Festakt: 70 Jahre Deutscher Koordinierungsrat
Festrede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble
27. Oktober 2019
Römer / Kaisersaal
Frankfurt/M.
Festrede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble am Sonntag, 27. Oktober 2019, im Kaisersaal des Römers, Frankfurt/M.
Anrede
Heute hätte ich gern keinen aktuellen Anlass, zu Ihnen zu sprechen.
Der Überfall auf die Synagoge in Halle hat uns aber vor Augen geführt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns bewegen. Wie sicher wir uns im 70. Jahr des Bestehens der Bundesrepublik wägen – und wie leicht diese Sicherheit doch zu erschüttern ist.
Eine Sicherheit im Übrigen, die viele jüdische Mitbürger schon lange nicht mehr spüren, was für unser Land zutiefst beschämend ist.
Wir feiern dieses Jahr 70 Jahre Grundgesetz. Demokratie und Zivilität, die sich in Deutschland ausdrücklich im negativen Bezug zur NS-Diktatur und zum Holocaust begründen, sind verletzlich.
Der freiheitliche Rechtsstaat ist es auch. Vor allem aber sind es die Menschen in unserem Land.
Sie alle haben ein Recht darauf, in Sicherheit zu leben – ohne Ansehen der Religionszugehörigkeit, ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts.
Das ist die Grundlage für das Wohlergehen der Gesellschaft. Dafür muss der Staat sorgen, und deshalb gilt es, offenkundiges Versagen schnell und gründlich aufzuarbeiten.
Zur Wahrheit gehört aber auch: Wie sehr sich die Sicherheitsbehörden auch anstrengen, wie sehr Prävention ausgebaut und rechtliche Regelungen angezogen werden – gänzlich auszuschließen oder zu verhindern sind Übergriffe nicht.
Wer anderes behauptet, verkennt die menschliche Natur und überfordert den Rechtsstaat und dessen Institutionen.
Überhöhte Erwartungen sind riskant – sie werden enttäuscht und tragen zum Vertrauensverlust in die Demokratie bei.
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“
Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum aus dem Jahr 1964 ist an Klarheit nicht zu überbieten: Der Rechtsphilosoph beschreibt, dass Freiheitsansprüche und staatliches Handeln fortwährend neu auszutarieren sind. Und er verdeutlicht das Risiko, das damit verbunden ist:
„Anderseits kann er (der Rechtsstaat) diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“
Böckenfördes Überlegungen sind vor dem Zweiten Vatikanum entstanden – also in den Debatten um den schwindenden Einfluss der Kirchen in modernen Gesellschaften.
Mitte der sechziger Jahre war die Mitgliedschaft in einer der beiden großen christlichen Kirchen vielen Menschen noch selbstverständlich, auch wenn sie nicht mehr unbedingt die traditionelle Volksfrömmigkeit lebten, die den Vorkriegsgenerationen in weiten Teilen unseres Kontinents eigen war.
Diese Entwicklung hing auch mit dem Elitenversagen zusammen, das den Nationalsozialismus in erheblichem Maß begünstigt hatte und dessen sich auch weite Teile der Kirchen, namentlich die Deutschen Christen, schuldig gemacht hatten.
In der frühen Bundesrepublik übernahmen Mitglieder der Bekennenden Kirche wichtige Ämter – und Menschen, die guten Willens waren, deren Demut und deren Schuldbekenntnis die Voraussetzung für Versöhnung bildeten. Sie beteiligten sich aus christlicher Überzeugung am Aufbau der Bundesrepublik.
In diese Zeit fällt der vorsichtige Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland.
So selbstverständlich sich deutsche Juden vor 1933 als Teil der Gesellschaft fühlten, auch wenn sie antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren, weil sie über Generationen hier verwurzelt und integriert waren, so wenig selbstverständlich war ihre Rückkehr nach der Erfahrung des Holocaust. Oder die Entscheidung der wenigen Überlebenden der Shoah, in Deutschland zu bleiben.
„Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zueinander finden“, mahnte damals der Philosoph Karl Jaspers. Er meinte nicht ausschließlich den Dialog zwischen Juden und Christen, aber für beide hat seine Feststellung eine besondere Bedeutung.
Wie schwer muss es für die Überlebenden gewesen sein, sich den Schuldigen zuzuwenden!
Zum Teil waren in den jüdischen Gemeinden Zuwanderer aus anderen Ländern prägend – wie in Hamburg, wo sich eingewanderte Juden aus Persien mit den wenigen überlebenden Hamburger Juden und deren Kindern zusammenfanden. Als Zeichen der Hoffnung bauten diese Gemeinden neue Synagogen.
