Die Sprache der Judenfeindschaft
Rabbiner-Brandt-Vorlesung 2013
Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel
Über „Die Sprache der Judenfeindschaft“ zu reden, ist leider kein heiteres Thema, denn dieses Phänomen führt unweigerlich in die Abgründe der Geschichte und beleuchtet die Schattenseite der abendländischen Kultur. Judenfeindlicher Sprachgebrauch zeigt nicht nur, wie Sprache den menschlichen Geist prägt und lenkt, er zeigt auch, wie Sprache Realität erzeugt, die außerhalb der sprachlichen Konstruktion gar nicht existiert.
Die Betrachtung gibt Einblick in die destruktiv wirkenden Aspekte des kollektiven Bewusstseins, zeigt den Epochen überdauernden Einfluss des kommunikativen Gedächtnisses auf den menschlichen Geist. Und beantwortet auch die Frage nach dem Warum. Warum werden Juden seit Jahrhunderten gehasst und unter Generalverdacht gestellt, abgelehnt und diffamiert?
Das Datum, an dem diese Vorlesung heute stattfindet, zwingt uns, den Kontext zu berücksichtigen und zurückzublicken. In diesen Tagen erinnert sich Deutschland offiziell und öffentlich an den 9. November 1938, die Pogromnacht, die vor 75 Jahren der Auftakt zur Drangsalierung und schließlich der massenhaften Ermordung der deutschen und europäischen Juden war. Der Beginn einer von Rassenwahn gekennzeichneten Endlösungspolitik, die die sogenannte Judenfrage zu einem monströsen Ende führte. Die Chiffre Auschwitz steht seitdem für das eigentlich Unvorstellbare, was dennoch Realität wurde. Und jedes Jahr erklingt in den Gedenkstunden weitgehend ritualisiert „Nie wieder“ und „Wehret den Anfängen“.
Doch diese Reden konzentrieren sich fast ausschließlich auf die NS-Vergangenheit und sie lassen allzu oft außer Acht, dass Judenfeindschaft kein historisches Phänomen einer kurzen, barbarischen Phase von zwölf Jahren ist, sondern ein fast zweitausend Jahre altes Kultur-Phänomen, tief verwurzelt im abendländischen Denken und Fühlen.
Keineswegs ist Judenfeindschaft vergangen oder nur ein Randphänomen von einigen Extremisten, sondern ein höchst aktuelles Problem in der Mitte unserer Gesellschaft. Der moderne Antisemitismus, heute primär artikuliert als Anti-Zionismus und Anti-Israelismus, fußt ungebrochen auf der klassischen Judenfeindschaft, die stets und von Anfang an von den Gebildeten kam. Äußerungen wie „Die Deutschen stellen sich ihrer Geschichte, aus der sie ihre Lehren gezogen haben“ entsprechen einem Wunschdenken, einer gern gehegten Illusion, die mit der Realität nicht unbedingt flächendeckend übereinstimmt.
Wenn wir an Judenfeindschaft und modernen Antisemitismus denken, so fallen uns Ausgrenzung, Verfolgung und Mord ein. Doch Judenfeindschaft fing nicht mit physischer Gewalt und sozial-ökonomischer Diskriminierung an, sondern mit geistiger Gewalt und Intoleranz, mit sprachlich kodiertem Hass und mit einer religiös begründeten Differenzkonstruktion. Und auch heute beginnt physische Gewalt nicht mit einem Faustschlag auf der Straße oder eingeschlagenen Fensterscheiben von Synagogen: Sie beginnt immer als mentale Gewalt erst in den Köpfen.
Vor den Gaskammern von Auschwitz standen die Reden Hitlers, stand „Mein Kampf“, standen die Nürnberger Rassegesetze und das Wannsee-Protokoll. Und davor standen die theologischen Schriften, die Predigten, Judenspiegel, die Spottgesänge, die Gassenhauer. Verbale Gewalt und Judenfeindschaft verbindet eine lange untrennbare Symbiose. Die Sprachgebrauchsgeschichte zeigt, wie Juden über die Jahrhunderte hinweg trotz wechselnder sozialer und ideologischer Konstellationen homogen entwertet und ausgegrenzt wurden. Der aktuelle Antisemitismus ist nur zu verstehen, wenn man die lange Geschichte der Judenfeindschaft und ihre semantischen Muster kennt. Ein Blick auf die Geschichte zeigt, dass durch die Abspaltung von Judentum und Urchristentum die Ex-negativo-Konzeptualisierung von Juden entsteht. Juden werden als Gottesmörder und Leugner des wahren Glaubens bestimmt und die jüdische Existenz wird zum Frevel in der Welt.
Die frühesten judenfeindliche Texte, die diese Vorstellung artikulieren, sind das Johannes-Evangelium, in dem die Dämonisierung von Juden ihren Ausdruck findet:
Juden als „Kinder Abrahams…“, „[…] die den Teufel zum Vater…haben“ (Joh 8, 44–45)
Vor allem aber legt Paulus verbal eine Kategorisierung vor, die bis zum heutigen Tag das Bild von Juden prägt. Juden als die Feinde, nicht als Feinde einer bestimmten Gruppe, sondern als Feinde der Menschheit.
