Die Revolution der biblischen Botschaft


Rabbiner-Brandt-Vorlesung 2014

Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising / Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz[1]


10. November 2014, München,
Gemeindezentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern



Vor 76 Jahren – in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – wurden in Deutschland Synagogen niedergebrannt, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert und Juden in Konzentrationslager gesteckt. Die Reichspogromnacht markierte den Beginn einer neuen Phase der Judenverfolgung, die mit dem Boykott jüdischer Geschäfte 1933 und dem schrittweisen Ausschluss von Juden aus dem gesellschaftlichen Leben begonnen hatte und zur Ermordung der europäischen Juden führen sollte. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten speiste sich aus unterschiedlichen Quellen. Doch die Nazis sahen in den Juden nicht einfach einen Sündenbock. Ihr Hass richtete sich nicht zufällig gegen die Juden und alles Jüdische. Mit der Ermordung des jüdischen Volkes wollten sie auch die Stimme vom Sinai zum Schweigen bringen, wie es Benedikt XVI. in Auschwitz formuliert hat.

Der Nationalsozialismus stellt den wohl radikalsten Gegenentwurf zur biblischen Botschaft dar. Die Verherrlichung der Stärke und die Verachtung von Schwäche, der Kult der Gewalt und des Todes, die Missachtung von Recht und Moral, der Glaube an die biologisch bedingte Ungleichheit der Menschen, das Recht des Stärkeren, die Macht der Instinkte, das raunende Gerede von Schicksal – das alles steht in völligem Gegensatz zur biblischen Botschaft. Papst Pius XI. hatte Recht, als er 1937 in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ den Nationalsozialismus als „Neuheidentum“ bezeichnete.

Ebenso hatte er Recht, als er ein Jahr später in einer Ansprache vor belgischen Pilgern erklärte: „Wir sind alle geistlich Semiten.“ Mit der ungewöhnlichen Wortwahl reagierte der Papst auf den Antisemitismus und erinnerte die Pilger daran, dass der christliche Glaube nicht in altgermanischen oder antiken Mythen wurzelt, sondern in den hebräischen Schriften der Bibel. Ganz klar erkannte Pius XI., dass der Antisemitismus nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschenwürde ist, sondern auch die christliche Identität zerstört. Deshalb plante er, eine Enzyklika gegen den Antisemitismus zu veröffentlichen.[2] Infolge seines Todes 1939 konnte dieser Plan jedoch nicht verwirklicht werden. Dass die Christen aus der geistlichen Verbundenheit mit dem Judentum keine praktischen Konsequenzen gezogen haben, dass die meisten der Verfolgung und Ermordung der Juden teilnahmslos gegenüberstanden, beschämt uns bis heute. Auch das bewundernswerte Beispiel jener Christen, die den verfolgten Juden beistanden, kann diese Scham nicht mindern.

Der Begriff „Neuheidentum“ ist ein Kampfbegriff, der sicher nicht geeignet ist, das komplexe Phänomen des Nationalsozialismus zu erfassen. Möglicherweise ist die Dichotomie von biblischer und „heidnischer“ Religion religionsgeschichtlich nicht ganz unproblematisch, aber sie enthält doch eine Wahrheit, denn mit der Bibel ist etwas Neues in die Welt gekommen, eine neue Art, Gott, Mensch und die Welt zu sehen. Über dieses Neue der biblischen Botschaft, das Juden und Christen gemeinsam ist, lohnt es sich nachzudenken.

I.

Christen und Juden lesen dieselben biblischen Schriften, auch wenn sich das Alte Testament in der christlichen Tradition in Umfang und Aufbau von der hebräischen Bibel unterscheidet. Aber sie lesen die gemeinsamen Schriften auf unterschiedliche Weise. Nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 haben sich zwei Lektüren entwickelt: die christliche und die rabbinische. Die jüdische Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass die schriftliche Thora zusammen mit der mündlichen Thora, also der Auslegungstradition, gelesen wird. Die christliche Lektüre deutet die biblischen Schriften mit Jesus und auf Jesus hin. Dabei hat die Kirche immer darauf bestanden, dass das Wirken Jesu in der Kontinuität zu „Gesetz und Propheten“ steht und deshalb nur vom Alten Testament her verstanden werden kann. Ebenso ist es wichtig festzuhalten, dass das Alte Testament als solches Wort Gottes ist und nicht erst in Verbindung mit dem Neuen Testament.[3] Diese beiden Lesarten der Schriften standen über weite Strecken der Geschichte gegeneinander. Heute – fast 50 Jahre nach Nostra aetate, der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen – ist es unsere Aufgabe, die beiden Lesarten in einen Dialog miteinander zu brin- gen, „um Gottes Willen und Wort recht zu verstehen“[4] wie es Benedikt XVI. etwa in seinem Jesus-Buch geschrieben hat.

Gleichzeitig ist die Bibel mehr als die Offenbarungsurkunde von zwei Religionsgemeinschaften. Sie hat eine Wirkungsgeschichte, die weit über die Grenzen der Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft hinausgeht. Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren auch säkulare Philosophen und Kulturwissenschaftler mit dem biblischen Verständnis von Gott, Mensch und Welt und mit seiner kulturellen Wirkungsgeschichte beschäftigt haben.[5] Sehr pointiert findet man das bei Heinrich August Winkler, der den ersten Band seiner „Geschichte des Westens“ mit dem Satz beginnt: „Am Anfang war ein Glaube: der Glaube an einen Gott.“ Es lohnt sich, diese kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse aufmerksam zur Kenntnis zur nehmen, weil auch sie uns – Christen und Juden – helfen, das Neue und Besondere der biblischen Botschaft besser zu verstehen.