Es verdient große Anerkennung, dass ein Miteinander entstand und der Dialog in Gang kam. Dass sich so viele Juden fanden, die offen für einen Dialog waren – mit Christen, die sich mit der Schuldfrage auseinandersetzen und die Ursachen des christlichen Antijudaismus erforschen und bekämpfen wollten.
Diese neue Beziehung zwischen Juden und Christen war die Grundlage für die christlich-jüdische Zusammenarbeit in unserem Land und für den interreligiösen Dialog, für den Sie heute stehen. Mit Ihrem Eintreten für Verständigung und gegen Antisemitismus.
Wir wissen, der Antisemitismus hat viele Facetten.
Judenfeindschaft tritt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen auch in Deutschland längst wieder zutage – offen, aber auch verdeckt.
Die Auseinandersetzungen um das Verbot der BDS-Kampagne und der Konflikt um die Leitung des Jüdischen Museums in Berlin haben es uns vor Augen geführt: Kritik an der Politik der israelischen Regierung kippt leicht in Antijudaismus, Antizionismus, Antisemitismus. Einerseits.
Andererseits darf die hohe Sensibilität und Wachsamkeit, zu der wir angesichts der wachsenden antisemitischen Tendenzen verpflichtet sind, auch nicht dazu führen, das Notwendige und Gutgemeinte ins Gegenteil zu verkehren.
Dann nämlich, wenn jede Kritik an der israelischen Regierung, die man berechtigt üben darf, oder wenn – wie gerade geschehen – jeder politische Kontakt mit Staaten, die Israel bedrohen, unter Antisemitismus-Verdacht gestellt wird.
Es braucht das richtige Maß: Wir haben da konsequent zu sein, wo man konsequent sein muss: im Schutz von Juden und jüdischer Einrichtungen, in der Verfolgung von Straftaten, im offensiven Vertreten unserer Wertmaßstäbe.
Aber wir sollten uns die Fähigkeit zu differenzieren bewahren. Denn auch der Kampf gegen Antisemitismus lässt sich politisch instrumentalisieren – so unabdingbar er ist.
Richtig ist: Wir sind offenkundig nicht so weit gekommen in der Verteidigung unserer Werte, wie wir hofften.
Und doch haben die christlich-jüdischen Gemeinschaften viel erreicht: Sie prägen in entscheidender Weise die religiöse Toleranz in unserer Gesellschaft.
Ein Wert, von dem wir alle profitieren, und es ist infam, dass ausgerecht sie heute unter der Gefahr von Terroristen, Radikalen jeder Couleur, Antisemiten und Rechtsextremisten besonders leiden.
Die Gesellschaft hat sich in den vergangenen 70 Jahren erheblich gewandelt – gerade auch im Blick auf Glaube und Religion.
Unsere Normalität ist längst eine andere als in den Gründungstagen der christlich-jüdischen Gesellschaften, vielfältig und säkular.
Die Emanzipationsbewegung der späten sechziger Jahre, Zuwanderung von Muslimen und orthodoxen Christen, die Globalisierung und – nicht zuletzt – die Deutsche Einheit haben die Vielfalt gefördert und zugleich die Säkularisierung vorangetrieben.
Die jüdisch-christliche Deutung des Lebens und der Welt ist längst nicht mehr das einende Dach über unserer Gesellschaft.
Die Gruppe derer, die nicht Mitglied einer Glaubensgemeinschaft sind, ist kontinuierlich und nach der Wiedervereinigung sprunghaft gewachsen: Mehr als ein Drittel der Menschen in Deutschland ist heute konfessionslos.
Wer – wie manche meiner Parteikollegen – 1990 die Erwartung hatte, mit dem Beitritt der neuen Bundesländer werde unser Land protestantischer, hat die Oppositionsbewegung der DDR verkannt. Sie fand Schutz „unter dem Dach der Kirchen“.
Auch waren Christen, die in der DDR aufrecht ihr Kreuz getragen haben, Teil dieser Bewegung. Aber die Mehrheit der Menschen hatte sich in vierzig Jahren DDR vom Christentum losgesagt.
Der Deutsche Bundestag ist übrigens in dieser Hinsicht nicht repräsentativ für die gesamte Gesellschaft: Je 25 Prozent der Abgeordneten gehören einer der beiden großen christlichen Kirchen an und nur 3 Prozent fühlen sich keiner Konfession zugehörig.
47 Prozent der Abgeordneten machen keine Angabe zu Glaubensfragen – sie betrachten offenbar Religion oder Weltanschauung als reine Privatsache.
