Die Tora Israels als Lehrerin der Freiheit
Rabbiner-Brandt-Vorlesung 2007
Prof. Dr. Erich Zenger
Sehr verrehrte Damen und Herren!
Das Christentum hat sein theologisches Profil gegenüber dem Judentum bis heute nicht zuletzt in der weitgehenden Ablehnung des jüdischen Gesetzes gesucht. Vor allem in der Gestalt des reformatorischen Christentums hat es Jesus Christus als Befreier vom Gesetz und Paulus als Kämpfer gegen alle Formen jüdischer Gesetzlichkeit gefeiert. Ich selbst erinnere mich noch gut an die Faszination, die auf uns Angehörige der sog. 68-Generation das seinerzeit von Ernst Käsemann propagierte Schlagwort vom liberalen Jesus ausübte. Für uns engagierte junge Katholiken war dieser Jesus in seinem angeblichen Kampf gegen die jüdische Gesetzesreligion das Paradigma unseres Kampfes gegen eine von uns als verkrustet empfundene hierarchische Kirche. In der Reformeuphorie, die das Zweite Vatikanum entfacht hatte, entdeckten wir die Freiheit des Christenmenschen in der Ablehnung einer Kirchenorganisation, die für uns damals viele Analogien zu jenem Judentum hatte, gegen das Jesus mit Leidenschaft kämpfte. So jedenfalls glaubten viele von uns damals!
Ich verhehle nicht: Auch ich war von diesem Jesus fasziniert. Dass dieses Jesusbild auf historisch schwachen Füßen stand und dass es ein massiv anti-jüdischer Jesus war, kam uns damals nicht in den Sinn. Das habe auch ich erst nach und nach gelernt. Der erste Schritt des Umdenkens war, dass wir Jesus nicht mehr als Gegner des Judentums, sondern als Reformer des Judentums proklamierten und das Christentum zum Reformjudentum erklärten. Die Erkenntnis, dass diese These eine besonders sublime Form des traditionellen christlichen Antijudaismus war bzw. ist, war dann der nächste Lernschritt, den wir machten. Aber auch dabei konnten wir nicht stehen bleiben. Schließlich kamen wir zur Einsicht, dass Judentum und Christentum zwei vor Gott gleichberechtigte Religionen sind, mit gleicher Würde, aber je eigener Identität und nicht mehr aufzuhebender Trennung, und dass der Dialog zwischen ihnen für beide eine Bereicherung sein kann, gerade dann, wenn sie die jeweils andere Religion in ihrer Eigenart respektieren. Dass zu dieser Eigenart des Christentums seine bleibende Verwiesenheit auf das Judentum und seine Traditionen gehört, ist freilich eine Erkenntnis, die das Christentum erst allmählich umzusetzen beginnt.
Zu diesen Judentum und Christentum verbindenen Traditionen gehört gerade die Tora des Mose als Programm gesellschaftlicher und individueller Freiheit. Dazu möchte ich in dieser ersten Rabbiner-Brandt-Vorlesung einige Überlegungen vortragen.
Den fünf Büchern der Tora entsprechend gliedere ich meine Vorlesung in fünf Teile:
1. Die Tora als Heiliges Buch
2. Die Singularität der Tora Israels in ihrem kultur- und religionsgeschichtlichen Kontext
3. Das große Thema der Tora: Befreiung zur Freiheit
4. Die Tora als eine der Grundlagen der Menschenrechte
5. Annahme der Tora in Freiheit
Für mein Verständnis der Tora habe ich als christlicher Theologe viel von meinen jüdischen Freunden gelernt. Auch von meinem Freund Henry Brandt. Als wir vor vier Wochen anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit von Münster im Festsaal des Münsteraner Rathauses über die Erzählung »Jakob am Jabbok« des Buches Bereschit/Genesis einen theologischen Dialog führten, wurde mir wieder bewusst, wie wichtig der jüdisch-christliche Diskurs ist, um gerade uns Christen vor Einseitigkeiten und Engführungen zu bewahren. Während wir Christen dazu neigen, die Tora vor allem in haggadischer Absicht zu lesen, d.h. als unser großes Gottesbuch, fordern die Juden uns heraus, ihre halachische Leseweise der Tora, also das Studium der Tora als Lebensbuch, ernstzunehmen. Ich will in dieser Vorlesung versuchen, beiden Leseweisen gerecht zu werden – mit dem Ziel, die Großartigkeit dieses Basisbuchs von Judentum und Christentum aufleuchten zu lassen.