„…von den Juden. Diese haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen“ (Paulus; 1 Thess 2,15)
Aus der rein theologischen Interpretation wird im Laufe der Jahrhunderte eine allumfassende Weltsicht, ein Weltdeutungssystem. Jude-Sein wird konzeptualisiert als „die nicht zu akzeptierende Existenzform“. Das Konzept „Juden sind die, die aus der Weltordnung herausfallen“ wird zur Basis eines strikt manichäistischen Wertekanons:
„Der Jud stellt sein sinne nacht und tag Wie er den cristen verderben mag“ (Titel eines anonymen Flugblatts des 15. Jahrhundert)
Juden als die Verkörperung des Schlechten werden daher oft als Anti-Christen, als Teufel(sgenossen) und Satan(sbrut) bezeichnet. Als 1348 in Europa die Pest grassiert, wird sie als die Strafe Gottes dafür gesehen, dass die Christenheit die Juden noch nicht aus ihrer Mitte entfernt habe. Vom frühen bis späten Mittelalter zeugen die überlieferten Schriften und Bilder davon: Juden sind die prinzipiell Schlechten.
„[Die] gottlosen, lästerhaftigen, diebischen, räuberischen und mörderischen [Juden, d. Verf.].“ (Nigrinus 1570: CLXXVII)
Aus dem Gottesmörder und Frevler entwickeln sich die Stereotype des Kindermörders, Blutkultbetreibers, des Brunnenvergifters, des Wucherers und rastlosen Wanderers, des hässlichen Betrügers, des ränkeschmiedenden Intriganten, des Weltverschwörers. Allen Stereotypen ist eine semantische Dimension immer gemeinsam: der ganz und gar Andere, nicht Dazugehörige.
„Was seind aber die Jüden? in warheit keine Bekenner / sondern Lästerer vnd schänder Gottes vnd Christi […] Seind sie auch hochschädliche Leuth / in dem sie müssige Wucherer seind. … / sie vnter dessen nehren sich alle auß der armen Christen Schweiß vnd Blut / vnd leben wohl von dem / so sie durch Wucher vnd Betrug denselben abschinden.“ (Saltzmann 1661, Predigt anlässlich der Taufe eines Juden)
Rassistische Vorstellungen von unabänderlichen kollektiven Eigenschaften, die Juden besitzen, entstehen nicht erst im Anfang des 19. Jahrhunderts, das Bild des ewigen Juden gibt es bereits im Mittelalter. Und das ab dem 16. Jahrhundert benutzte, stigmatisierende Wort Taufjuden bezeugt, dass auch zum Christentum konvertierte Juden mit Misstrauen gesehen wurden.
Aus dem religiös fundierten Judenbild heraus gehört es zur Volksfrömmigkeit, Judenverfolgungen als gottgefällige Tat auszugeben. Schedels Weltchronik von 1493 zeigt, welche Strafe für die Juden, hier diffamiert als Hostienschänder, als angemessen erachtet wird:
Ganz gleich, was Juden je taten oder nicht taten, es war per definitionem das Verkehrte. Und immer wird ihre bloße Existenz als ein Makel in der Welt gesehen. Auch Luther und die Reformation brechen nicht mit diesem Weltbild:
„Das ists … das ein Christ, nehest dem Teufel / keinen gifftigern / bittern feind habe / denn einen Jüden.“ (Luther [1543] 1577: 378, Von den Juden und ihren Lügen)
„Ein solch verzweiffelt / durchböset / durchgifftet / durchteuffelt ding ists vm diese Jüden / so diese 1400. Jar vnser plage / Pestilenz vnd alles unglück gewest / vnd noch sind.
Summa wir haben rechte Teuffel an ihnen / … Da ist kein Menschlich Herz …/ “ (Luther [1543] 1577: 371 f.)
Dehumanisierende und dämonisierende Entwertungsmetaphern sind charakteristisch für den judeophoben Diskurs in den nächsten 500 Jahren:
„wie der Krebs …einwurtzelt /…Also auch ist es mit den Jüden bewandt.“ (Rechtanus 1606, S. 91),
„Die Spinnen … sie saugen aus / … solche Spinnen sind die Jüden / ...“ (Müller 1644)
Auch die Aufklärung mit ihrer vernunftorientierten Religionskritik zerbricht dieses System nicht: Voltaire protestiert zwar gegen religiöse Verfolgungen, nennt aber die Juden mehrfach „das abscheulichste Volk der Erde“ (Dictionnaire philosophique ), und befindet: „Ich wäre nicht im Geringsten überrascht, wenn dieses Volk eines Tages tödlich für die menschliche Rasse werden würde“. (Voltaire [1761])
„Kraft ihrer eigenen Gesetze, natürliche Feinde dieser Nationen und schließlich der Menschheit.“ (Voltaire [1761] 1878: 435)
Da ist sie, die grundlegende Verbalisierung – ungebrochen nach 1.700 Jahren: Juden als die „Feinde der Menschheit“. Ein Blick auf die Schriften der großen deutschen Philosophen des Idealismus, die sich der Wahrheitsfindung durch Denkvermögen verpflichteten, macht deutlich, dass selbst die radikalen kognitiven Umwälzungen der Neuzeit dieses duale Wertesystem nicht ernsthaft erschüttern: Judentum wird auch hier als negativer Gegenentwurf gesehen:
„Aber ihnen (den Juden, MSF) Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein anderes Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“ (Fichte [1793] 1845: 150)
Hegel, der bedeutendste Philosoph des Idealismus, zeichnet sich in seinen frühen Schriften durch besonders intensiven Judenhass und tiefe Verachtung des Judentums aus:
„Der Geist erkennt nur den Geist; sie (die Juden, MSF) sahen in Jesu nur den Menschen, den Nazarener, den Zimmermannssohn, […] so viel war er, mehr konnte er ja auch nicht sein, er war nur einer, wie sie, und sie selbst fühlten, daß sie Nichts waren. Am Haufen der Juden mußte sein Versuch scheitern, ihnen das Bewußtsein von etwas Göttlichem zu geben, denn der Glaube an etwas Göttliches, an etwas Großes kann nicht im Kote wohnen.“ (Hegel [1800] 1907: 312)
Nach über 1.700 Jahren der Diffamierung und Dämonisierung ist Judenfeindschaft so tief und so unerschütterlich in den abendländischen Denkstrukturen verwurzelt, dass selbst die Denker, die sich von der alten Kirchendoktrin lösen und den Weg für die Selbstbestimmung des Menschen ebnen, sich nicht davon lösen können. Als Anfang des 19. Jahrhunderts die moderne, scheinbar von der Religion losgelöste und auf der Rassenlehre fußende Variante des Antisemitismus aufkommt, zeigen die Schriften der Rassisten, dass sie auf die gleichen Konzepte und Verbalmuster des alten Judenhasses zurückgreifen:
„Aber gegen die Aufnahme fremder Juden … erkläre ich mich unbedingt; denn sie ist ein Unheil und eine Pest unseres Volkes.“ (Arndt 1814)
„Und bei alle diesem Einfluß, Macht, Reichthum und Freyheit waren und sind sie [= die Juden] die ‘Blutsauger des Volkes' …“ (Fries 1816)
„Völkerkrankheit“ (Fries 1816)
„verdorbenes und entartetes Volk“ (Arndt 1814: 193)
„Judenthum ist mit dem Riesenschmarotzer-Gewaechs…zu vergleichen.“ (Holst 1821)
„jüdische Weltherrschaft“, „giftige Pestbeule der Menschheit“ (Hundt-Radowsky 1823)
„Geldmenschen, haben Schacher- und Wuchergeist, hochbegabt, hochtalentiert“ „[…] feindselig gegenüber anderen, […]“, „dominant, einflussreich“, „[…] rachsüchtig“, „dieses fremde Volk“ (Marr 1879: 14).
Im 19. Jahrhundert ist Judenfeindschaft auf allen institutionellen Ebenen der deutschen Gesellschaft anzutreffen. Sie findet sich auf Postkarten, in Briefen, Romanen, Pamphleten, auf Schildern, in Prospekten, in wissenschaftlichen Abhandlungen und auch in den von allen Kindern gelesenen Grimms Märchen, so endet das insgesamt extrem judenfeindliche Märchen Der Jude im Dorn folgendermaßen:
„Da ließ der Richter den Juden zum Galgen führen und als einen Dieb aufhängen.“ (Grimms Märchen, Der Jude im Dorn)
Bilder von Juden als „herzlose, kalte Geschäftsleute“ oder „zersetzende teuflische Intellektuelle“ finden sich auch in den im 19. Jahrhundert viel gelesenen Romanen der an sich liberal gesinnten Autoren Gustav Freytag (Soll und Haben, 1855) und Wilhelm Raabe (Der Hungerpastor, 1864). Theodor Fontane äußert wiederholt in Briefen seine eindeutig rassistische Einstellung:
„Überall stören sie… Es ist, trotz all seiner Begabungen, ein schreckliches Volk, … – ein Volk, dem von Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann.“ (Theodor Fontane 1898)
In den Schriften der radikalen Judenhasser gibt es immer wieder eliminatorische Lösungsvorschläge:
„Am Beßten wäre es jedoch, man reinigte das Land ganz von dem Ungeziefer, … Entweder, sie durchaus zu vertilgen, oder sie … zum Lande hinausjagen […].“ (Hundt-Radowsky 1819: 144)
Eine für das 19. Jahrhundert typische Forderung an die in Deutschland lebenden Juden, artikuliert u. a. Richard Wagner: „Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden […]: aufhören, Jude zu sein.“ (Wagner 1850: 85)
„Die Judenfrage“ oder „das Judenproblem“ wird im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts intensiv erörtert. Und endet zumeist in der Antwort dass „die Juden aufhören, Juden zu sein“ (de Lagarde 1884: 95).
In der bis heute unreflektiert benutzten Phrase „Juden und Deutsche“ oder „Deutsche und Juden“ ist diese Differenzkonstruktion als Sprachgebrauchsmuster bis zum heutigen Tag erhalten: Eine äquivalente Phrase wie „Protestanten und Deutsche“ oder „Deutsche und Katholiken“ gibt es nicht.