Die biblische Botschaft ist keine logische Weiterentwicklung der altorientalischen Religionen. Sie verdankt sich vielmehr dem Bruch mit den religiösen Vorstellungen im alten Orient. Jan Assmann hat Recht, wenn er die biblische Botschaft eine „Gegenreligion“ nennt. Die Bibel lehrt uns, Gott, Mensch und Welt auf eine andere Weise zu sehen. In diesem Sinne hat Israel eine Revolution eingeleitet. Damit will ich nicht behaupten, dass sich in einem bestimmten Moment etwa am Berge Sinai schlagartig alles geändert hätte. Die biblischen Bücher überliefern uns vielmehr, dass das neue Denken vom Sinai sich erst sehr allmählich und nicht ohne Widerstand durchgesetzt hat. Sonst hätte es weder der Reformen unter Hiskija (752 – 697 v. Chr.) und Joschija (647 – 609 v. Chr.) noch der Propheten bedurft. Einige Konsequenzen der biblischen Botschaft werden sogar erst in nachbiblischer Zeit, im rabbinischen Judentum und im Christentum deutlich erkennbar.[6] Revolutionär war nicht ein bestimmter Zeitpunkt in der Geschichte, sondern das neue Verständnis von Gott, Mensch und Welt, das mit der Bibel in die Welt gekommen ist.

II.

Das Revolutionäre der biblischen Botschaft zeigt sich in der Grunderfahrung des Exodus. Dass der Auszug Israels aus Ägypten, wie er in den Büchern Exodus, Numeri und Deuteronomium geschildert wird, zu den Grundlagen des Judentums und des Christentums gehört, ist unstrittig. Die Exoduserzählung ist aber nicht nur ein theologisch bedeutsamer Text. Sie gehört auch zu den politisch einflussreichen Erzählungen Europas und Nordamerikas.[7] Auf den Exodus beriefen sich Oliver Cromwell ebenso wie die Pilgrim Fathers in Amerika oder später Thomas Jefferson und Benjamin Franklin. Die Geschichte von Knechtschaft und Freiheit war und ist in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ebenso präsent wie in den katholischen Basisgemeinden Lateinamerikas. Was macht den Exodus so einzigartig?

Zunächst scheint die Geschichte unspektakulär zu sein. Einer Gruppe von Menschen gelingt die Flucht, sie wandert durch die Wüste und erreicht ihr Ziel, das versprochene Land. Doch schon mit dieser linearen Art des Erzählens unterscheidet sich die Exodusgeschichte von Reiseberichten oder von der Odyssee der Griechen.[8] Die Israeliten treten keine Reise an, um am Ende wie Odysseus wieder nach Hause zurückzukehren. Sie gehen vielmehr in ein Land, das keiner von ihnen je betreten hat und in dem sie nicht erwartet werden. Die Israeliten gehen in ein neues Land, das nach dem Willen Gottes das Gegenteil von Ägypten sein soll, aus dem sie ausgezogen sind. Ihre Wanderung ist zielgerichtet; es ist ein Marsch in eine andere Zukunft, in etwas Neues, was es so bislang nicht gab. Mit diesem linearen Geschichtsverständnis bricht die Thora mit dem zyklischen Verständnis von Zeit, in dem es keine Überraschungen und nichts wirklich Neues gibt, da alles schon einmal da war. Die Exodusgeschichte eröffnet den Israeliten Zukunft und begründet damit Hoffnung. Die Welt muss nicht bleiben, wie sie ist. Es gibt sehr wohl Neues unter der Sonne.

Was ist nun das Neue? Worin unterscheidet es sich vom Alten? Was ist der Unterschied zwischen Kanaan und Ägypten? Die Israeliten waren nicht die einzigen, die im Altertum Knechtschaft und Fronarbeit erleiden mussten. Wahrscheinlich waren sie nicht einmal in Ägypten die einzigen. Die Bibel ist auch nicht die einzige Schrift, die über das Leben in Knechtschaft berichtet. In Griechenland hat Euripides ein Drama über den Gang der Troerinnen in die Knechtschaft geschrieben, nachdem die Griechen Troja erobert haben.[9] In diesem Drama werden die Folgen der Sklaverei keineswegs beschönigt. Die Frauen weinen und klagen über ihr Unglück. Von den Göttern Trojas im Stich gelassen, lassen sie alle Hoffnung fahren. Troja ist besiegt und muss nun die Folgen tragen. So ist der Gang der Welt. Als Ausweg bleibt bestenfalls der Freitod, um der Schmach der Knechtschaft zu entkommen.

Das Revolutionäre der Bibel besteht nun darin, dass die Knechtschaft der Israeliten nicht nur beklagt wird. Sie ist kein Unglück, sondern Unrecht. In dieser Unterscheidung zwischen Unglück und Unrecht liegt das Neue der Bibel. Es gibt ein Leiden, das unverschuldet ist und das unser Mitleid und unsere Hilfe erfordert. Aber es gibt auch Unrecht, das unseren Zorn und unsere Empörung verdient. Als Mose aus Zorn über das Unrecht einen ägyptischen Aufseher erschlägt, wird Gott ihn nicht zur Rechenschaft ziehen. Dieses Unrecht, das die Israeliten in Ägypten erleiden, besteht zunächst in harter Arbeit, die den Menschen erniedrigt. Es besteht aber auch in der Willkür des Pharao und seiner Aufseher, in der Rechtlosigkeit, der die Israeliten ausgesetzt sind und die im Befehl gipfelt, alle neugeborenen Knaben zu ermorden.

Nicht minder revolutionär ist die Erfahrung Israels, dass sie in der Knechtschaft keineswegs von Gott verlassen sind und dass Gott nicht auf der Seite des Pharaos und seiner Aufseher steht. Um zu ermessen, was diese Aussage bedeutet, müssen wir uns vor Augen halten, dass im alten Ägypten der Pharao der Repräsentant und Garant der göttlichen Ordnung der Welt war. Dieser Symbiose von Heil und Herrschaft entzieht der Exodus den theologischen Boden. Der Gott Israels lässt sich politisch nicht repräsentieren. Das ist eine geschichtlich höchst folgenreiche Erkenntnis, die uns noch beschäftigen wird. Denn erst wenn die Symbiose von politischer und göttlicher Herrschaft zerbricht, wird Freiheit möglich. Der Gott der Bibel ist ein Gott der Freiheit.