1. Die Tora als Heiliges Buch
Die herausragende Rolle der Tora wird für den Religions- und Kulturgeschichtler daran erkennbar, dass die geschriebene Tora-Rolle in der synagogalen Architektur und Liturgie die Rolle der Götterbilder bzw. der Gottespräsenz übernimmt. Sie ist im Heiligen Schrein an der Stirnseite der Synagoge verborgen und wird als Höhepunkt der Liturgie enthüllt. Sie ist nicht nur äußerlich besonders kostbar gestaltet, meist als Königin gekrönt. Sie ist auch unter Beachtung ritueller Vorschriften geschrieben. Insofern sie Medium der Gottespräsenz ist, gilt die Torarolle als heilig oder, wie die jüdische Tradition sagt, als ein Gegenstand, der »die Hände verunreinigt«, d.h. unberührbar ist für nicht geheiligte Hände. Diese Wendung bezog sich ursprünglich auf die maßgeblichen Musterexemplare am Zweiten Tempel, die als »heilige« Exemplare unter Beachtung ritueller Regelungen hergestellt bzw. geschrieben wurden und nur von »rituell geheiligten« Personen gebraucht bzw. gelesen werden durften. Als heiliges Buch jüdischer Identität wird die Tora heute im Laufe eines Jahres als lectio continua vorgelesen und ausgelegt. Und dementsprechend wird die hohe und zentrale Bedeutung der Tora als Wegbegleiterin durch das Jahr am Fest Simchat Tora, dem Fest der Torafreude gefeiert (das dieses Jahr am 5. Oktober, also gerade vor ein paar Tagen, begangen wurde). Wenn an diesem Tag die Torarolle singend und tanzend durch die Synagoge getragen wird, wird die Freude Israels über die Tora als besondere Gabe Gottes an sein Volk, ja als Realsymbol seiner Präsenz inmitten Israels, besonders deutlich. Wer auch nur einmal das Fest Simchat Tora mitfeiern konnte, wird über die dümmlichen christlichen Klischees von der Tora als niederdrückende und entfremdende Last nur erschrocken sein können.
Durch die Tora bzw. durch die als Schriftrollen vorliegende Gestalt der Tora ist das Judentum, wie man traditionell sagt, eine Buchreligion und hebt sich dadurch von den Kultreligionen ab. Die entscheidende Differenz zwischen Kultreligionen und Buchreligionen lässt sich mit Jan Assmann folgendermaßen beschreiben: »In den Kultreligionen ist der Text in das Ritual eingebettet und diesem untergeordnet, in den Buchreligionen ist der Text das Entscheidende und das Ritual hat nur noch rahmende und begleitende Funktion … In den Kultreligionen … herrscht eine Partizipationsstruktur vor, die auf dem Geheimnis basiert. Kultreligionen sind Geheimnisreligionen, sie sind bestimmt vom Pathos der Geheimhaltung, Exklusivität und Esoterik.
Buchreligionen dagegen sind Offenbarungsreligionen. In ihnen herrscht das Pathos der Verkündigung und Erklärung. Hier kommt es auf die maximale Verbreitung der Textkenntnis an. Im Idealfall sollte jedes Mitglied der Gemeinschaft die Texte lesen, ja auswendig kennen und Zugang zu einem Ausleger haben, der sie ihm oder ihr erklären und bei dem er oder sie Rat holen kann« (J. Assmann, Die Erfindung der Schrift: Universitas 59, 2004, 787).
