen die Evangelien des Neuen Testamentes (NT), insbesondere die von Matthäus und Johannes, und die paulinischen Schriften. Die einschlägigen Stellen sind bekannt. Angefangen von der sog. Selbstverfluchung in Matth. 27,25 („Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“), über Johannes, der die Juden als Kinder und Söhne des Teufels bezeichnete (Joh. 8,44: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüsten wollt ihr tun“), bis hin zu den paulinisch abqualifizierenden Bemerkungen über die Juden, „die Gott mißfallen und allen Menschen feindlich sind“ (1.Thess.2,15). Natürlich finden wir auch gegenteilige Aussagen im NT, wenn etwa Johannes daran erinnert, daß das Heil aus den Juden kommt, oder Paulus mahnt zu bedenken, daß nicht wir die Wurzel, sondern die Wurzel uns trägt. Aber wirkungsgeschichtlich entscheidend für den Weg von Theologie und Kirche — und damit für christliches Selbstverständnis — wurden die antijüdischen Stellen des NT bzw. eine antijüdische Auslegung des NT, die Hand in Hand ging mit der Entwicklung einer Christologie, dessen linke Hand, wie Rosmary Radford-Ruether feststellte(2), der Antijudaismus war.

Einige wesentliche Entwicklungslinien, christliche Entwicklungslinien, die oft zu tödlichen Stricken für die Juden wurden, sollen benannt werden.

Da bestimmt etwa eine altkirchliche Gemeindeordnung, Didache 8,1-2, bereits um 100 nach Christus zum Beten der Christen: „Wenn ihr betet, dann betet nicht wie die Heuchler (die Juden); wenn ihr fastet, dann fastet nicht wie die Heuchler (die Juden)“. Deutliche und feindselige Abgrenzung und Absetzung keine 100 Jahre nach Jesu Geburt.

Dem folgen vom 2. bis ins 7. Jhd. zahlreiche Traktate unter der Überschrift ‘Adversos Judaeos’, mit Tertullian beginnend über Augustinus bis hin zu Isidor von Sevilla. In diesen und vielen anderen Schriften der Alten Kirche werden jene tragenden theologischen Argumente auf polemische Weise formuliert, die für Jahrhunderte die Juden zu den Prügelknaben des Abendlandes machen sollten.

Die dogmatische Abgrenzung der Kirche vom Judentum vollzog sich dann zunächst wesentlich in der sog. Lehre von der Substitution, der Lehre der Ersetzung, der Beerbung Israels durch die Kirche. Diese Ab- und Ausgrenzungslehre findet sich im nachapostolischen Zeitalter vor allem im Barnabas-Brief, einer betont antijüdischen Schrift aus dem Jahre 130/135, und hatte eine beträchtliche Wirkung auf Kirchenväter und Apologeten wie Justinus, Irenäus, Clemens von Alexandrien, Tertullian und Origines. Hier im Barnabas-Brief lesen wir von den Christen als dem „neuen Volk“, dem „Erbvolk“. Der Autor stellt die Existenz eines Bundes zwischen Gott und den Juden kurzerhand überhaupt in Frage. Der im AT bezeugte Gottesbund sei nie zur Geltung gekommen, denn Moses habe ja die den Bund besiegelnden Gesetzestafeln zerbrochen. Selbstverständlich verschweigt der Schreiber die Wiederherstellung der Gesetzestafeln, wie es in Ex. 34 geschrieben steht. Lüge und Verdrehung müssen herhalten, um zu behaupten, es gebe nur einen Bund, denjenigen den Christus mit den Seinen geschlossen habe. Das wahre Israel ist allein die christliche Gemeinde.

In einer eigenwilligen Auslegung von Gen. 25, 23-26, der Geburt von Esau und Jakob, legitimiert Tertullian mit göttlicher Autorität die Verwerfung und Minderwertigkeit des jüdischen Volkes. Auch für ihn ist kein Heil mehr bei den Juden, sondern allein bei den Christen, dem wahren Gottesvolk. Eine besondere Variante fügt diesem Gedanken Eusebius von Caesarea hinzu. Er meint unterscheiden zu müssen zwischen Hebräern und Juden, wobei der Begriff Jude zum Negativbegriff wird: „Jesus wurde aus dem Volk der Hebräer geboren, und von den Juden gekreuzigt“, schreibt er. Als Hebräer betrachtet er die Patriarchen vor der Zeit Moses, die die wahren Freunde Gottes gewesen seien, Christen lange vor Christus. Alle Hebräer nach Mose nennt er Juden, die von Gott abgefallen sind. Das wahre Israel stehe nur den Hebräern zu, deren wahre Nachfolger nun die Christen seien.(3) Damit wird die Kirche die Alleinerbin des Alten Bundes, alle göttlichen Verheißungen werden ganz in den Raum der Kirche eingebunden, die Juden stehen heillos und unerlöst davor.

In der Abgrenzung vom Judentum und in dem Anspruch, Israel zu ersetzen, ist diese Lehre, die Lehre von der Substitution, Grund und Ursache für die antijudaistische Gestalt und Ausrichtung christlicher Lehre und christlichen Bekenntnisses von den Anfängen der frühen Christenheit bis in die Gegenwart. In klassischer Formulierung etwa bringt ein Mann, wie Kardinal Faulhaber die Position der katholischen (und sicher auch evangelischen) Kirche in seinen Adventspredigten 1933 auf den Punkt:

„Vor dem Tod Christi, die Jahre zwischen der Berufung Abrahams und der Fülle der Zeiten, also dem Erscheinen Christi, war das Volk Israel der Träger der Offenbarung. ... Nach dem Tod Christi wurde Israel aus dem Dienst der Offenbarung entlassen. ... Die Tochter Zion erhielt den Scheidebrief und seitdem wandert der Ewige Ahasver ruhelos über die Erde“.(4)

Israels Geschichte gilt als Spiegel des Gerichts, die der Kirche als Spiegel der Gnade. Eugenio Pacelli, Kardinalssekretär und späterer Papst Pius XII., formulierte es am Vorabend des Holocaust, 1936, so: „Jerusalem und sein Volk sind nicht mehr die Stadt und das Volk Gottes, Rom ist das neue Zion...“.(5)

Hier schwingt auch bereits ein weiterer Strang christlichen Antijudaismus mit, der im Alleinanspruch der Christen auf das „Alte Testament“ liegt. Mit Hilfe bestimmter Auslegungstechniken, Allegorie und Typologie, wird die Hebräische Bibel unmittelbar zum allein christlichen Buch erklärt, das „Alte Testament“ zu einer bloßen Vorgeschichte, die allein und ausschließlich auf die Gestalt und das Erscheinen Jesu hin interpretiert wird.