Freiheit meint zunächst die Freiheit von Knechtschaft, erdrückender Arbeit und gesellschaftlicher Marginalisierung. Diese Freiheit erlangen die Israeliten beim Auszug aus Ägypten. Doch nach der gelungenen Befreiung stellt sich ihnen schon bald die Frage, was sie denn nur mit ihrer Freiheit anfangen sollen, wozu sie denn nun befreit sind. Die Antwort auf diese Frage ist der Bundesschluss am Sinai, der Höhepunkt der Exoduserzählung.

Der historisch-kritischen Exegese verdanken wir die Erkenntnis, dass Bundesschlüsse keine Besonderheit der Bibel sind. Der Sinai-Bund weist tatsächlich strukturelle und verbale Ähnlichkeiten mit anderen altorientalischen Verträgen auf. Zudem finden wir auch zu den einzelnen Gesetzesvorschriften eine Reihe von Parallelen in den altorientalischen Kodices. Doch diese unbestreitbaren Ähnlichkeiten können das grundlegend Neue des Sinai-Bundes nicht verdunkeln. Am Sinai schließt nicht ein siegreicher Fürst einen Vertrag mit einem unterlegenen Fürsten, sondern Gott schließt einen Bund mit einem Volk. Man kann den Bundesschluss als politischen Gründungsakt deuten, bei dem sich die Israeliten als Nation konstituierten. Man kann den Akt auch als religiösen Akt deuten, durch den die Israeliten zum Eigentumsvolk Gottes werden. Beide Deutungen sind zutreffend und schließen sich nicht aus.

Der Bundesschluss am Sinai hat eine Vielzahl von Aspekten. Ich möchte mich auf einige wenige beschränken. Der Dienst, den Israel Gott schuldet, unterscheidet sich grundlegend vom Dienst am Pharao. Letzterer hatte die Israeliten mit Gewalt zur Knechtschaft gezwungen. Gott aber erwartet die freie Zustimmung Israels. Es ist kein Zufall, dass der Bund am Berg Sinai und nicht in Ägypten geschlossen wird. Denn mit Sklaven kann man keinen Bund schließen. Der Bundesschluss setzt freie Menschen voraus und zwar äußerlich und innerlich freie Menschen. Das Murren der Israeliten in der Wüste und ihre Sehnsucht nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“ zeigen uns, dass die äußere Freiheit nicht automatisch die innere Freiheit zur Folge hat. Sich innerlich von einer sklavischen Gesinnung frei zu machen, kann schwieriger sein, als äußere Zwänge abzuschütteln. Der Exodus ist eben nicht nur eine politische Geschichte der Befreiung; er ist auch eine Geschichte der Umkehr und der inneren Verwandlung.

Die biblischen Schriften betonen in auffälliger Weise, dass Gott den Bund nicht nur mit Mose oder den Ältesten, sondern mit dem ganzen Volk geschlossen hat und dass das ganze Volk zugestimmt hat, Männer, Frauen, Kinder und Alte (vgl. Ex 24,3; Dtn 29,9-14). Die Rabbinen werden in ihren späteren Kommentaren großen Wert darauf legen, dass die Zustimmung zum Bund nicht nur kollektiv erfolgte, sondern wirklich jeder Einzelne seine Zustimmung gab. Gott will den Menschen als einen freien Partner und zwar jeden Einzelnen als seinen Partner. Im Grunde liegt hier eine theologische Wurzel der modernen Religionsfreiheit. Die Zustimmung zu Gottes Geboten darf keine erzwungene sein. Sie darf auch nicht einfach einer sozialen Konvention oder einem traditionellen Brauch folgen. Nein, Gott erwartet, dass der Mensch sich frei für ihn entscheidet. Er erwartet keinen bloß äußeren Gehorsam, sondern wie es so treffend im Schema Israel ausgedrückt wird:
„Du sollst den Herrn, Deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,5)
Die Liebe zu Gott ist der eigentliche Grund der Zustimmung zum Bund. Liebe aber kann man nicht erzwingen; Liebe setzt Freiheit voraus.

Die Kehrseite der Freiheit ist die Verantwortung. Da jeder einzelne dem Bund zugestimmt hat, ist auch jeder einzelne dafür verantwortlich, dass der Bund gehalten wird. Ob das Projekt „Israel“ gelingt, ist eben nicht allein die Sache von Mose und den Ältesten. Es ist nicht allein Sache der politischen oder der religiösen Führung, sondern die Sache aller Israeliten und jedes Einzelnen. Freiheit im biblischen Sinne ist also nicht nur negative Freiheit, Freiheit von Unterdrückung und Knechtschaft, sondern auch positive Freiheit, die Freiheit zur Gestaltung eines humanen Zusammenlebens. Das gilt für die jüdische Gemeinschaft heute ebenso wie für die Kirche und es gilt für das staatliche Zusammenleben in einer Demokratie. Sie alle können nur existieren, wenn die Einzelnen sich für die Gemeinschaft einsetzen, wenn sie bereit sind, diese Gemeinschaft mitzugestalten, wenn sie sich nicht nur für ihr privates Glück verantwortlich fühlen, sondern auch für das Gemeinwohl. Bis heute ist der Glaube an die biblische Botschaft eine wichtige Quelle bürgerschaftlichen Engagements in unseren Demokratien.

III.