In religionsgeschichtlicher Hinsicht ist festzuhalten: Der Aufstieg der Tora zum Basisdokument jüdischer Identität ist eng verbunden mit der Götzenbilderpolemik des 6. und 5. Jahrhunderts, wie sie in besonders entfalteter Form im sog. Deuterojesaja und in den davon abhängigen Psalmen 115 und 135, aber auch in der Tora selbst, im 4. Kapitel des Buches Deuteronomium, vorliegt. Dabei geht es nicht mehr nur um die Ablehnung der Verehrung von Bildern anderer Götter oder des Gottes Israels, sondern um die grundlegende Zurückweisung der materiellen Abbildbarkeit Gottes überhaupt, gewissermaßen um einen intellektuellen Ikonoklasmus. An die Stelle von Götterbildern trat im Judentum die Gottespräsenz im Medium der Schriftrolle bzw. der Schrift, deren angemessene An- und Wahrnahme nicht primär die kultische Anbetung, sondern die Rezitation und das Studium war.
Diese zentrale Rolle der Tora und der damit begründeten bzw. geforderten Lese- und Lernkultur hat bekanntermaßen das Judentum bis heute in sehr buchstäblichem Sinne zur Buch- und Wissenskultur gemacht. Sie kommt bereits in der Tora selbst in mehreren wunderschönen Metaphern zur Sprache. So werden im biblischen Text des Schema, in Dtn 6,4–9, die Worte der Tora geradezu buchstäblich zum Lebensraum der individuellen und gesellschaftlichen Existenz:
»Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen (wie auf einer Schreibtafel) geschrieben stehen.
Du sollst sie deine Kinder lehren: Du sollst sie immer wieder aufsagen, wenn du zu Hause sitzt oder wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.
Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden.
Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben« (Dtn 6,6–9).«
Diese Anweisungen, die im nachbiblischen Judentum bis heute im Brauch der Mesusa, der Tefillin und der Zizit ihre lebendige Ausdrucksgestalt haben, will die Worte der Tora geradezu zu der alle Augenblicke des Lebens bestimmenden Aura machen, will der Tora gewissermaßen kulturelle, soziale, leibliche und architektonische Präsenz geben. Die Worte der Tora sollen Israel zu einer kollektiven Lerngemeinschaft und generationenübergreifenden Tora-Schule machen. Die Worte der Tora sollten der wichtigste Lernstoff sein, den Eltern ihren Kindern weitergeben. Mit den Worten der Tora sollen Kinder das Lesen und Schreiben lernen. Die Tora soll gewissermaßen die Sprach- und Denkkultur sein, die Eltern und Kinder als Lebensgemeinschaft verbinden – jomam walajelah, »bei Tag und bei Nacht«, wie es z.B. in Ps 1,2 heißt, oder eben ob man sitzt oder geht, ob man sich niederlegt oder aufsteht, wie es Dtn 6,7 formuliert. Die Worte der Tora sind sodann nach Dtn 6,8 Merkmale der politischen Kultur. Die »Zeichen an der Hand« bezeichnen den Armreif, den in der damaligen Welt ein Beamter als Zeichen seiner Loyalität gegenüber seinem König trug. Die Embleme auf der Stirn waren die Zeichen, mit denen man sich als Diener oder Dienerin einer bestimmten Gottheit präsentierte. Im biblischen Israel sollten Worte der Tora, insbesondere das monotheistische Gebot der Verehrung des Gottes Adonaj diese Rolle der politischen und kultischen Zugehörigkeit signalisieren. Die Tora bzw. Worte der Tora sollen nach Dtn 6,9 auch das Leben der gesellschaftlichen und politischen Welt prägen und leiten. Deshalb sollen an den Türpfosten aller Häuser, also in den familiären Lebensräumen, und an den Stadttoren, wo Recht gesprochen wird, also im Bereich der politischen Institutionen, Worte der Tora angeschrieben und lesbar sein. Die Tora ist demnach in Israel nicht nur als Dokument religiöser, sondern kultureller und politischer Identität entstanden. Durch die Tora wurde Israel zur wichtigsten Buchreligion und zu einer Gemeinschaft mit singulärer Lern- und Diskurskultur, wodurch sich das Judentum m.E. auch von den aus ihm hervorgegangenen Buchreligionen Christentum und Islam unterscheidet.