Friedrich Heer, der großartige Historiker und Katholik aus Österreich, bemerkt hierzu:

„Dieser ... größte Raubzug der Weltgeschichte führt das Alte Testament in den Dienst der christlichen Kirche über: Was in über tausend Jahren jüdische Propheten, Priester, Künder, Söhne, Väter des jüdischen Volkes an Gebet, Opfer, Liturgie, Dichtung, Wortaussage geschaffen haben — unter unsäglichen Leiden und Schmerzen, lange vor und lange nach der Babylonischen Gefangenschaft — wird nun, als Beutegut des ‘Neuen Israel’, der Kirche zum unantastbaren Erbgut“.(6)

Zu den antijüdischen Stereotypen, die über die Jahrhunderte hin die verheerendsten Folgen haben sollten, gehört der Vorwurf des Gottesmordes. Zum ersten mal faßbar wird er im 2. Jhd. in einer Schrift des kleinasiatischen Bischofs Meliton von Sardes:

„Höret es, alle Geschlechter der Völker, und seht es: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalems, in der Stadt des Gesetzes, ... Der Gott ist — getötet worden; der König Israels — ist beseitigt worden von Israels Hand“.(7)

Fortan wird den Juden die Schuld am Tode Jesu wie eine Erbschuld aufgebürdet, alles Unrecht und Unheil, das über sie kommen wird, als notwendiges Strafgericht für jene Schuld interpretiert. Der Kirchenlehrer Justin erneuert den Vorwurf des Gottesmordes, verwünscht die Juden und erhofft ein endgültiges Strafgericht für sie. Im Jahre 388 schließlich brennt die erste Synagoge, im syrischen Kallinikon, auf Weisung des Ortsbischofs entzündet. Kaiser Theodosius verlangt die Wiedererrichtung auf Kosten der Kirche, was bei dem Kirchenvater Ambrosius zu heftigstem Protest und übelster antijüdischer Polemik führt. Der Kaiser widerruft auf seinen Druck hin die Anordnung.

Christen machen sich immer mehr anheischig, Richter über Zeit und Ewigkeit zu sein. Und so ist es nicht verwunderlich, daß schon im Jahre 387 das endgültige Urteil über die Juden feststeht, so wie es einer der größten Kirchenlehrer der Zeit formulierte, Johannes Chrysostomus, Bischof von Antiochien: „Wie ein gemästetes und arbeitsunfähiges Tier taugen sie (die Juden) nur noch für den Schlächter“(8), und sie seien „nicht besser als Schweine und Böcke“.(9) Zur Synagoge predigte er: „Nenne einer sie Hurenhaus, Lasterstätte, Teufelsasyl, Satansburg, Seelenverderb, jeden Unheils gähnenden Abgrund oder was immer, so wird er noch weniger sagen, als sie verdient hat.“(10)

Gregor von Nyssa, Heiliger und Kirchenvater, Mitte des 4. Jhd., nannte die Juden „Prophetenmörder, Streiter wider Gott, Gotthasser, Gesetzesübertreter, Feinde der Gnade, Advokaten des Teufels, Schlangenbrut, Denunzianten, Verleumder, umnachtet, Synedrium von Dämonen, Zerstörer, durch und durch böse, Steiniger, Hasser des Guten“.(11)

Zahllos weitere Glanzstücke solcher ‘frühchristlichen Frömmigkeit’ könnte man ergänzen. Es ist schauderhaft.

Nachdem das Christentum sich als Staatsreligion etabliert hat, den Teufelspakt mit der Macht eingegangen ist, und in Spätantike und Frühmittelalter seinen Siegeszug über Europa angetreten hat, kommt es im Hoch- und Spätmittelalter zur Verwirklichung dessen, was die Kirchenväter erdacht und geschrieben haben. Die Pest (Vorwurf der Brunnenvergiftung), aber vor allem die Kreuzzüge führen zu den ersten flächenübergreifenden Vernichtungsaktionen jüdischer Gemeinden in Europa. Wo die Juden Glück haben, werden sie ‘nur’ vertrieben, allzu oft aber zusammengejagt und verbrannt. Fast alle bedeutenden großen und kleinen jüdischen Gemeinden müssen einen fürchterlichen Blutzoll entrichten. Männer, Frauen, Kinder, Kranke und Gesunde, alte und junge: begleitet von Predigt und Theologie wird die Judenhatz zur christlichen Tugend. 1096 fallen den religiös aufgewiegelten Kreuzzugsmassen etwa in Mainz 1 100 Juden zum Opfer. Ähnlich ergeht es den jüdischen Gemeinden in Speyer, Worms, Köln, Xanten, Dortmund, Trier, Metz, Regensburg, Prag und, und, und... Juden wurden — den zeitgenössischen Quellen zufolge — enthauptet, erstochen, erwürgt, erschlagen, ertränkt und zu allermeist verbrannt oder lebendig begraben. Insgesamt schätzt man die Zahl der ermordeten Juden allein für das Jahr 1096 auf etwa 12 000.