Zum Bund gehört das Gesetz. Gesetze finden wir natürlich nicht nur in der Bibel. Jede Gesellschaft braucht Regeln des Zusammenlebens. Es ist daher nicht überraschend, dass wir auch im alten Orient eine Fülle von Rechtskodices finden, und in diesen Kodices finden wir nicht wenige Rechtsvorschriften, die auch in der Bibel verzeichnet sind. Doch im Kontext des Exodus und des Bundesschlusses am Sinai bekommt das Gesetz eine neue Bedeutung. Es wird zum Instrument der Befreiung von der Knechtschaft. Fast schon stereotyp werden Rechtsvorschriften mit dem Verweis auf Ägypten begründet. Israel soll im Land, das der Herr ihm versprochen hat, eine Gesellschaft gründen, die das Gegenteil von Ägypten ist. Wo in Ägypten Willkür herrschte, soll in Israel das Recht gelten. Das Gesetz des Mose hat eine herrschaftskritische Pointe. Nicht Menschen sollen über Menschen herrschen, sondern das Gesetz soll herrschen.

Die Erinnerung an die Knechtschaft prägt das Gesetz bis in einzelne Vorschriften hinein. Es ist geprägt durch eine besondere Sensibilität für die Verletzbarkeit des Menschen, für Demütigung, für wirtschaftliche Not und soziale Ausgrenzung. Ich denke etwa an die Gesetze zum Schutz der Fremden, der Knechte, der Witwen und Waisen oder auch zum Schutz der Nutztiere. Die Gerechtigkeit der Bibel ist eine Gerechtigkeit aus der Perspektive derer, die wissen, was es heißt, arm, ausgegrenzt und unterdrückt zu sein. Es ist eine Gerechtigkeit, die sich an der Bedürftigkeit des Anderen orientiert. Und diese Gerechtigkeit soll über die Grenzen Israels hinaus strahlen. Auch die anderen Völker sollen die Weisheit und Klugheit des Gesetzes erkennen und bewundernd sagen: „In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk.“ (Dtn 4,6)

Das Gesetz vom Sinai verbindet Gottesverehrung und Gerechtigkeit. Das ist ein religionsgeschichtliches Novum. In Ägypten, in Babylon und in Kanaan waren Religion und Ethik keineswegs so eng verbunden. Die Götter des alten Orients wie auch Griechenlands erwarteten keine Gerechtigkeit, sondern Opfer. Gewiss, auch dem Gott Israels werden bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels Tieropfer dargebracht, aber er begnügt sich nicht damit. Was Gott von Israel erwartet, fasst der Prophet Micha in die Worte: „Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (Mi 6,8). Das Revolutionäre der biblischen Botschaft besteht darin, dass Gott sich die Sache der Gerechtigkeit zu Eigen macht. Gottesdienst und gerechtes Handeln, Gottesliebe und Nächstenliebe lassen sich von nun an nicht mehr trennen. Oder wie es im 1. Johannesbrief heißt: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20)

Der Verfasser des 1. Johannesbriefes argumentiert ganz auf der Linie der Propheten, die man als die ersten Gesellschaftskritiker der Geschichte bezeichnen kann.[10] Amos, Micha oder Hosea klagen die Oberschicht, die Priester oder auch ganz Israel an, das Recht der Schwächeren zu missachten und damit den Bund mit Gott gebrochen zu haben. Sie klagen Israel an, das zu trennen, was Gott am Sinai verbunden hat: Gottesdienst und Gerechtigkeit; Gottesliebe und Nächstenliebe. Genau darauf zielt auch die Kultkritik der Propheten. Man kann sie auf eine einfache Formel bringen: Gottesdienst ohne Gerechtigkeit ist Götzendienst.

Diese Verbindung von Gottesverehrung und Gerechtigkeit hat weitreichende politische Folgen. Dass der Herrscher seine Macht zur Bewahrung des Rechts und der Ordnung einzusetzen hat, gilt in vielen Kulturen. Doch in Israel wird politische Macht im Namen Gottes und des Gesetzes auch öffentlich kritisierbar. Den Königen Israels erwachsen in den Propheten mächtige Gegeninstanzen, die wie Natan gegenüber König David (2 Sam 12,1-14) und Elija gegenüber König Ahab (1 Kön 21) sich nicht scheuen, königliche Rechtsbrüche gegenüber Schwächeren anzuprangern. Dieses Gegenüber von Prophet und König präfiguriert die für die europäische Geschichte so wichtige Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Nirgendwo wird die politische Macht so stark entsakralisiert wie in der Bibel. Im Unterschied zu vielen anderen Herrschern der Antike, z.B. den Kaisern Roms, sind die Könige in Israel weder Gott gleich noch Gott ähnlich. Mehr noch: Nicht der König verkörpert Gottes Wille, sondern das Gesetz.

Das ist auch der Grund, weshalb Israel im Unterschied zu den umliegenden Völkern zunächst keinen König hat. Erst als Samuel alt geworden war, fordern die Israeliten einen König und zwar mit der entlarvenden Begründung: „Auch wir wollen wie alle anderen Völker sein.“ (1 Sam 8,20) Aber das geht eben nicht. Doch was heißt es, wie alle anderen Völker zu sein? Samuel führt dem Volk plastisch vor Augen, wie die Könige ihre Macht zu ihrem Vorteil und zum Nachteil des Volkes missbrauchen: „Ihr werdet seine Sklaven sein.“ (1 Sam 8,17) Das ist ein Verrat an Gott, weil Gott der eigentliche König Israels ist. Doch selbst in dieser dramatischen Situation zeigt sich, dass Gottes Herrschaft den Menschen nicht unterdrückt. Der Allmächtige lässt Israel die Freiheit und sagt zu Samuel: „Hör auf ihre Stimme, und setz ihnen einen König ein.“ (1 Sam 8,22) Doch niemals gibt Gott sein Einverständnis zu Ungerechtigkeit und Willkür. Will der König seine Herrschaft auf eine gottgefällige Weise ausüben, so muss er sich unter das Gesetz beugen (vgl. Dtn 17, 19f).