2. Die Singularität der Tora Israels in ihrem kultur- und religionsgeschichtlichen Kontext
Die einzigartige religions- und kulturgeschichtliche Bedeutung der Tora in der Gestalt der fünf Bücher Mose bzw. des Pentateuch liegt darin, dass sie im Bereich der Religion – um mit Jan Assmann zu sprechen – die Mosaische Unterscheidung gebracht und reflektiert hat, d.h. die Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion (vgl. besonders J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003). Während es bis dahin eine geradezu unreflektierte Symbiose von Religion und Gesellschaft bzw. Staat gab, wobei die Religion die jeweils bestehenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen legitimierte, oder während es beinahe selbstverständliche Transformationen oder Mutationen in den Götterwelten und Panthea aufeinander folgender politischer Systeme gab, vollzog der Mosaische Monotheismus – vermutlich in einem längeren Prozess, der im 6. Jh. seinen Abschluss fand – eine klare Unterscheidung zwischen dem einzig wahren Gott und den falschen Göttern. Einerseits bedeutete diese Unterscheidung die Unterscheidung zwischen Monotheismus und Polytheismus. Andererseits aber implizierte diese Unterscheidung, was m.E. viel wichtiger war, eine Kriteriologie des wahren Gott-Seins, die spektakulär war und ist.
Das Hauptkriterium der wahren Göttlichkeit lag nicht im Bereich des Kultes, auch nicht in der Ablehnung der Götterbilder, so wichtig dies für die Religion Israels auch war, sondern im Bereich der Ethik, in Sonderheit im Verhalten der Gottheit zur Freiheit der Menschen und zur Würde aller Menschen, jenseits von Rasse und Geschlecht, als Bildern Gottes. Die singuläre Leistung der Religion Israels liegt m.E. in der Ethisierung und in der Humanisierung der Religion. Beides ist eine Folge des Mosaischen Monotheismus. Das muss gegen eine allzu oberflächliche und modisch gewordene Kritik am biblischen Monotheismus mit Nachdruck hervorgehoben werden.
Die statistisch häufigste Gottesprädikation der jüdischen Bibel insgesamt und der Tora im besonderen lautet: Der Gott Israels ist darin und dadurch der wahre Gott, dass er Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt, d.h. befreit hat, und weiterhin Israels Freiheit durchsetzen und schützen will. Ein solches Gottesverständnis ist im altorientalischen Kontext geradezu revolutionär. Während Götter und Götterpanthea in der Umwelt Israels die Funktion hatten, bestehende Staaten, Klassengesellschaften und Tempelhierarchien zu legitimieren, erweist der Gott Israels nach dem Zeugnis der Tora sein Gott-Sein darin, dass er unterdrückte Sklaven aus einem pharaonischen Ausbeutersystem rettet, ja dass er dieses sich selbst vergötzende System buchstäblich entgöttert. Es kommt hier nicht auf die historische Verifizierbarkeit einzelner historischer Ereignisse an: In unserem Zusammenhang genügt die unbestreitbare Erkenntnis, dass mit der Tora ein religiöser Basismythos vorliegt, der in seiner Staats- und Religionskritik und in der damit verbundenen Botschaft göttlich legitimierter Freiheit und Menschenwürde singulär ist. Und diese Singularität liegt nicht zuletzt darin, dass das nachexilische Judentum unter Esra diesen religiösen Basismythos zum Dokument religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Identität des Judentums gemacht hat. Die Tora Israels ist deshalb auch weder eine Dogmatik noch ein Ritualbuch, sondern wie die Tradition sie nennt eben »Tora« bzw. »sefer hattora«, d.h. ein Lehr- und Lernbuch, und zwar nicht für eine Elite, sondern für das ganze Volk Israel.
3. Das große Thema der Tora: Befreiung zur Freiheit
Wenn man die fünf Bücher der Tora als einen großen Textzusammenhang oder als eine fortlaufende Geschichte über die Anfänge Israels als Gottesvolk liest, ergibt sich eine spannende und vielschichtige Erzählung über Israels dramatischen Weg in das Gelobte Land als einem Lebensraum der Freiheit. In der Tat ist dies das grandiose Thema der Tora: Rettung aus tödlicher Bedrohung und Befreiung zur Freiheit. Exodus und Sinai sind hier die entscheidenden Stichworte. Durch den Exodus wird Israel aus Unterdrückung und Leid befreit und am Sinai wird Israel gelehrt, wie es inskünftig mit dieser ihm geschenkten Freiheit umgehen soll.