Das 4. Laterankonzil im Jahre 1215 verhängt eine Fülle ausgrenzender und diskriminierender Bestimmungen über die Juden. Das Konzil bestätigt in Anlehnung an die Theologie des Kirchenvaters Augustinus die Sündenknechtschaft der Juden, woraus dann die Legitimation der sog. Kammerknechtschaft abgeleitet wird, d.h. Juden stehen mehr oder weniger dem Kaiser als willfähriges Eigentum zur Verfügung. Das Konzil erläßt weiterhin bestimmte Kleidervorschriften für Juden — die Geburt des Gelben Sterns, den die Nazis dann wieder aufnahmen — Juden wird der Zugang zu öffentlichen Ämtern verboten, Ehe und Verkehr mit Christen wird untersagt und vieles mehr. In der Folgezeit bilden sich die bis in die jüngste Zeit hinein verheerend wirkenden antijüdischen Stereotypen heraus. Vom Vorwurf der Hostienschändung bis hin zur Unterstellung, Juden entführten christliche Kinder, um sie zu ermorden und ihr Blut für das Backen der ungesäuerten Brote zu verwenden, die sog. Ritaulmordlegende. Überall in Europa bedarf es nur des leisesten Verdachtes gegen Juden, um Pogrome, Vertreibung und Ermordung zu bewirken. Das ‘Judenbrennen’ wird zum beliebten christlichen Karfreitagssport.

Auch die Reformation vermag daran nicht all zu viel zu ändern. Luther entwirft in seinen Spätschriften ein fürchterliches Zerrbild der Juden. Sie seien Mörder von Christen und insgesamt eine „Plage, Pestilenz und eitel Unglück“. In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ 1543 heißt es:

„Sie müssen aus unserem Lande vertrieben werden... es stimmt aber alles mit dem Urteil Christi, daß sie giftige, bittere, rachgierige, hämische Schlangen, Meuchelmörder und Teufelskinder sind, die heimlich stechen und Schaden tun... Summa, ein Jude steckt so voll Abgötterei und Zauberei, als neun Kühe Haare haben, das ist unzählig und unendlich, wie der Teufel, ihr Gott, voller Lügen ist... Ich will meinen treuen Rat geben: Erstlich, daß man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, daß kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich... Zum anderen, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre... Zum dritten, daß man ihnen nehme all ihre Betbüchlein und Talmudisten... Zum vierten, daß man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete hinfort zu lehren... Zum fünften, daß man den Juden das Geleit der Straße ganz und gar aufhebe“.(12)

Und dies alles solle man tun, „damit Gott sehe, daß wir Christen sind“.

Als die deutsche Bürokratie ab 1933 daran ging, dem durch christliche Predigt und Theologie über Jahrhunderte hin vorgezeichneten Weg der Diskriminierung und Entrechtung einen grausamen Höhepunkt hinzuzufügen, konnte sie sich auf „Präzedenzfälle stützen, verfügte über eine Richtschnur; die deutschen Bürokraten konnten aus einem gewaltigen Reservoir administrativer Erfahrungen schöpfen, das Kirche und Staat in fünfhundertjähriger Vernichtungsarbeit angefüllt hatten“.(13)

Betrachtet man nun noch das nahezu gänzliche Versagen der christlichen Kirchen und ihrer Mitglieder während des Dritten Reiches, die ohne nennenswerten Protest hingenommene Vernichtung von fast 6 Millionen Juden — Nachbarn, Freunde, Bekannte, christlich formuliert: die Vernichtung von 6 Millionen Nächsten — nimmt man dann noch das hinzu, was Ralph Giordano die „Zweite Schuld“ nennt, die im Verdrängen und Vergessen der ersten Schuld, des Holocaust besteht(14), scheint es durchaus gerechtfertigt zu behaupten, daß die 1900 Jahre währende anti-judaistische und antisemitische Ausprägung christlicher Theologie und Kirche, gipfelnd in der Vernichtung der europäischen Juden, in gewissem Sinne weit mehr eine christliche Katastrophe als eine jüdische war und ist.

Mit brennender Sorge und zitterndem Herzen müssen wir heute, so der katholische Theologe Gregory Baum, „der Möglichkeit ins Auge ... sehen, daß die antijüdischen Tendenzen im Christentum nicht einfach peripher und zufällig, sondern ins Zentrum der Botschaft verwoben sind.“ Solange sich die christlichen Gemeinschaften als „die Nachfolgerin Israels“ sehen, „als das neue Volk Gottes anstelle des alten“, und solange die Christenheit „Jesus als den einen Mittler verkündigt, ohne den es kein Heil gibt, solange bleibt theologisch kein Raum für andere Religionen, vor allem der jüdischen Religion... Das zentrale christliche Bekenntnis scheint die Möglichkeit eines lebendigen Judentums zu verneinen“.(15)

Der Exklusivitäts- und Absolutheitsanspruch des Christentums scheinen mir weitere wichtige Wurzeln zu sein für die aggressive Intoleranz gegenüber dem Judentum wie auch gegenüber allen anderen nicht-christlichen Religionen und Kulturen. Wer sich selbst im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit glaubt, stellt sich damit zwangsläufig auf ein Podest, von dem herab er alle jene, die seinen Standpunkt nicht teilen, unmöglich partnerschaftlich behandeln kann. Es entwickelt sich eine tiefsitzende Unfähigkeit, den Anderen in seinem Anderssein ohne Vorbehalt zu akzeptieren. Der Andersgläubige wird vielfach nur als ein zu missionierender Irrläufer betrachtet. Der Andere ist der Fremde, und das Fremde wird schnell zum Bedrohlichen, zum Feindlichen.

Hinzu kommt schließlich ein weiterer Strang christlichen Antijudaismus. Ein wesentliches, meines Erachtens zentrales und in vielen Teilen bis heute gültiges Element christlicher Judenfeindschaft findet sich in einem christlichen Geschichtsverständnis, dessen Überzeugung es ist, daß mit Jesus das Ende der Geschichte herbei gekommen sei.