Vielleicht teilen sie auch die These des israelischen Historikers Yuval Noah Harari, der feststellt: Die Menschheit im 21. Jahrhundert muss zu keinem Gott mehr beten.
Harari erhebt die Digitalisierung in den Rang einer Religion, er hat den Begriff der Datenreligion geprägt und gesteht dem in alle Lebensbereichen hineinregierenden binären Code spirituellen Charakter zu.
Er sieht darin ein neues Dogma, das die menschliche Sehnsucht nach Gesundheit oder Unsterblichkeit, nach Glück, Erfüllung und Macht aufgreife und ein neues Heilsversprechen gebe. „Sobald die Macht von den Menschen auf Algorithmen übergeht, könnten humanistische Projekte irrelevant werden“ – so Hararis Warnung angesichts der nicht mehr aufzuhaltenden und schwer zu begrenzenden Allmacht der Daten und der Entwicklung Künstlicher Intelligenz.
In dem Maße, in dem die deutsche Gesellschaft den Bezug zu den sie prägenden Religionen verliert, kommt ihr das Verhältnis zu den Ursprüngen unserer humanistischen Werte abhanden.
Der Begründungszusammenhang dieser Werte ist noch da und nicht zu übersehen. Aber in der säkularen Gesellschaft erkennen viele Menschen das nicht mehr. Sie leben Glaube und Religion nicht, sie setzen sich also auch kaum mehr mit anderen Menschen auseinander, die gläubig sind.
Bei Taufen und Hochzeiten versammeln sich Familien in Kirchen, denen anzumerken ist, wie fremd diese Umgebung auf sie wirkt. Wohl wird auf das Zeremoniell wert gelegt, aber die Kirchen müssen sich eingestehen, dass sie oft nur noch als traditionelle Kulisse dienen – Glaubensbekenntnisse werden nicht mehr mitgesprochen.
Mit dem Verlust der „religiösen Musikalität“ weiter Teile der Gesellschaft geht auch das früher selbstverständliche Wissen über biblische Gleichnisse, Heiligenlegenden oder auch nur die Herkunft von Redensarten verloren.
Das ist ein schleichender Prozess im Westen, und im Osten ist es die Folge der bewusst vorangetriebenen Entkirchlichung aus politisch-ideologischen Gründen. Das Resultat: Glaubensferne und ein Kulturverlust. Und Skepsis oder Unverständnis gegenüber religiösen Menschen.
Was bedeutet diese Veränderung für die europäischen Werte? Sie speisen sich aus verschiedenen Quellen – zu den ältesten zählen nun einmal die jüdische und die christliche Religion.
Sie haben sich vermischt mit den Werten der Aufklärung. Auch sollte niemand unterschätzen, wie sehr sie sich auch aus der Ablehnung und der Kritik an den Glaubensgemeinschaften und ihren Institutionen herausgebildet haben.
Die Reformation wollte Christen von Fehlentwicklungen in der katholischen Kirche befreien, die Französische Revolution bekämpfte Krone und Klerus. So ergab sich ein europäisches Amalgam von ethischen und politischen Grundwerten. Was trägt aber das 21. Jahrhundert zu dieser Mischung bei?
Der jüngste Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung hat den Zusammenhang zwischen Demokratieverständnis und Religiosität der Menschen in Deutschland untersucht: „Die Demokratie in Deutschland funktioniert gut“, sagen 78 Prozent aller befragten Christen, 75 Prozent der in Deutschland geborenen Muslime und 81 Prozent der neu zugezogenen Muslime.
Kritischer erscheinen demnach Menschen, die nicht religiös sind:
Aber auch unter ihnen halten 62 Prozent die Demokratie für „gut funktionsfähig“, deutlich weniger als die bekennenden Christen.
Auch diese Gegenwartsanalyse zeigt:
Es braucht die Einmischung, das Engagement, die laute Stimme derer, die für die Werte unserer Demokratie und für die Anbindung an Werte der jüdischen und der christlichen Religion und Tradition einstehen.
Paul Tillich hat einmal gesagt, Religion sei das, was uns unbedingt angeht – „the ultimate concern.“
Glaube kann demnach als das begriffen werden, was alltägliche Lebensorientierung gibt und Sinnfragen beantwortet.
Eine Gesellschaft, in der viele Menschen Überfluss kennen und unter Überdruss leiden, in der Radikalität und Wut zunehmen, tut gut daran, sich auf ihre „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ zu berufen – das eigene Wohlergehen im Zusammenhang zu sehen zum globalen Gemeinwohl.
Und sie muss immer wieder an den Wert der Verständigung erinnert werden.
Das macht die Arbeit Ihrer Einrichtungen so wertvoll für unsere Gesellschaft.