Dabei ist entscheidend: Diese Befreiungsgeschichte wird nicht nur in der Tora, sondern als Tora, d.h. als Lehre und Weisung überliefert. Die Tora tritt mit dem Anspruch auf, dass man aus der Geschichte nicht nur etwas, sondern sogar das Entscheidende lernen kann, wenn man die Geschichte richtig liest und vor allem richtig erinnert.
Zunächst und grundlegend erinnert die Tora die Befreiungsgeschichte Israels als eine Gottesgeschichte. Dabei bietet die Tora keine Spekulationen über das innere Wesen Gottes, sondern erzählt, wo Gott am Werk ist und wo er als wahrer Gott gefordert ist. Sie lässt Gott sogar selbst reden, um dieses sein spezifisches Gott-Sein zu erläutern: »Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und die Klageschreie wegen ihrer Antreiber habe ich gehört, ja ich kenne seine Leiden. Ich bin herabgestiegen, es aus der Macht Ägyptens herauszureißen und es hinaufzuführen in ein gutes und weites Land« (Ex 3,7f.). Und dann wird, wie uns allen bekannt ist, erzählt, dass JHWH unter Führung des Mose sein Volk aus dieser vielfachen Unfreiheit und Entfremdung herausführt, gegen den Widerstand des pharaonischen Machtapparates, und dann sogar den göttlichen Pharao eigenhändig ins Meer wirft. Das ist gewissermaßen der Schluss des ersten Aktes dieses Schauspiels: Der wahre Gott erweist sein Gott-Sein im Kampf gegen menschliche Unterdrückung und in der Entmachtung pharaonischer Ausbeutungs- und Versklavungssysteme.
Dann folgt am Sinai der zweite Akt des Schauspiels. Abermals lässt die Tora hier Gott selbst reden. Ja, Gott definiert sich nun gewissermaßen selbst. Literarisch geschieht dies in dem Satz, den die wissenschaftliche Exegese in literarischer Hinsicht als Überschrift der Zehn Gebote erklärt und der im Judentum als erstes der Zehn Gebote gezählt wird (Ex 20,2):
אנכי יהוה אלהך
אשׁד הוצאתיך מארץ מצרים מבית עבדים
Ich bin Adonaj, dein Gott,
der dich befreit hat aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus.
Das ist die Zusamenfassung des bisher erzählten Geschehens. Aber zugleich ist es das Fundament und die Zielperspektive der dann folgenden Einzelgebote und der Tora insgesamt. Der Befreiergott fordert das befreite Volk auf, die geschenkte Freiheit zu bewahren und zu schützen – und zwar gemeinsam und auf allen Lebensfeldern. Dabei geht es nicht primär um die Durchsetzung der eigenen, individuellen Freiheit, sondern um den Schutz der Freiheit der anderen und des anderen, insbesondere der Schwachen und der Alten. Es geht um den Schutz des sozialen Zusammenlebens, um den Schutz des Eigentums als Grundlage einer menschenwürdigen Existenz und es geht um die Unantastbarkeit des Lebens überhaupt.
Wie wichtig der Tora der Dekalog ist, wird daran erkennbar, dass er gleich zweimal überliefert ist (Ex 20 und Dtn 5) und dass die Erzählung ihn von Gott selbst auf die zwei Steintafeln schreiben lässt. Und in der Erzählung vom Goldenen Kalb stellt die Tora ihre Leserinnen und Leser vor die entscheidende Alternative: Unfreiheit in der Sklaverei falscher Götter oder Freiheit im Dienst des befreienden Gottes in der Annahme seiner Gebote. Das Hebräische kann hier mit ein und demselben Wort spielen: Es kommt auf die richtige Wahl der ??????? an, ob man als Sklave falscher Götter oder als Diener des wahren Gottes leben will, wobei in Erinnerung zu rufen ist: Der wahre Gott ist nach der Kriteriologie der Tora der Gott, der zur Freiheit befreit.