Sicher, die ersten Christen lebten noch in der festen Überzeugung der Parusie, die Wiederkunft Christi und damit das verheißene Ende der Geschichte zu erleben. Aber nach dem Ausbleiben der Parusie hat man für die Juden tatsächlich die Geschichte geschlossen. Die Christen dagegen setzten die Geschichte noch fort — für sich. Sie predigten und lehrten die Wiederkunft Christi und die Erneuerung der Welt. Die Juden aber waren aus dieser Geschichte ausgeschlossen. In einer Art von „historischem Materialismus“, wie es Martin Stöhr einmal bezeichnet hat, deutet man die Geschichte definitiv, endgültig. „Kreuzigung Jesu und die Zerstörung des Tempels werden monokausal, eindimensional und diskussionslos interpretiert“, so als „verwalteten die Christen Gottes Jüngstes Gericht“.(16) Nicht wahrgenommen, bis heute in der christlichen Theologie kaum reflektiert, werden etwa die zeitgenössischen jüdischen Parallelen z.B. im 4. Esra Buch, wo eine offene Diskussion voller kontroverser Positionen, wie denn das schreckliche Ereignis, der Churban, die Zerstörung des Tempels, zu verstehen sei. „Die Christen aber wissen Grund und Folge der Ereignisse des Jahres 70 n.Chr. ganz genau zu sagen, ohne sich selbst einer Frage nach der Verwirklichung des messianischen Reiches in Raum und Zeit ernsthaft zu stellen“.(17)

Auch Gregory Baum kritisch:

„Können wir ernsthaft behaupten, daß wir in der messianischen Zeit leben, während Leiden, Ungerechtigkeit und Böses überwiegen? Es sei denn, wir würden eine so vergeistigte [und völlig individualisierte] Interpretation dieser Zeit der Erfüllung geben...“(18)

Vor diesem Hintergrund gibt Gregory Baum weiter zu bedenken:

„Das jüdische Nein nämlich zu jedem Anspruch, die messianische Zeit sei gekommen, solange noch Leid und Elend herrschen, könnte den Christen eine ständige Mahnung sein, ihren Glauben nicht als erfüllten Messianismus zu verstehen. Das jüdische Nein könnte Christen daran hindern, absolute Ansprüche auf Wahrheit und Heil zu stellen, die sie entweder für die Realität der Geschichte blind machen oder sie ihre Religion so vergeistigt auslegen lassen, daß die biblischen Verheißungen ihres Inhalts entleert werden. In Wirklichkeit erzeugte aber das unausgesprochene und uneingestandene Unbehagen der Kirche an dem Anspruch, mit Jesus sei das endzeitliche, messianische Zeitalter gekommen (wobei sie die eigene Lehre von der Parusie übersieht), den starken christlichen Ärger über das jüdische Nein sowie den brennenden Wunsch, das Judentum zu verneinen und abzuschaffen“.(19)

Wie tief die für Juden so entwürdigende, mit Blut und Tränen behaftete Denkfigur, die messianische Zeit sei mit Jesus Christus endgültig gekommen und die Geschichte des Judentums sei eine Strafgeschichte für das nicht Annehmen Jesu Christi, wie tief diese Denkfigur in den Köpfen der Christen verhaftet ist, zeigt der erschütternde Passus einer in guter Absicht gegen Antisemitismus und Versagen der Kirche gerichteten Erklärung des Bruderrates der Bekennenden Kirche aus dem Jahre 1948, also gerade mal drei Jahre nach Befreiung der Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager. Dort heißt es:

„Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, Juden und Heiden, übergegangen... Israel unter dem Gericht ist die unaufhörliche Bestätigung der Wahrheit, Wirklichkeit des göttlichen Wortes und die stete Warnung Gottes an seine Gemeinde. Daß Gott nicht mit sich spotten läßt, ist die stumme Warnung den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht“.(20)

In diesem Wort des Reichsbruderrates wird im Rückblick auf Auschwitz die Ermordung der Juden durch die Nazis als Gottes Gerichtshandeln an Israel gedeutet.

„In erschreckender Präsenz mittelalterlichen Bewußtseins wird hier in Anwendung der frühchristlichen Enterbungslehre alles auf den Kopf gestellt: Der Mord an Israel wird in den theologischen Rang des Gottesgerichts erhoben und so ausgelegt, daß dieser Mord zur Mahnung an die Juden wird, Christen zu werden“.

Stöhr kommt sodann zu einer zusammenfassenden Einschätzung, der man sich kaum ogieziehen kann. Er schreibt:

„Die Kirchen und mit ihnen weiteste Teile des Christentums befanden sich zur Zeit des Nationalsozialismus selbst dort, wo sie ausdrücklich nicht Nazis waren, in einem furchtbaren Teilkonsens mit der Kernideologie des Nationalsozialismus, dem Antisemitismus. Dies gilt es als entscheidende Voraussetzung des Nichtdialogs als auch der bescheidenen Ansätze eines Dialogs im Verhältnis von Juden und Christen sich deutlich vor Augen zu halten. Das fürchterliche Fazit bleibt, daß das Christentum in einer fast zweitausendjährigen Geschichte und Entwicklung seiner Theologie sich am Beginn dieses Jahrhunderts innerlich und oft auch äußerlich in größerer Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus befand, als mit dem Judentum, der Wurzel des Christentums, und also schließlich mit sich selbst“.(21)

Nun mag man einwenden, daß nach 1945 und insbesondere in den letzten 20 bis 30 Jahren eine Reihe einschneidender Revisionen und Veränderungen in christlicher Theologie und Kirche zu einer Neubestimmung im Verhältnis der christlichen Kirchen zum Judentum geführt haben. Zu Recht könnte man — etwa auf katholischer Seite an die ‘Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen’ (Nostra Aetate) des II.Vatikanums verweisen; oder auf die erst jüngst vollzogene Anerkennung des Staates Israel durch den Vlogian. Auf evangelischer Seite wären z.B. der Rheinische Synodalbeschluß 1980, die Studien der EKD zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum u.a.m. zu benennen. Und insgesamt könnte man hinweisen auf die umfangreichen Bemühungen von Theologen beider Konfessionen, in der Exegese zu einem neuen Verständnis der bislang antijüdisch interpretierten Stellen des Neuen Testaments zu gelangen, hinweisen auf die theologische Wiederentdeckung von Jesus dem Juden u.v.m.