Im Berliner Antisemitismusstreit wirft der bekannte Berliner Professor und Historiker Heinrich v. Treitschke den deutschen Juden mangelnden Assimilationswillen vor:
„Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen […]. Es bleibt aber ebenso unleugbar, daß zahlreiche und mächtige Kreise unseres Judenthums den guten Willen schlechtweg Deutsche zu werden durchaus nicht hegen.“ Er sieht den Antisemitismus als „…natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat…“ (Treitschke 1879)
Selbst der liberale Historiker Theodor Mommsen, der sich vehement gegen Treitschke wendet, wirft den Juden indirekt vor, dass sie am Judentum festhalten. „Die Schuld davon liegt allerdings zum Theil bei den Juden. … das Wort ‘Christenheit’ …ist immer noch das einzige Wort, welches den Charakter der heutigen internationalen Civilisation zusammenfasst …“ (Mommsen 1880)
Am Anfang des 20 Jahrhunderts finden sich auch offiziell in den meisten Parteiprogrammen Passagen wie die folgende: „Als eine zersetzende Kraft […] unseres Volkslebens hat sich das stammfremde jüdische Volk erwiesen. Und so erscheint uns der Kampf gegen die Macht des Judentums als eine sittliche, politische und wirtschaftliche Notwendigkeit.“ (Programm der deutsch-sozialen Partei, Leipzig 1905)
Auf diesem Gedankengut von Anti-Judaismus und rassistischem Antisemitismus gleichermaßen aufbauend schreibt Hitler „Mein Kampf“, entwickeln die Nationalsozialisten den Endlösungsplan für die Judenfrage, tief überzeugt, damit etwas zum Guten Deutschlands und zum Wohle der Menschheit zu tun. Diese Erlösungsphantasie als Teil eines Weltdeutungssystems hat kaum jemand so klar artikuliert wie Himmler in seiner Posener Rede 1943:
„… die Ausrottung des jüdischen Volkes […] Dies ist ein […] Ruhmesblatt unserer Geschichte […] Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, […] umzubringen.“ (Himmler am 4. Oktober 1943)
Es bestand nach Himmler die moralische Pflicht, alle Juden auszulöschen: „Ich habe […] ein so großes Pflichtbewußtsein – […] –, daß ich dann, wenn ich eine Sache als notwendig erkenne, sie kompromißlos durchfahre.“ (Himmler, 24. Mai 1944) Was Himmler als notwendig anspricht, ist die Ermordung der jüdischen Frauen und Kinder, die sich bei Schonung zu Rächern entwickeln könnten.
Die für uns heute unvorstellbare Inhumanität ist verbunden mit einem geschlossenen anti-jüdischen Weltbild langer Tradition und nur durch dieses erklärbar. Der „Erlösungsgedanke“ stand im Vordergrund: die Welt von der Existenz der Menschenfeinde zu befreien. Die absolute Entwertung von Juden als Juden. Hierin liegt das Unikale vom Antisemitismus und daher ist Judenfeindschaft auch nicht als ein Vorurteilssystem unter vielen anzusehen.
Bis zum Jahr 1945 war das Ressentiment gegen Juden Alltagsgut, war für viele Menschen so selbstverständlich wie der Glaube an Sonne und Mond, eine völlig normale Einstellung.
Brachte der Holocaust eine Zäsur? Es kam nach 1945, als das Ausmaß der Verbrechen weithin bekannt und deutlich wurde, keineswegs sofort zu dem tiefgreifenden Wandel im kollektiven Bewusstsein, den dieser Zivilisationsbruch hätte einleiten müssen. Zwar wurden die judenfeindlichen Bilder und Texte offiziell verbannt, doch eine wirklich tiefgreifende Reflexion gab es zunächst nur sehr vereinzelt. Im Sommer 1945 wird der Mord an den Juden in den Hirtenbriefen der deutschen Bischöfe nicht erwähnt. Auch die Rektoren der wieder geöffneten Universitäten finden kein Wort dazu.
Im Fuldaer Hirtenbrief vom 23. August 1945 wird der Massenmord verurteilt, doch Juden als „Nichtarier“ und „Volksgenossen fremden Stammes“ bezeichnet. Dass Judenfeindschaft als ein integraler Teil der viel beschworenen abendländischen Denkstrukturen seit Jahrhunderten zum Allgemeingut gehört, wird weder von den institutionellen Eliten noch von der Bevölkerung hinreichend erörtert und damit die Chance verpasst, ein wirkliches Umdenken einzuleiten.
In der Bevölkerung herrschten Desinteresse, Verdrängung und Relativierung, Aufrechnung von Leid. Exemplarisch für diese Haltung ist ein Text des hochgelobten Nachkriegsautors Wolfgang Borchert: „Kein Schwerkranker wird sich auf dem Krankenbett damit beschäftigen, Fieberkurven zu studieren, und es ist durchaus begreiflich, daß in dem Deutschland von 1947, wo der Hunger und die Kälte nahe Nachbarn geworden sind, die KZ-Literatur keine große Anhängerschaft gewinnen kann. Hatten die Häftlinge Hunger? Den haben wir auch. Haben die Häftlinge gefroren? Das tun wir auch. Häuften sich die Toten vor den Krematorien? Wenn es so weitergeht, werden sie das bald wieder tun. Waren die Häftlinge eingesperrt? Das sind Tausende von Kriegsgefangenen auch.“ (Wolfgang Borchert [1947])
Es bestand nicht nur, wie die Mitscherlichs es ausdrückten, die „Unfähigkeit zu trauern“, es bestand auch die Unfähigkeit, zu begreifen, was in der Mitte der deutschen Gesellschaft stattgefunden hatte. Denn Trauern setzt notwendig die Konzeptualisierung voraus, dass man etwas Wertvolles verloren hat.
Erst in den 60er Jahren, 20 Jahre nach dem Holocaust, setzte eine intensive Beschäftigung anlässlich der Auschwitzprozesse ein. Wir blicken heute auf 50 Jahre intensive Erinnerungskultur und Aufklärungsarbeit. Hat diese der Judenfeindschaft den Boden entzogen? Sind die Menschen in diesem Land sensibilisiert und kritisch gegenüber judeophober Feindbildrhetorik und Hasssprache?