Die Entsakralisierung des Königtums war ein wichtiger Schritt auf dem geschichtlichen Weg zu einem säkularen Verständnis politischer Herrschaft. Sie alle kennen den vielzitierten Satz Jesu: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!“ (Mk 12,17 parr) Dieser Satz wird bisweilen so ausgelegt, als gebe es zwei Bereiche, einen Bereich des Kaisers oder Königs und einen Bereich Gottes. Doch die Pointe dieses Satzes ist eine andere. Der König ist nicht Gott, weil Gott kein König ist. Diese These klingt auf den ersten Blick wenig überzeugend. Ist die Königsherrschaft Gottes nicht das zentrale Thema der Verkündigung Jesu? Wird Gott in den jüdischen Segenssprüchen nicht als „melech ha-olam“ („König der Welt“) gepriesen? Ja, aber Gott herrscht auf gänzlich andere Weise als ein politischer Herrscher. Im Neuen Testament tritt dieses „andere“ in der Begegnung zwischen Jesus und Pilatus deutlich hervor. Diese Begegnung, wie sie vor allem der Evangelist Johannes überliefert, ist ein Stück politischer Theologie. Hier stehen sich der Repräsentant der Weltmacht Rom, die zu dieser Zeit keine Konkurrenz zu fürchten hatte, und ein Angeklagter gegenüber, der den politisch wenig glaubwürdigen Anspruch erhebt, ein König zu sein. Der Frage des römischen Statthalters, ob er der König der Juden sei, weicht Jesus zunächst aus, um dann zu erklären: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen. (…).“ (Joh 18,36) Pilatus traut wohl seinen Ohren nicht und hakt nach: „Also bist Du doch ein König?“ und Jesus erwidert: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ (Joh 18,37) Man hat diese Zeilen bisweilen so verstanden, dass Jesus ein jenseitiges oder rein spirituelles Reich Gottes verkündet. Ich halte diese Deutung zumindest für unzureichend. Es geht im Dialog zwischen Pilatus und Jesus um die Frage, wie Gott herrscht und vor allem wie er nicht herrscht. Gott herrscht eben nicht so, wie der römische Kaiser oder sein Statthalter Pilatus herrschen, nämlich durch Gewalt. Gottes Herrschaft ist keine politische Herrschaft und erst recht keine Gewaltherrschaft. Gottes Herrschaft setzt wie das Bundesgeschehen am Sinai die freie Zustimmung des Menschen voraus. Die Macht Gottes zeigt sich nicht darin, Menschen zu bezwingen, sondern sie in ihrer Freiheit anzusprechen und zu verwandeln. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass der Gottesbezug in den modernen Verfassungen die Funktion hat, staatliche Macht zu begrenzen. Er ist keine Ermächtigungs-, sondern eine Entmächtigungsformel.

Was für die Herrschaft Gottes gilt, gilt auch für die Wahrheit. Auch sie darf nicht mit politischen Mitteln und schon gar nicht mit Gewalt durchgesetzt werden. Wir müssen die Johannes- Passion, die ja in der Karfreitagsliturgie vorgelesen wird, als Gewissensspiegel der Kirche lesen. Dann ist der Text auch eine Kritik jeder gewaltsamen Durchsetzung dessen, was die Kirche als Wahrheit erkannt hat. Dieser Versuchung ist die Kirche in der Geschichte nicht selten erlegen. Nur allzu oft hat sie den weltlichen Arm des Staates benutzt, um ihre Wahrheit anderen aufzuzwingen. So wurde gerade die Johannes-Passion als Vorwand missbraucht, um antijüdische Vorurteile zu fördern und im Umfeld des Karfreitags gewaltsame Übergriffe auf Juden zu rechtfertigen. Vor allem der Vorwurf des „Gottesmordes“ hat hier verheerend gewirkt.

Es gehört zu den großen Verdiensten des II. Vatikanischen Konzils, dass es mit diesem Vorwurf in Nostra aetate aufgeräumt hat.[11] Man darf das Neue Testament nicht gegen das Alte Testament und auch nicht antijüdisch auslegen. Der Streit Jesu mit Sadduzäern und Pharisäern war ein Streit um den Anspruch Jesu und um das rechte Verständnis der Heiligen Schriften Israels. Die Autorität dieser Schriften als Wort Gottes aber wurde von keiner der Streitparteien in Zweifel gezogen – auch nicht von Jesus.

Der christliche Antijudaismus ist jedoch nur ein Beispiel für die leider immer noch aktuelle Verbindung von Religion und Gewalt. Sie alle kennen die These von Jan Assmann, dass dem biblischen Monotheismus die Gewalt gleichsam inhärent sei. Diese These hat eine breite und kontroverse Debatte in den Wissenschaften, aber auch in der Publizistik ausgelöst, die ich hier im Einzelnen nicht nachzeichnen kann.[12]Doch mit Blick auf die Geschichte des Christentums möchte ich eine Gegen-These wagen: Hat die religiös legitimierte Gewalt ihren Grund nicht darin, dass die biblische Unterscheidung von Gottes Herrschaft und politischer Herrschaft missachtet wurde, dass der Glaube an Gott nicht mehr als Kritik weltlicher Machansprüche fungierte, sondern als deren Legitimierung? Ist die Verbindung von religiöser und weltlicher Macht – und sei es als Bündnis von Thron und Altar – nicht ein religionsgeschichtlicher Rückfall hinter die biblische Botschaft? Politische Machtausübung im Namen Gottes ist biblisch betrachtet ein usurpatorischer Akt, der Gott für menschliche Interessen instrumentalisiert.[13]

IV.

Der Monotheismus gehört zweifellos zur Revolution der biblischen Botschaft, ja er ist der revolutionäre Kern dieser Botschaft. Es geht dabei nicht einfach um die Zahl der Gottheiten, die nun auf einen Gott reduziert oder in einem Gott zusammengefasst würde. Der Monotheismus ist keine göttliche Mathematik. Der biblische Monotheismus verdankt sich der Religionskritik.