So sehr diese Entwicklungen zu begrüßen und intensivst zu fördern sind, so sehr bleiben sie doch in zweierlei Hinsicht ungenügend. Zum einen bleiben kirchenamtliche und theologische Grundsatzerklärungen und exegetische Neuorientierungen auf einen kleinen Kreis akademischer und geistlicher Eliten beschränkt. Bisher zeitigen sie m.E. kaum eine durchschlagende Wirkung in die Tiefe und Breite von Gemeindeleben und Verkündigung hinein. Die Kehrtwende in der antijüdischen Grundgestalt von Kirche und Theologie berührt bislang allenfalls die Spitze des Eisberges. Deshalb stehen — zweitens — theologische Neubesinnung und exegetische Neuorientierung in der Gefahr, einem bloßen Laborieren an den Symptomen gleichzukommen, anstatt sich den tiefer liegenden Ursachen des Problems zuzuwenden. Es ist, als ob man einem zurecht häßlich gewordenen Gebäude einen neuen Farbanstrich verpaßt, aber die Architektur des Gebäudes unangetastet läßt.

Einen kritischen Pfeiler der Architektur hat Rosemary Radford-Ruether dingfest gemacht: die Christologie. Es ist eine Sache, und eine vergleichsweise einfache dazu, Jesus als Juden wieder zu entdecken und zu neuem Recht zu verhelfen. Es ist eine andere, unweit schwerer wiegende Angelegenheit, eine Christologie zu entwerfen, die in ihrer Konsequenz nicht antijüdisch sich auswirkt. Mit Ausnahme des äußerst bemerkenswerten Versuches von Friedrich Wilhelm Marquardt, eine Christologie zu entwickeln, die das „christliche Bekenntnis zu Jesus dem Juden“ in ihren Mittelpunkt stellt,(22) ist es wohl kein Zufall, daß fast alle im christlich-jüdischen Dialog hervorragendes leistenden Theologen beider Konfessionen, das Problem der Christologie wenn überhaupt nur gelegentlich streifen.

Üblicherweise finden wir in der Antisemitismus-Forschung eine Einteilung in drei Perioden: Dem antiken-heidnischen Antisemitismus folgt der christlich-mittelalterliche, dem sich der säkular-neuzeitliche anschließt. Nun gibt es eine durchaus vehemente Diskussion über die Wurzeln des neuzeitlichen Antisemitismus. Eine Diskussion, in deren Verlauf „sich nahezu alle Antisemitismusforscher, so heftig sie sich auch sonst streiten mögen“, darin einig geworden sind, „daß der rassische Antisemitismus kein mittelalterliches, sondern ein spezifisch neuzeitlich-säkulares Phänomen ist“.(23) In der Tat waren die modernen Konzeptionen von ‘Rasse’ dem Mittelalter nicht eigen. Die Erkenntnis aber, daß ein biologistischer Begriff von ‘Rasse’ ein typisches Produkt des naturwissenschaftlichen Denkens des 19. Jahrhunderts ist, verstellte den Blick für die Wahrnehmung einer Reihe von Aspekten, die eine jahrhundertelange Vorgeschichte der Entstehung des biologistischen Rassebegriffs des 19. Jahrhunderts enthüllen.

Bereits im Mittelalter finden wir nämlich einen auf körperliche Eigenschaften bezogenen Vulgärantisemitismus. So etwa wenn von einem typisch jüdischen Körpergeruch die Rede ist, oder vom sog. ‘Fluch der zwölf Stämme’, demzufolge die jüdischen Nachfahren der Stämme Israels mit angeborenen körperlichen Mängeln behaftet sind, die sie als Strafe für die Kreuzigung Christi mit sich tragen:

„Abkömmlinge des Stammes Simeon bekommen alljährlich blutende Wunden an Händen und Füßen. Asher: Ihre rechte Hand ist kürzer als die linke. Naphtali: Sie haben vier große Hauer wie Schweine und Schweinsohren. Levi: Sie können nicht nach vorne spucken, daher rinnt ihnen die Spucke in den Bart. Joseph: Frauen über 33 haben im Schlaf lebendige Würmer im Mund. ... Varianten, z.B. auch die Meinung, männliche Juden menstruierten...“(24)

In der Regel, so berichten die gleichen Quellen, verschwinden diese körperlichen Mängel aber, wenn Juden sich taufen lassen. Aber auch hier gibt es „beunruhigende Abweichungen von dieser beruhigenden Norm“. So wurde etwa 1130 „zur Zeit einer tiefen Spaltung der römischen Kurie Kardinal Petrus Pierleone von der Mehrheit als Anaklet II. zum Papst gewählt, während die Minderheit Innozenz II. zum Gegenpapst wählte. Bei dem Streit, der im folgenden Jahrzehnt ganz Europa erfaßte, ging es um viele wichtige Themen, aber es ist bezeichnend, daß Anaklets Feinde immer wieder auf seine jüdische Herkunft verwiesen. [Urenkel eines römischen Juden, der konvertierte]. Kein geringerer als der Hl. Bernhard von Clairvaux hielt es für eine Beleidigung Christi, daß auf dem päpstlichen Stuhl der Nachkomme eines Juden sitzen sollte. Ein Autor schildert Anaklet als ‘dunkel und bleich, eher wie ein Jude oder Araber als wie ein Christ’, mit mißgestaltetem Körper und ‘dem schlechten Geruch seines Ahnherrn, der ein böser Wucherer war’“.(25) An diesen wenigen Beispielen wird bereits deutlich, „daß es im Mittelalter bei Angriffen auf das Judentum nicht immer nur um Religion und Theologie ging“.(26)