Wir konstatieren die Tabuisierung und Skandalisierung von Antisemitismus im öffentlichen Kommunikationsraum sowie die Sanktionierung durch den Paragraphen der Volksverhetzung.Im Laufe der letzten Jahrzehnte entwickelten sich aber zahlreiche indirekte Formen: eine Umwegkommunikation, zum einen durch Umschreibung wie „die Banker von der Ostküste“ oder „jene einflussreichen Kreise“ (vor allem zu finden in rechtsgerichteten Publikationen). Zum anderen durch referenzielle Verschiebung: „Israel-Lobby“, „Zionisten“, „Israel“ – wenn eigentlich Juden gemeint sind. Seit seiner Gründung 1948 steht Israel als das wichtigste und ostentativste Symbol jüdischer Existenz im Fokus aller Antisemiten. Es symbolisiert für viele den „kollektiven Juden“.
Als Verbal-Antisemitismus gelten alle sprachlichen Äußerungen, mittels derer Juden als Juden entwertet und diskriminiert werden, intentional oder nicht-intentional, explizit oder implizit. Das Wort Jude(n) muss also keineswegs in einer Äußerung vorkommen, um diese als antisemitisch zu klassifizieren. Als antisemitisch werden von vielen Menschen oft aber nur aggressive Brachialformen wie die folgenden wahrgenommen.
„Verschwindet endlich aus unserer Welt, ihr jüdischer Abschaum!“ [an Zentralrat der Juden in Deutschland (ZJD), 11.02.2005]
„BALD WIRD ISRAEL VERNICHTET - ALLE JUDEN MÜSSEN STERBEN DAMIT DIESE WELT RUHE FINDET“ [an Israel Botschaft Berlin (IBB), 03.11.2006]
Über Anspielungen, Paraphrasen, rhetorische Fragen kann man judenfeindliche Inhalte implizit genauso wirkungsvoll ausdrücken:
„Entspricht womöglich die exzessive Gewalt an den Palästinensern, die auch den Mord an Kindern ausdrücklich einschließt, der langen Tradition Ihres Volkes?“ (Mail von einem Akademiker an den ZJD, 2009)
In diesen Tagen hört und liest man oft den Satz „Der Antisemitismus hat die Mitte erreicht“, historisch ist dies aber nicht korrekt. Der Antisemitismus war immer in der Mitte und hat diese nie verlassen!
In den letzten 10 Jahren ist zudem die Tabuisierungsschwelle, Verbal-Antisemitismen auch öffentlich zu kommunizieren, signifikant gesunken: So enthielten zwischen 2002 und 2004 9,2 Prozent der Leserbriefe zum Nahostkonflikt in überregionalen und regionalen Zeitungen antisemitische Äußerungen; 2010 bis 2012 waren es 37 Prozent.
„Die Juden werden uns in 100 Jahren noch an unsere Schuld erinnern, dazu braucht man keine weiteren Gedenktafeln.“ (Rhein-Zeitung vom 07.02.2007)
Auch die Verbreitung judeophoben Gedankengutes über das Internet hat sich in den letzten Jahren verdreifacht:
„Juden machen nur STRESS und besetzen ein Land das denen nicht gehört und töten Frauen und Kinder und zeigen keine Reue ... das sind Juden ....das ist die WAHRHEIT“ (e-hausaufgaben.de, 04.06.2008)
„Juden sind zum Töten da“ (studiVZ 2008)
„Wieso sind Juden immer so böse?“(http://www.gutefrage.net/, 01.01.2011 )
Diese Beispiele stammen nicht von rechtsradikalen Homepages oder Blogs, sondern sind frei einsehbar – gepostet auf ganz normalen Foren für Schüler und Studierende. Aufschluss über den authentischen Sprachgebrauch und Einblick in die mentalen Einstellungen von modernen Antisemiten erhalten wir über die Analyse von unaufgefordert gesendeten Texten an den Zentralrat und die Israelische Botschaft. 14.000 Mails und Briefe aus den letzten 10 Jahren zeigen: Über 60 Prozent der Menschen, die schreiben, kommen aus der Mitte der Gesellschaft (Lehrer, Ärzte, Journalisten, Bankangestellte, auffällig viele Akademiker). Antisemitismus artikuliert sich bei diesen stets mittels referenzieller Verschiebung als Anti-Zionismus und/oder Anti-Israelismus. Das Wissen um Auschwitz veranlasst diese Scheiber jedoch, jedweden Einstellungsantisemitismus vehement zu leugnen: „Ich bin kein Antisemit!“ ist eine Aussage, die besonders oft zu lesen ist.
Kaum ein Schreiben, das nicht auf die folgenden kommunikativen Strategien zurückgreift:
Legitimierung: „Ich bin durch und durch Humanist!“, „Ich als Christ…“
Rechtfertigung: „Israel provoziert das!“
Relativierung: „In Deutschland gibt es keinen ernstzunehmenden Antisemitismus mehr“.
Umdeutung: „Israel-Kritik muss erlaubt sein“.