„Man schüttelt Gold aus dem Beutel und wiegt Silber ab auf der Waage. Man bezahlt einen Goldschmid, damit er einen Gott daraus macht. Man kniet nieder und wirft sich sogar zu Boden. Man trägt ihn auf der Schulter und schleppt ihn umher; dann stellt man ihn wieder auf seinen Platz, und dort bleibt er stehen; er rührt sich nicht von der Stelle. Ruft man ihn an, so antwortet er nicht; wenn man in Not ist, kann er nicht helfen.“ (Jes 46,6f) Götter sind von Menschen gemachte, nutzlose Artefakte. Diese antireligiöse Polemik vermuten Sie vielleicht bei einem Atheisten. Doch Sie irren. Wir finden sie beim anonymen Exilspropheten, den wir Deuterojesaja nennen. Der Prophet predigt hier keinen Atheismus; er betreibt Religionskritik um Gottes willen. Der biblische Gott kann nicht mit den Göttern der Antike verglichen werden. Er ist anders. Vor allem aber ist er kein von Menschen gemachter Gott. Er ist – mit Kant gesprochen – kein Ding in dieser Welt. Deshalb ist es verboten, sich von ihm ein Bild zu machen. Das heißt aber auch: kein Ding dieser Welt ist göttlich. Mose wird zu einem drastischen Mittel greifen, um den Israeliten dies verständlich zu machen. Er zertrümmert nicht nur das goldene Kalb. Er lässt es vielmehr verbrennen und zerstampfen, vermischt den Goldstaub mit Wasser und gibt es den Israeliten zu trinken (vgl. Ex 32,20). Es geht in der Tat um die Unterscheidung von wahren und falschen Göttern, von wahrer und falscher Religion. Doch diese Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ geht zusammen mit der Unterscheidung von „Freiheit“ und „Knechtschaft“. Ich empfehle die Lektüre des Psalms 82. Hier wird in mythischen Bildern das Gericht Gottes über die Götter geschildert. Er macht sie für das Unrecht und die Gewalt auf Erden verantwortlich und wirft ihnen ihre Blindheit und Dummheit vor. Nur wenn die Götter verschwinden und der Gott Israels zum Gott aller Völker wird, können die Unterdrückten und Gebeugten auf Gerechtigkeit hoffen.[14]

Der Gott der Bibel ist anders als alle bekannten Götter, weil er von der Welt radikal verschieden ist. Der Gegenbegriff zum Monotheismus ist nicht Polytheismus, sondern, wie Assmann zu Recht anmerkt, Kosmotheismus. Denn die altorientalischen Götter waren selbst Teil einer Gott, Mensch und Natur umgreifenden und normierenden kosmischen Ordnung. In den Göttern wurde die heilige Ordnung des Kosmos anschaulich. Die Götter garantieren die Einheit von natürlicher, gesellschaftlicher und kultischer Ordnung. Was immer dem Einzelnen in seinem Leben schicksalhaft widerfährt, ist eingebunden in diese Ordnung. Modern ausgedrückt: Die von den Göttern gestiftete und aufrechterhaltene Ordnung der Welt garantiert auch die Sinnhaftigkeit des menschlichen Lebens. Genau diese Ordnung bringt der Monotheismus zum Einsturz.

Die Bibel unterscheidet zwischen Gott und Welt. Gott ist kein Teil einer umgreifenden Ordnung; er ist jenseits der Welt, aber dieser Welt zugewandt. Diese Unterscheidung zwischen Gott und Welt ist die Voraussetzung für die Unterscheidung zwischen Gott und dem politischen Herrscher, zwischen Gott und Pharao oder auch zwischen Gott und Natur. Die natürliche, gesellschaftliche und politische Welt ist nicht göttlich, sondern von Gott erschaffen. „Bereschit bara elohim… - Im Anfang erschuf Gott …“ Mit diesen Worten beginnt die Bibel. „Bara - erschaffen“ wird exklusiv auf das Handeln Gottes bezogen. Was es theologisch heißt, dass Gott die Welt erschuf, wird die jüdischen und christlichen Denker in den nächsten Jahrhunderten ebenso beschäftigen wie die Frage, wie man von Gott reden kann, wenn er doch so ganz anders ist als alles, was wir in dieser Welt erfahren.

Der Monotheismus ist nicht nur eine Revolution im Gottesbild. Nicht weniger revolutionär sind seine Folgen für das Menschenbild. Gott erschuf den Menschen in seinem Bilde (Gen 1,26). Das Nachdenken über die Gottesebenbildlichkeit des Menschen füllt ganze Bibliotheken. Ich möchte mich auf einige wenige Aspekte beschränken. Die Gottesebenbildlichkeit zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus, aber unterstreicht so seine Verantwortung, die in der Freiheit begründet ist, dem eigentlichen Zeichen der Gottebenbildlichkeit. Wie die Bibel Gott und Welt unterscheidet, unterscheidet sie auch den Menschen von der Welt. Der Mensch kann in Distanz zur Welt treten. Sie wird zu Gabe und Aufgabe. Erst jetzt wird es möglich zu fragen, ob das, was geschieht, dem Willen Gottes entspricht. Erst jetzt wird es möglich, die Welt auch kritisch zu betrachten.