Wirklich spannend und ergiebig wird die ganze Sache, wenn wir uns den Zwangs- und Massenkonversionen des 14. und 15. Jahrhunderts auf der iberischen Halbinsel (Spanien und Portugal) zuwenden. Beginnend mit dem Jahre 1391 sind in den folgenden hundert Jahren drei große Wellen von antijüdischen Pogromen und ihnen folgenden Massenkonversionen sowie Auswanderungswellen auszumachen. Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung 1492, als Isabella und Ferdinand die noch in Spanien verbliebenen Juden vor die Alternative zwischen Taufe und Vertreibung stellten. Einen gewissen Endpunkt markierte im Jahre 1497 der Erlaß zur Zwangstaufe aller Juden des Königs Emanuel von Portugal, wohin fünf Jahre zuvor viele Juden geflohen waren. Man schätzt, daß etwas mehr als die Hälfte der in diesem Zeitraum in Spanien und Portugal lebenden Juden — und nirgendwo sonst in Europa lebten zu dieser Zeit mehr Juden, als hier auf der iberischen Halbinsel — die Taufe der Auswanderung vorzogen. Der Assimilierung und Integration der ‘neuen Christen’, der conversos, schien nun nichts mehr im Wege zu stehen, das Problem der Judenfrage seine Antwort gefunden zu haben.

In der Folge aber setzte ein höchst merkwürdiger, aufschlußreicher und fast paradoxer Prozeß ein. Schon lange hatten spanische Juden noch vor ihrer Konversion eine Fülle bedeutender Wirtschafts- und Verwaltungsfunktionen wahrgenommen (Finanzverwalter, Steuereintreiber, Ratgeber am Hofe Kastiliens und Aaragoniens). Die conversos konnten nun diese Tradition fortsetzen, gefördert noch dadurch, daß ihrem Aufstieg nun keine Religionsschranken mehr im Wege standen. Im Ergebnis können wir eine erstaunliche „Aufstiegsmobilität“ (Y.H. Yerushalmi) unter den conversos beobachten. Sie besetzen zunehmend wichtige und hohe Positionen in akademischen, wirtschaftlichen, militärischen und geistlichen Bereichen. Dieser Prozeß rief ab der Mitte des 15. Jahrhunderts zunehmend das Mißbehagen der alten hispano-christlichen Gesellschaft hervor. Dabei spielte es keine Rolle, daß die große Mehrheit der conversos arm waren und einfachen Berufen nachgingen. Ins Auge stachen die spektakulären Aufstiege in hohe Positionen prominenter conversos. Immer mehr sah man die einzige Erklärung hierfür darin, daß die conversos „trotz der Taufe ihre sprichwörtlichen ‘jüdischen’ Charaktereigenschaften beibehalten hatten: Schläue, Gewitztheit und grenzen- und skrupellose Gier nach Geld und Macht“.(27) Äußerst zutreffend beschreibt der Historiker Yosef H. Yerushalmi den so entstehenden Konflikt wie folgt:

„Die zunehmende Spannung in der spanischen Gesellschaft führte bald zu einem echten Paradox. Im ganzen Mittelalter hatte das christliche Europa sein Judenproblem im wesentlichen eindimensional gesehen — nämlich als Bekehrungsproblem. Eine eigene Gruppe bildeten die Juden nur aufgrund ihrer hartnäckigen Weigerung, die herrschende christliche Wahrheit zu akzeptieren. Sollten sie doch konvertieren, würden sie als klar erkennbare Gruppe verschwinden, und das Problem wäre gelöst. Dieser paneuropäische Traum war in Spanien mittlerweile nahezu wahr geworden, und es entbehrt nicht der Ironie, daß erst jetzt mehr und mehr Spanier entgeistert bemerkten, daß die massenhaften Konversionen das Problem keineswegs gelöst, sondern es eher noch verschärft hatten. Solange die Juden der Religion ihrer Väter treu geblieben waren, hatte man sie durch restriktive Gesetzgebung auch in genau definierbaren Schranken halten können. In bezug auf die vielen conversos aber war das umfassende Korpus antijüdischer Gesetzte sozusagen über Nacht Makulatur geworden. Formal und juristisch waren sie jetzt Christen und konnten tun und lassen, was sie wollten — für viele Spanier eine unerträgliche Sachlage. Ein kritischer Punkt war erreicht. An die Stelle des alten Mißtrauens gegenüber dem Juden als Outsider trat die noch viel beunruhigendere Angst vor dem converso als Insider“(28).

In der Folgezeit tauchen zunehmend Texte und Überlegungen auf, die einen protorassistischen Charakter haben, indem sie zunehmend von der Unmöglichkeit einer echten Wandlung der Juden sprechen aufgrund unwandelbar körperlich-biologischer Eigenschaften. Diese Entwicklung mündet schließlich in dem Versuch, juristisch verwertbare Definitionen zu schaffen, um die conversos im Zaum zu halten: Es kam zur Doktrin der limpieza de sangre — der Lehre von der ‘Reinheit des Blutes’.

Nach dem Wegfall des Religionsunterschiedes, den es ja — zumindest formal — nicht mehr gab, blieb zur Legitimierung diskriminierender Gesetzgebungen gegen die conversos und ihre Nachkommen nur noch die rassische Grundlage übrig. Auf der Grundlage der ‘Blutreinheitsgesetze’ konnte die Inquisition gegen die conversos vorgehen, und tat das auch. „Reinheit des Blutes war wichtiger geworden als Reinheit des Glaubens“.(29) Bis ins 18. Jahrhundert hinein bilden die limpieza de sangre in Spanien und Portugal die Grundlage für eine diskriminierende Beschränkung der conversos und ihrer Nachkommen was deren gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg betrifft. Ohne die Vorlage Generationen zurückreichender Stammbäume und Ahnentafeln, die über Reinheit oder Unreinheit des Blutes Auskunft geben, ist kein gesellschaftliches Fortkommen denkbar. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, „daß das spanische Wort raza (Rasse) in Sebastian de Covarrubias’ großem Wörterbuch des Kastilischen 1611 durch folgenden kuriosen, aber erhellenden Vergleich definiert wurde: ‘Raza — die Klasse reinrassiger Pferde, die mit einem Brandmal gekennzeichnet werden, damit man sie als solche erkennen kann. Bei der Abstammung [eines Menschen] bezeichnet raza etwas Schlechtes, wie wenn einer maurischer oder jüdischer Herkunft ist’“.(30) 1623 verkündete der Portugiese Vicente da Costa Mattos: ‘Ein wenig jüdisches Blut reicht aus, um die Welt zu zerstören’.