Der Entlastungsantisemitismus vieler Bildungsbürger artikuliert sich vor allem in Täter-Opfer-Umkehrungen und kollektiven Schuldzuweisungen: „Die Legitimationsbasis all Ihrer Verbrechen ist wohl die zionistische Idee, ein auserwähltes Volk zu sein.“ [ZJD, 27.02.2009, ein Jura-Professor]
Häufig anzutreffen sind kausale Attribuierungen, die Antisemitismus als ein begründetes Phänomen rechtfertigen. Ein Journalist: „Bislang glaubte ich wirklich, die Juden seien zu Unrecht drangsaliert worden. Heute habe ich meine Zweifel.“ [IBB_01.11.2012]
Somit wird das alte antijudaistische Stereotyp „Juden sind selbst schuld am Antisemitismus“ kodiert: „Der Zentralrat der Juden fördert und erzeugt mit seiner unkritischen Haltung gegenüber der israelischen Unrechtspolitik massiv Antisemitismus“ [ZJD, 07.05.2008]
In der häufigsten Variante wird Israel bzw. israelischer Politik die Schuld für den Anstieg bzw. die Existenz von Antisemitismus weltweit gegeben. Teils intentional artikuliert: „Israel ist heute mehr denn jedes andere Land auf Erden die Nummer eins als Verursacher und Unterstützer von Antisemitismus.“ [IBB, 29.02.2008]. Teils nicht-intentional (aber dennoch mit der gleichen Wirkungsmacht) sogar im öffentlichen akademischen Diskurs: “the so called ‘new antisemitism’, sparked off by Israel’s politics in the Middle Eastern conflict, attacking Israel as the ‘collective Jew’; (Ankündigungstext zu einer Konferenz über Antisemitismus in Berlin 2013)
Die Semantik dieser Aussage beinhaltet die klassische Schuldzuweisung. Kein noch so falsches oder aggressives Verhalten israelischer Politiker jedoch rechtfertigt diese Lesart. Der Nahostkonflikt ist ein moderner Katalysator für bereits existierende judenfeindliche Ressentiments – mehr nicht. Antisemitismus wird immer nur von Antisemiten ausgelöst und entwickelt – von niemandem sonst.
Im modernen Selbstbewusstsein der Bildungsbürger verbietet sich das Eingeständnis, ein von Ressentiments gefangener Antisemit zu sein, denn das Wissen um die Geschichte ist stets präsent. Andererseits ist das Bedürfnis so groß, ist die Obsessivität mit Israel so ausgeprägt, dass sie es nicht unterdrücken können, ihre verbal-antisemitischen Äußerungen zu produzieren. Entsprechend finden in ihren anti-israelischen Mails alle klassischen Stereotype ihren Ausdruck – trotz der Beteuerung, nicht antisemitisch eingestellt zu sein: rachsüchtige Intriganten, mitleidlose Menschen, (Holocaust)Nutznießer, Landräuber, Menschen ohne Moral, arrogante und einflussreiche Provokateure, Juden als Nicht-Deutsche, Juden als Israelis: „solange Israel dem alttestamentarischen Gesetz der Rache folgt und ein anderes Volk brutal unterdrückt…“ (Zuschrift eines Gymnasiallehrers für Geschichte; IBB, Februar 2013)
Der Holocaust wird stets verurteilt und bedauert. Zugleich findet sich durchweg ein signifikanter Dualismus: Die gebildeten Verfasser unterscheiden zwischen „guten“ und „schlechten“ Juden: „Die Generation der unverschuldet geschmähten und ermordeten Juden will ich achten und ehren. Aber die jetzigen Juden spielen sich als Herrenmenschen auf … und um ihren Größenwahn zu befriedigen, führen sie barbarische Kriege und sind Mörder. und gehören auf die Liste der Terroristen.“ [ZJD,30.07.2006]. „Gute“ Juden sind entweder tot oder sie zeichnen sich durch Hass auf Israel aus.
Anti-Israelismus zeigt sich auch im Bildungsbürgertum als feindselige Einstellung, die sich verbal durch Dämonisierung („SS-Staat Israel“), Delegitimierung („hat kein Existenzrecht“) und die unikale Negativ-Bewertung („Boykottiert Israel!“) des jüdischen Staates zu erkennen gibt. NS-Vergleiche („KZ-Politik“), brachiale Pejorativlexik („Verbrecher-/Apartheidsstaat“) sowie de-realisierende Hyperbeln („die größte Gefahr für den Weltfrieden“) werden benutzt. Bei dem antisemitischen Anti-Israelismus werden tradierte judenfeindliche Stereotype auf Israel projiziert: („zweitausend Jahre alte Tradition“, „Blutrausch“, „Kindermörder Israel“, „Rache – die uralte Tradition von Juden“ etc.).
Solche Äußerungen finden wir mittlerweile auch im massenmedialen Kommunikationsraum: „Sie folgen dem Gesetz der Rache“ (J. Augstein, Spiegel-Kolumne 2012). Und alte Verschwörungstheorien klingen modern adaptiert: „Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen.” (J. Augstein, Spiegel-Kolumne 2012)
Zu den gängigen Diskursritualen gehört die Aussage, es sei nicht einfach, Antisemitismus zu bestimmen und ihn von legitimer Kritik abzugrenzen. Dies ist jedoch entweder eine reine Schutzbehauptung oder eine Einschätzung, die schlicht auf mangelnden Kenntnissen basiert. Die historisch fundierte Antisemitismusforschung gibt klar und unzweideutig das Kriterium: Wird ein judeophobes Stereotyp kodiert, ist es verbaler Antisemitismus, und nichts anderes.