Die Freiheit des Menschen ist eine moralische Herausforderung. Die rabbinische Theologie hat die Gottesebenbildlichkeit als Aufforderung gedeutet, Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit nachzuahmen.[15] Ähnlich heißt es im Neuen Testament: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6,36; vgl. a. Mt 5,48) Die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden und sich für das Gute zu entscheiden, zeichnet den Menschen aus. Der Mensch steht in einer besonderen Beziehung zu Gott. Was Freiheit im biblischen Sinne heißt, hat der Prophet Ezechiel im 18. Kapitel seines Buches ausgeführt.[16] n seiner zweiteiligen Lehrrede bestreitet er zu- nächst die Existenz eines mythischen Schuldzusammenhangs, in den der Einzelne schicksalhaft hineingeboren wird. An die Stelle dieses mythischen Schuldzusammenhangs setzt der Prophet die Verantwortung des Einzelnen für seine Taten. Schuldig ist der Einzelne, wenn er böse Taten begangen hat. Ob sich die Sünden der Väter in der Gegenwart fortsetzen, ist kein Verhängnis, sondern eine Entscheidung, die der Einzelne trifft. Diesen Gedanken führt Ezechiel im zweiten Teil seiner Lehrrede weiter aus. Auch die Taten, die der Einzelne begangen hat, können seinen weiteren Lebensweg nicht vorherbestimmen. Jeder hat die Möglichkeit, sein Leben zu ändern, sich von seinen alten Taten abzuwenden und ein neues Leben zu beginnen. Jeder hat die Möglichkeit, umzukehren. Der Prophet schließt seine Rede mit der Aufforderung. „Werft alle Vergehen von euch, die ihr verübt habt! Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist!“ (Ez 18,31) Als Partner Gottes wird der Mensch frei, umzukehren und sein Leben zu verändern. Umkehr ist ein Schlüsselwort biblischer Anthropologie. Ein Wort der Hoffnung.

Damit soll nun keineswegs bestritten werden, dass unser Leben auf vielfältige Weise determiniert ist. Keiner von uns hat sich ausgesucht, zu welcher Zeit und in welche Familien er geboren wurde und unter welchen sozialen und kulturellen Verhältnissen er aufwächst. Jeder von uns ist über Sozialisationsvorgänge mit den Lebenswelten der Eltern und Vorfahren verbunden. Aber wir können uns gegenüber den natürlichen Bedingungen, den kulturellen Traditionen und sozialen Bezügen, in denen wir leben, verhalten. Wir entscheiden darüber, ob und wie wir Traditionen fortführen, ob wir uns dem vorfindlichen Unrecht beugen oder uns dagegen empören, ob wir unsere schlechten Gewohnheiten und Fehler einfach fortsetzen oder unser Leben verändern. Dies meint Freiheit im Sinne der Bibel, eine Freiheit, die sich letztlich in der Liebe vollendet!

Schließlich ist die Gottesebenbildlichkeit eine Eigenschaft, die jedem Menschen und nicht nur dem König oder einer bestimmten Gruppe von Menschen zukommt. Alle Menschen sind im Bilde Gottes geschaffen. Die Bibel beginnt nicht mit der Berufung Abrahams, der Erwählung Israels oder der Gründung der Kirche. Am Anfang der Bibel steht die Erschaffung des Menschen. Am Anfang steht ein Menschenpaar, von dem wir alle abstammen. Das ist eine radikal universalistische Botschaft. Wir alle – gleich welcher Nation, Religion oder welchen Geschlechts – teilen dieselbe Menschlichkeit. In der Bibel werden die Unterschiede zwischen den Menschen, zwischen Völkern und Religionen, keineswegs geleugnet. Aber grundlegender als alle Unterschiede, grundlegender auch als der Unterschied zwischen Gläubigen und Un15 gläubigen ist die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen oder in unsere moderne Sprache übersetzt: die gleiche Würde aller Menschen.[17] Hier liegt eine, wenn nicht die entscheidende, religiöse und kulturgeschichtliche Wurzel der modernen Idee der Menschenrechte.

Dieser ethische Universalismus ist eine Frucht des Monotheismus. Denn der Gott Israels ist ja kein Nationalgott neben anderen Göttern, sondern der eine und einzige Gott aller Menschen. Deshalb bittet König Salomon bei der Weihe des Tempels in Jerusalem, dass Gott auch die Bitten der Fremden erfülle, damit alle Völker der Erde den Namen Gottes erkennen (vgl. 1 Kön 8,43). Der Universalismus der Schöpfungsgeschichte findet seine Entsprechung in den Hoffnungsbildern vom Ende der Zeiten. Das Motiv der „Völkerwallfahrt zum Zion“ bei Micha (4,1-5), Jesaja (2,2-5) oder Sacharja (8,20-23) verknüpft das Heil Israels mit der Erlösung der Völker. Die biblische Hoffnung ist nicht nur eine Hoffnung für Juden oder nur eine Hoffnung für Christen, sondern eine Hoffnung für alle Menschen. Wir hoffen nicht für uns selbst, sondern für die ganze Menschheit. Dieser Universalismus gehört zur Revolution der biblischen Botschaft. In diesem Universalismus wurzelt auch die universalistische Ethik der Moderne, die sich in internationalen Menschrechtserklärungen, im Völkerrecht und in der Einrichtung internationaler Gerichtshöfe manifestiert.

V.

Zum Schluss: Die biblische Botschaft hat eine kulturgeschichtliche Revolution eingeleitet, die bis in unsere Gegenwart wirksam ist. Zentrale Begriffe der Moderne wie Menschenwürde, Person, Gewissen, Autonomie, Freiheit oder Gleichheit sind ohne die biblische Tradition nicht zu verstehen.[18] Bis heute zehren unsere ethischen und politischen Debatten von dieser Tradition.[19] Das bedeutet aber keineswegs, dass die biblische Tradition unumstritten ist oder dass es keine wirkmächtigen Gegentraditionen gab und immer noch gibt. In einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft hat auch die biblische Botschaft ihre Selbstverständlichkeit und allgemeine Verbindlichkeit verloren, wenn sie diese denn je besessen hat. Für nicht wenige ist sie zur unbekannten Botschaft geworden.