Sind dies bloße rhetorische Floskeln? Oder sind diese Anschuldigungen biologisch und genetisch gemeint? Das Urteil sei dem Leser überlassen:

„In einer Verteidigung der Blutreinheitsgesetze erklärt Juan Escobar del Corro 1637 kategorisch, daß der Fötus im Augenblick der Empfängnis die moralischen Merkmale der Eltern erbt; folglich sei die Sünde eines einzigen Familienmitgliedes der Beweis für unreines Blut in den Adern aller anderen. Andere Autoren werden noch deutlicher. Fray Francisco de Torrejoncillo liefert 1673 in seiner Centinela conra judios (Wacht gegen die Juden) [folgende] Definition von ‘Juden’, ...: ‘Um ein Feind der Christen, Christi und seines Göttlichen Gesetzes zu sein, muß man nicht von jüdischen Eltern abstammen. Ein Elternteil genügt. Es ist belanglos, wenn der Vater nicht jüdisch ist; es reicht schon, wenn die Mutter es ist. Und wenn sie es nicht ganz ist, genügt die Hälfte; und auch wenn es weniger ist, genügt ein Viertel oder ein Achtel. Und in unseren Tagen hat die Heilige Inquisition festgestellt, daß es bis zum einundzwanzigsten Grad der Blutsverwandtschaft Fälle von heimlich praktiziertem Judentum gibt’.“(31)

Fray Francisco betont einen weiteren Aspekt, in dem das Biologische noch deutlicher wird:

„In den Königs- und in vielen Fürstenpalästen müssen die Ammen, die die Söhne stillen, alte Christinnen sein, denn es wäre nicht ziemlich, wenn Fürstensöhne mit jüdischer Niedertracht gesäugt würden, denn diese Milch kann, da sie von Infizierten stammt, nur perverse Neigungen hervorrufen...“.(32)

Ein weiteres Beispiel biologisch-rassischer Argumentation findet sich bei Fray Prudencio de Sandoval, der 1604 in seiner Biographie Karls V. Judentum mit Negertum vergleicht:

„Ich tadle nicht das alle umfassende christliche Mitleid, denn dann wäre ich in einem tödlichen Irrtum befangen, und ich weiß auch, daß es im Angesicht Gottes keinen Unterschied zwischen Christen und Juden gibt, denn Einer allein ist der Herr über alle. Wer wollte aber leugnen, daß sich bei den Nachkommen der Juden die uralte böse Neigung zur Undankbarkeit und Verständnislosigkeit erhalten hat, genau wie bei den Negern die unauslöschliche Eigenschaft der Schwärze? Denn auch wenn die Letzeren sich tausendmal mit weißen Frauen vereinigen sollten, so werden doch die Kinder mit der schwarzen Haut ihrer Väter geboren. Ebenso ist es nicht genug, wenn der Jude drei Viertel Aristokrat oder alter Christ ist, denn schon eine einzige Abstammungslinie besudelt und verdirbt ihn“.(33)

Yerushalmi urteilt abschließend: „Der moderne Rassebegriff ist das zugegebenermaßen noch nicht ganz, aber es fehlt auch nicht mehr viel“.(34)

Nun, wie erwähnt, gilt im Rahmen der derzeitigen Forschung der rassische Antisemitismus als Ausdruck eines säkularen Bruchs mit der Vergangenheit. Die rassische Komponente gilt allgemein als dem Wesen nach neuzeitlich, als fundamentaler Bruch mit dem Judenbild des christlichen Mittelalters, ja geradezu als dessen Antithese. Dieser Befund läßt sich in Anbetracht der hier von mir nur in Ansätzen vorgetragenen Ergebnisse neuerer Forschungen zu protorassistischen Denkformen im Mittelalter und vor allem im Angesicht des schon fast unverblümt rassistischen Denkens auf der iberischen Halbinsel des 14. und 15. Jahrhunderts nicht mehr so ohne weiteres aufrecht erhalten. Hier drängt sich die Dringlichkeit neuer Forschungsbemühungen auf. Ob man dabei von der Erforschung eines latenten antijüdischen Rassismus spricht, oder der des Protorassismus, oder einfach von der Vorgeschichte des rassischen Antisemitismus, bleibt sekundär. In jedem Falle überwiegen auch hier bei allen Wandlungen die Kontinuitäten und vor allem die in christliche Denkbewegungen zurückreichenden Wurzeln des rassischen Antisemitismus. Der rassische Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts fiel nicht vom Himmel, kam nicht aus einem geschichtslosen Nichts, sondern ist neben vielem anderen auch eine stringente Weiterentwicklung eines nicht mehr hinreichend greifenden Antijudaismus.