Faktenresistenz und Unbelehrbarkeit sowie das Beharren, die Wahrheit zu verkünden, sind ein typisches Kennzeichen des antisemitischen Diskurses: Produzenten von Verbal-Antisemitismus zeigen sich weder einsichtig noch zeigen sie Bedauern ob ihrer Entgleisungen, sie kehren vielmehr den Vorwurf gegen ihre Kritiker und diffamieren diese als Gesinnungstyrannen. Vor allem der Vorwurf der angeblich inflationär benutzen „Antisemitismuskeule“ wird erhoben (meist gekoppelt an das Klischee, es gebe ein „Kritiktabu“). Unterstützt und legitimiert wird diese Argumentation zum Teil auch durch die Massenmedien, die solche typischen Bestandteile antisemitischer Argumentation unreflektiert reproduzieren („Darf ein Deutscher Israel kritisieren?“, Talkshow-Titel)
So wie die Rassisten des 19. Jahrhunderts und die Nationalsozialisten unerschütterlich dem Weltdeutungsmuster anhingen, Juden seien das Grundübel der Menschheit, so lassen sich moderne Antisemiten nicht in ihrem Glauben erschüttern, Israel sei ein mörderischer Verbrecherstaat, ein Frevel in der Völkergemeinschaft. Die obsessive Beschäftigung mancher Deutscher mit dem Nahostkonflikt, ihre Boykottforderungen und fortwährenden, Israel verdammenden Petitionen, führen eine alte Tradition im modernen Gewand fort. Vielfach kommunizieren gebildete Schreiber Judenfeindschaft als Missionarsdrang, als Moralappelle: „Wir Deutschen haben aus unseren Fehlern gelernt, Sie begehen diese jetzt.“ [ZJD, 30.08.2008 – Ein promovierter Geschichtslehrer, der auf die alte Differenzkonstruktion zurückgreift: Wir Deutschen – Ihr Juden)
„Ich ermahne Ihren Staat, endlich Menschlichkeit an den Tag zu legen […].“ [IBB, 17.01.2009] - so ein Arzt aus Bochum. Die zweitausend Jahre alte Vorstellung „Juden als Feinde der Menschheit“ findet in der anti-israelischen Variante ihren zeitgemäßen Ausdruck: „Israel ist die größte Gefahr für den Weltfrieden.“ [IBB, 17.05.2012 – so ein Professor aus Augsburg].
Auf Israel werden Eigenschaften des Konzeptes des ewigen Juden projiziert, und kontinuierlich wird auch die alte Erlösungs-Konzeptualisierung transparent. Extremistische Judenhasser, linke Anti-Zionisten und Bildungsbürger greifen hier nicht nur auf exakt dieselbe Konzeptualisierung, sondern auch auf fast identische Sprachmuster zurück:
„Nur durch Eure vollständige Ausrottung kommt Frieden in die Welt. Heil Hitler! er war Humanist, denn er wollte die Welt vor Euch retten.“ [IBB, 7.04.2012; ein Rechtsradikaler].
„Nur durch die vollständige Auflösung des Unrechtsgebildes Israel kommt Frieden in die Welt!“ [IBB, 10.08.2011 – ein Akademiker und Linker aus Bremen, gibt Namen/Adresse an].
„Israel ist eine Anomalie und sollte friedlich aufgelöst werden.“ [IBB, 21.07.2012 – so ein Professor, „setzt sich für Frieden und interreligiöse Verständigung ein“, vermittelt seinen Kindern „humanistische Werte“].
Sowohl Juden als auch Israel sind dabei für die meisten empirieferne Abstrakta: „Ich kenne persönlich keinen einzigen Menschen aus Israel, oder jüdischen Glaubens, aber ich hasse Sie, weil Sie so grausam mit den armen Palästinensern umgehen.“ [ZJD, 2009]. Das kulturell verankerte Ressentiment ist stärker als die eigene Erfahrung, die Bereitschaft, den Massenmedien beim Nahostkonflikt alles Schlechte über den jüdischen Staat zu glauben, groß.
Überdrussmentalität und Gefühlskälte artikulieren sich vielfach:
„Ich kann und will das Wort ‚Holocaust‘ nicht mehr hören.“ (ZJD, 2008)
„Lassen Sie doch bitte die Vergangenheit endlich ruhen!“ (ZJD, 2009)
„Ich habe kein Mitleid mit den israelischen Opfern in diesem Konflikt.“ (IBB, 2012)
Und auch Endlösungsphantasien sind bei gebildeten Menschen aus der Mitte zu finden – immer bezogen auf Israel: „Aus Sicht eines realpolitischen Deutschlands a la Merkel muss man sagen, dass sieben Millionen tote Juden, so schlimm das auch wäre, aber nüchtern betrachtet besser wären als sieben Milliarden tote Menschen wegen der jüdischen brutalen Weltherrschaft,“ so ein Arzt aus Paderborn [IBB, 21.2.2013], „wählt links“, „ist kein Antisemit“. Die Projektion klassischer Entwertungsstereotype auf Israel ist heute die vorherrschende Formvariante des aktuellen Antisemitismus, und sie findet sich zunehmend auch in der Öffentlichkeit.
Verharmlosungen dieser modernen Variante von Judenfeindschaft entstehen teils aus dem Mangel an Kenntnis über die tradierten Ausdrucksvarianten des Verbal-Antisemitismus und teils auch aus der Unterschätzung des Beeinflussungspotenzials sprachlicher Dämonisierungsrhetorik. Viktor Klemperer hat diesen Einfluss als „geistiges Arsen“ bezeichnet. Gehirnforschung und Kognitionswissenschaft belegen heute empirisch untermauert den Einfluss der Sprachverarbeitung auf den menschlichen Geist. Ein Großteil der Prozesse in der menschlichen Kognition verläuft unbewusst und automatisch, d. h. unbeeinflusst von Intention, Wille und Verstand. Die Semantik sprachlicher Äußerungen mit judeophoben Stereotypen kann, und sei es auch implizit und sei es auch nicht beabsichtigt, Ressentiments wecken oder verstärken, Einstellungen und Gefühle prägen. Bedeutungszuordnung verläuft wie ein Reflex, löst Assoziationen, Inferenzen und Analogien, negative Gefühle aus. Sprache hat deshalb eine so ungeheure Macht, weil sie ein geistiges Instrument der Beeinflussung und Lenkung unserer Gedanken und Gefühle ist, weil durch sie Manipulation und Persuasion ausgeübt werden kann.