Diese Situation sollten wir nicht beklagen. Es ist vielmehr unsere Aufgabe, diese Botschaft in die gesellschaftlichen und kulturellen Debatten einzubringen. Es ist die Aufgabe von Juden und Christen, der biblischen Botschaft eine Stimme zu geben. Wir sind, wie es beim Propheten Jesaja (vgl. Jes 43,10.12) heißt, die Zeugen Gottes und seiner Botschaft. Die Welt braucht uns. Sie braucht Juden und Christen. Aber wir brauchen auch die Welt. Wir dürfen uns nicht auf uns selbst, auf unsere Gemeinschaften zurückziehen. Wir dürfen uns nicht von der Welt und den anderen Menschen abwenden. Papst Franziskus wird nicht müde, die Christen zu ermahnen, ihre religiöse Selbstbezogenheit zu überwinden.[20] Er erinnert sie an ihre Aufgabe, Mitarbeiter Gottes zu werden und die Welt zu gestalten. Interessanterweise hat der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sachs, eine ganz ähnliche Botschaft an die jüdischen Gemeinden gerichtet und für ein Judentum plädiert, das sich in der Welt engagiert.[21] Erinnern wir uns daran, dass unser Stammvater Abraham den Segen Gottes nicht nur für sich und seine Nachkommen empfangen hat, sondern für alle Völker (vgl. Gen 12,3). In unserer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft ist es unsere gemeinsame Aufgabe, der biblischen Botschaft eine Stimme zu geben. Die Revolution ist noch nicht abgeschlossen und beendet!

 

ANMERKUNGEN
1 Das vorliegende Manuskript wurde in geringen Teilen durch freie Rede ergänzt. Es gilt das gesprochene Wort.
2 Vgl. G. Passelecq/ B. Suchecky: Die unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolgung, Berlin 1999; H. Wolf, Tod und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, München 2012.
3 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 152), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2001, 43f.
4 Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg 2011, 49. Vgl. a. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2013, Nr. 249.
5 Vgl. z.B. M. Gauchet, Le désenchantement du monde. Une histoire politique de la religion, Paris 1985; J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001; J. Assmann, Moses, der Ägypter, München 1998; ders., Heil und Herrschaft. Politische Theologien in Altägypten, Israel und Europa, München 2000; ders., Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003; P. Veyne, Als unsere Welt christlich wurde (312 – 394): Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht, München 2008.
6 Vgl. G. Stroumsa, Das Ende des Opferkults. Die religiösen Mutationen der Spätantike, Frankfurt am Main 2011.
7 M. Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988.
8 Vgl. zum Vergleich zwischen Bibel und Homer ist immer noch gültig E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern7 1982, 5 – 27.
9 Vgl. zum Folgenden M. Walzer, a.a.O., 31f.
10 Vgl. M. Walzer, Der Prophet als Gesellschaftskritiker, in: ders., Kritik und Gemeinsinn, Frankfurt am Main 19093, 81-108.
11 Vgl. auch Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI., a.a.O., 208-211.
12 Vgl. J. Manemann (Hg.), Monotheismus (Jahrbuch für politische Theologie, Band 4), Münster 2003; T. Söding (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus (= Questiones disputatae 196), Freiburg 2003; P. Walter (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott (= Questiones disputatae 216), Freiburg 2005; Monotheismus – Gottheit und Einheit: Concilium 45/2009, 389 – 477 (Heft 4), R. Schieder (Hg.), Die Gewalt des einen Gottes: Die Monotheismusdebatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen, Berlin 2014. Vgl. a. das Dokument der Internationalen Theologenkommission, Dio Trinità, unità degli uomini. Il monoteismo cristiano contro la violenza (2014) http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_cti_20140117_monoteismocristiano_ it.html
13 Zum Begriff des „usurpatorischen Monotheismus“ vgl. E. Nordhofen, Die Zukunft des Monotheismus, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 605-606/1999, 828 – 846, hier 831f.
14 Vgl. die Auslegung von Psalm 82 durch Erich Zenger in: F.-L. Hossfeld/ E. Zenger, Psalmen 51 – 100 (HTh- KAT), Freiburg2 2001, 479 - 492.
15 Vgl. K.E. Grözinger, Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, Bd. 1: Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles, Frankfurt – New York 2004, 280 – 288.
16 Vgl. zum Folgenden J. Taubes, Zur Konjunktur des Polytheismus, in: K.-H. Bohrer (Hg.), Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt/ Main 11983, 457 – 470, hier 461f. Jacob Taubes stützt sich hier auf die Auslegung von Ez 18 von Hermann Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden2 1928 (Reprint Darmstadt 1988), 222 – 228.
17 Der Monotheismus „ist die vielleicht übernatürliche Gabe, den Menschen hinter der Verschiedenheit der historischen Traditionen, die jeder einzelne fortsetzt, als absolut dem Menschen gleich zu sehen. Er ist eine Schule der Liebe zum Fremden und zum Antirassismus.“ E. Lévinas, Monotheismus und Sprache, in: ders., Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum, Frankfurt am Main 1992, 126 – 128, hier 126.
18 „Daß aber der Mensch an und für sich frei sei, seiner Substanz nach, als Mensch frei geboren – das wusste weder Plato noch Aristoteles. (…) In der christlichen Religion kam die Lehre auf, daß vor Gott alle Menschen frei, daß Christus die Menschen befreit hat, sie vor Gott gleich, zur christlichen Freiheit befreit sind. Diese Bestimmungen machen die Freiheit unabhängig von Geburt, Stand, Bildung usf. Und es ist ungeheuer viel, was damit vorgerückt ist.“ G.W.F. Hegel, Einleitung zur Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke, Bd. 17, hg. v. H. Glockner, Stuttgart 1927, 79f.
19 Vgl. J. Habermas, Gespräch über Gott und die Welt, in: ders., Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt/M. 2001, 173 – 196, hier 174f: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“
20 Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2013, Nr. 9.
21 Vgl. J. Sacks, A Judaism engaged with the world, London 2013.