Der israelische Historiker Shmuel Ettinger, einer der international anerkanntesten Experten auf dem Feld der Anitsemitismusforschung, stellte die These auf, daß „ein sich entwickelnder Antisemitismus in christlichen und moslemischen Ländern sich anitjüdischer Stereotpyen bediente, die ein wichtiges Element in beiden Kulturbereichen darstellten“.(35) Demzufolge sah er auch im nazistischen Antisemitismus eher eine Fortentwicklung dieser Stereotypen, „obwohl gewisse neue Elemente hinzukamen, insbesondere der Wille, aus der Stereotypisierung praktische, mörderische Konsequenzen zu ziehen.“(36) Und sein it lege, Yehuda Bauer, sicher einer der derzeit bedeutendsten Historiker auf dem Gebiet der Erforschung des Holocaust und des Antisemitismus, schreibt kommentierend:

„Das Judentum als mythischer Gegner der Nazis [ist] nur durch die jahrtausendealte Geschichte der Judenfeindschaft erklärlich, und es ist wohl kaum zu leugnen, daß die meisten Elemente, die ... für den nazistischen Antisemitismus als maßgebend angesprochen [werden können], in dieser Geschichte zu finden sind. Der Antisemitismus, auch der nazistische, kann also nicht als Vorurteil charakterisiert und beiseite geschoben werden, als wäre er etwa mit der Türkenfeindschaft in der heutigen Bundesrepublik vergleichbar. Antisemitismus beinhaltet eben auch Vorurteil, er ist aber, den Auslegungen Ettingers folgend, hauptsächlich eine tiefgehende kulturelle Erscheinung...“(37)

Bauer folgert aus diesen Zusammenhängen, der Antisemitismus sei im Einflußbereich des christlichen Europas Bestandteil eines „kulturellen Codes“ geworden.

Trifft diese Analyse zu, ist der Antisemitismus im Laufe seiner zweitausendjährigen Geschichte im christlichen Abendland bis hin in Neuzeit und Moderne wirklich zu einem kulturellen Code mutiert, dann wirft dies auch ein grelles Licht auf das Ausmaß und den Umfang des Unterfangens, diesen Code zu knacken und zu verändern. Man muß sich hierbei im Klaren darüber sein, gegen die tiefsitzende Tradition und Prägung zweier Jahrtausende ankämpfen zu müssen. Für diese ungeheuerlich anmutende Aufgabe bedarf es einer Menge Geduld, Zähigkeit und Entschiedenheit. Vor allem aber verlangt es in einem noch viel radikaleren Maß, als wir dies bisher vermuteten, die Grundlagen und Fundamente unserer Zivilisation kritisch zu befragen. Nach Auschwitz allerdings sollte uns keine Mühe zu groß, keine Anstrengung zu schwer, und kein Tabu zu unantastbar sein, um uns dieser Aufgabe zu stellen.


ANMERKUNGEN:

(1) Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd.1, Frankfurt 1990, S.15.
(2) Vgl.: Rosemary Ruether, Nächstenliebe und Brudermord, München 1978.
(3) Zu Eusebius v. Caesarea siehe: Kirche und Synagoge, Bd.1, München 1988, S.153f.
(4) zit.n.: Rudolf Pfisterer (Hrsg.), Von A bis Z. Quellen zu Fragen um Juden und Christen, Neukirchen-Vluyn 1985, S.112.
(5) zit.n.: Rudolf Pfisterer, op.cit., S.113.
(6) zit.n.: Rudolf Pfisterer, op.cit., S.117.
(7) zit.n.: Wolfgang Wirth, Judenfeindschaft von der frühen Kirche bis zu den Kreuzzügen, in: Antisemitismus, hrsg.v. Günther B. Ginzel, Köln 1991, S.58; siehe auch: Kirche und Synagoge, op.cit., S.72ff.
(8) zit.n.: Rudolf Pfisterer, op.cit., S.13.
(9) zit.n.: Gerhard Czermak, Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung, Nördlingen 1989, S.27.
(10) zit.n.: Friedrich Heer, Gottes erste Liebe, Berlin 1986, S.63.
(11) zit.n.: Gerhard Czermak, op.cit., S.27.
(12) zit.n.: Rudolf Pfisterer, op.cit., S.14f.
(13) Raul Hilberg, op.cit., S.16.
(14) Vgl.: Ralph Giordano, Die zweite Schuld, Hamburg 1987.
(15) Gregory Baum, in: Rosemary Ruether, op.cit., S.13.
(16) Martin Stöhr, Gespräche nach Abels Ermordung, in: Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945, hrsg.v. Micha Brumlik/Doron Kiesel et.al., Frankfurt 1988, S.198.
(17) Martin Stöhr, ebda.
(18) Gregory Baum, op.cit., S.25.
(19) Gregory Baum, op.cit., S.26f.
(20) zit.n.: Martin Stöhr, op.cit., S.198f.; das Dokument ist vollständig abgedruckt in: Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, hrsg.v. Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix, München 1988, S.540-544.
(21) Weder mir noch Martin Stöhr gelang es, den Aufsatz ausfindig zu machen, aus dem dieses Zitat stammt. Ausdrücklich bestätigte Stöhr jedoch auf Anfrage Aussage und Formulierung dieser Passage als seine eigenen Worte.
(22) Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus dem Juden, 2 Bde., Gütersloh 1990/91.
(23) Yosef H. Yerhushalmi, Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte, Berlin 1993, S.54.
(24) Yosef H. Yerushalmi, op.cit., S.71, Anm.4.
(25) Yosef H. Yerushalmi, op.cit., S.55.
(26) Yosef H. Yerushalmi, ebda.
(27) Yosef H. Yerushalmi, op.cit., S.57.
(28) Yosef H. Yerushalmi, op.cit., S.57f.
(29) Yosef H. Yerushalmi, op.cit., S.59.
(30) Yosef H. Yerushalmi, op.cit., S.61.
(31) zit.n.: Yosef H. Yerhushalmi, op.cit., S.62.
(32) zit.n.: Yosef H. Yerhushalmi, ebda.
(33) zit.n.: Yosef H. Yerhushalmi, ebda.
(34) zit.n.: Yosef H. Yerhushalmi, ebda.
(35) zit.n.: Yehuda Bauer, Antisemititsmus und Krieg, in: Der nationalsozialistische Krieg, hrsg.v. Norbert Frei/Hermann Kling, Frankfurt/New York 1990, S.149.
(36) Yehuda Bauer, op.cit., S.149.
(37) Yehuda Bauer, ebda.

 

Dr. Christoph Münz ist Historiker und freier Journalist;
Mitglied im Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates;
Herausgeber von COMPASS-Infodienst
für christlich-jüdische und deusch-israelische Tagesthemen im Web
© Copyright beim Autor;
Erstveröffentlichung 1999: http://www.jcrelations.net


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