Auswirkungen auf die öffentliche Meinung und das kollektive Bewusstsein liegen offen zutage: Kinder, die sich „Du Jude“ als Schimpfwort zurufen, obgleich sie die Bedeutung des Wortes oft nicht einmal kennen. Die jährlichen Umfragen, die zeigen, dass über 50 Prozent der Deutschen ein verzerrtes und de-realisiertes Israel-Bild haben und 51 Prozent Aussagen zustimmen wie „Die Israelis behandeln die Palästinenser heute so wie die Nazis die Juden“. Auswirkungen solcher Verbal-Muster spiegeln sich auch in den Mails wider: „Augstein hat Recht: Sie folgen dem Gesetz der Rache!“, so eine Gymnasiastin aus Berlin. [IBB, 08.02.2013]
Die Fokussierung auf Israel darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Intoleranz und Verbissenheit keineswegs nur bei israelischen Themen auftritt. Die Beschneidungsdebatte, maßgeblich in der Öffentlichkeit geführt von Ärzten, Pädagogen und Psychologen, brachte das alte Ressentiment massiv zum Vorschein: in Leserbriefen, in Kommentaren und Artikeln. Beispiele: „Unchristlicher Irrsinn, religiöser Wahn, barbarisches Ritual, dubiose Riten einer rückständigen Religion, Kinderverstümmelung einer führenden Sekte, Kindsverbrechen einer antiquierten Religion, die Riten bronzezeitlicher Stämme, perverse Säuglingsfolter“ (Beispiele aus Facebook, ZdJ, IBB, Youtube, Fokus, SZ, Spiegel, ARD, ZDF-Kommentarbereich)
Und ein Psychologieprofessor mahnt: „Unsere Gesellschaft basiert auf den christlichen Tugenden, auf Respekt, Liebe, Mitleid. Sie befinden sich sowohl mit ihrer Gewalt gegen die Palästinenser als auch gegen ihre eigenen Kinder auf einem Irrweg.“ [IBB, 24.07.2012]
Ich komme zum Ende meiner Vorlesung:
Die Sprache der Judenfeindschaft deckt eine zweitausend Jahre alte Differenzkonstruktion auf und eine Diffamierungsrhetorik, die im Wandel der Zeit die äußere Form wechselt, aber kontinuierlich in ihren Inhalten ist. Die Konzepte der Judenfeindschaft, ihre Semantik sind unverändert – trotz aller Variationen und Transformationen. Antisemitismus ist ein Chamäleon: Es verändert seine Farbe und seine Gesichtsausdrücke, nicht aber seine Substanz. Über die Sprache werden judeophobe Stereotype epochenübergreifend reproduziert, teils intentional, teils auch nicht-intentional. Auch die Erfahrung des Holocaust und seine intensive Aufarbeitung haben diese Tradition nicht überall gebrochen.
Unser modernes Bewusstsein sieht Judenfeindschaft als etwas grotesk Inhumanes und Wahnhaftes an. Vielen Menschen fällt es sehr schwer zu realisieren, dass weiterhin Judenfeindschaft in der Mitte der Gesellschaft existiert. Verdrängung, Erkenntnisabwehr und Umdeutung von aktuellem Antisemitismus sind daher oft die Folge. Judenfeindschaft ist aber kein Phänomen von Randgruppen, von Extremisten, von Ungebildeten, Judenfeindschaft kam aus der gebildeten Mitte und ist immer noch in ihr verankert.
Machen wir uns immer wieder klar, dass die moderne Verurteilung von Antisemitismus erst einige wenige Jahrzehnte alt ist und einem kollektiven Wissen gegenübersteht, das 20 Jahrhunderte Judenfeindschaft als normalen Bestandteil der Welt- und Werteordnung archiviert. Zweitausend Jahre Kulturgeschichte gegen 50 Jahre Aufklärungsarbeit.
Unsere Gesellschaft zeigt ein Wahrnehmungsproblem: Nur der radikale und vulgäre Antisemitismus von Rechts wird als Antisemitismus wahrgenommen und verurteilt. Der antisemitische Anti-Israelismus aber wird selbst dann allzu oft als legitime Kritik verteidigt, wenn klar erkennbar klassische antisemitische Stereotype dabei kodiert werden. Judeophobe Inhalte bleiben dadurch im kommunikativen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft erhalten. Die Mehrheitsgesellschaft reagiert dazu seit Jahren mit Schweigen. Aus der Habitualisierung kann aber allzu schnell Normalisierung werden.
„Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden“ - so seinerzeit Fritz Bauer zur jungen Demokratie in Deutschland.
Der Blick auf die judeophoben Sprachgebrauchsmuster, auf die Sprache der Judenfeindschaft, zeigt, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart massiv durchdringt und dass sie die Zukunft Deutschlands (und Europas) weiterhin prägen wird, wenn Politik, Medien, Forschung und Zivilgesellschaft die modernen Formen des Verbal-Antisemitismus in ihrer Mitte dulden.