Am Dekalog lässt sich besonders pointiert erkennen, was ich Ethisierung und Humanisierung der Religion genannt habe. Die Tora verwendet sehr viele Mühe darauf, die im Dekalog entworfenen Basisaxiome befreiter Freiheit nach vielen Seiten hin zu reflektieren und zu konkretisieren. Gerade diese Bemühung der Tora um das familiäre, gesellschaftliche und rituelle Leben hat dem Judentum von Seiten des Christentums oft den Vorwurf der Gesetzlichkeit oder des Versuchs der Selbsterlösung eingebracht. Dabei hat man nicht nur die Gesamtperspektive der Tora als Anleitung zum Schutz der gemeinsamen Freiheit übersehen, sondern noch mehr die in der Tora grundlegende Aufforderung, sich frei für dieses Leben nach der Tora zu entscheiden. Darauf werde ich im fünften Teil noch zurückkommen.
Lässt man sich vorurteilsfrei auf all die Einzelheiten ein, die die Tora in den Büchern Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium über die Ordnung, Förderung und Feier des Lebens, aber auch über die Wiederherstellung gestörten Zusammenlebens ein, wird man staunen über die Lebensnähe und die Lebensweisheit der Tora. Es ist unübersehbar, wie stark das Interesse der Tora an all dem ist, was wir Heutige Sozialgesetzgebung und Sozialethik nennen. Aber es ist darüber hinaus faszinierend, zu sehen, worum sich die Tora im Einzelnen kümmert: beispielsweise um Steuern, um soziale Fürsorge, um kommunale Organisation, um Entschuldung, um Rechtshilfe für Arme, um das Nachleserecht bei der Ernte, um Erbrecht, um die Organisation des Justizwesens, um den Schutz der Vogelnester, um den Umgang mit Infektionskrankheiten, um den Schutz des Baumbestandes und vieles mehr. Mit der Erinnerung an den befreienden und das Leben schützenden Gott wird in der Tora dazu aufgerufen, auf den vielen Feldern des Lebens schützend, heilend und wiederherstellend tätig zu sein.
Die ethisierende und humanisierende Dynamik der Tora wirkt auch in den Bereich des Kults hinein. Wenn die Tora mehrfach einschärft, dass zu den Opfermahlzeiten Fremde, Arme, Witwen und Waisen zugeladen werden sollen, dann ist dies theologisch und sozial zugleich begründet: Kultische Gemeinschaft vor und mit Gott gibt es eben nur, wo und wenn soziale Gemeinschaft sehr konkret gestiftet und erfahren wird. Was diese Opfermahlzeiten in biblischer Zeit sozialpolitisch bedeutet haben, geht unmittelbar auf, wenn wir den Lebensstandard und die Ernährungssituation bedenken. Selbst für wohlhabende Bauern und Handwerker war Fleisch damals eine Seltenheit. Nur bei besonderen festlichen Anlässen konnte man sich gebratenes oder gekochtes Fleisch leisten. Ein derartiger Anlass waren die Schlachtopfer am örtlichen Heiligtum oder am Jerusalemer Tempel, wobei ein Teil als Bandopfer galt, der größere Teil aber in der gemeinsamen Opfermahlzeit verzehrt wurde. Indem dazu Arme, Fremde und Ausländer, Waisen und Witwen eingeladen werden sollten, bot das Schlachtopfer diesen die Möglichkeit, trotz ihrer Armut in den Genuss von Fleisch und eines festlichen Mahles zu kommen – und dabei sehr konkret zu erleben, dass der wahre Gott ein menschenfreundlicher und gerade die Armen und Marginalisierten schützender Gott ist. Die Erinnerung an den befreienden Gott wird in der Tora dabei als Motivation und Begründung eingeschärft:
»Ja, Adonaj euer Gott, ist der Gott über den Göttern und der Herr über den Herren. Er ist der große Gott … Er verschafft Waisen und Witwen ihr Recht. Er liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung. So sollt auch ihr die Fremden lieben, denn auch ihr seid Fremde gewesen in Ägypten« (Dtn 10,17f.).
4. Die Tora als eine der Grundlagen der Menschenrechte
Gewiss wurden die ersten ausdrücklichen Formulierungen der allgemeinen Menschenrechte im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht biblisch begründet. Gleichwohl bin ich der Überzeugung, dass die bereits mehrfach apostrophierte Ethisierung und Humanisierung der Religion durch die Tora eine wichtige Weichenstellung auf dem Weg zu den allgemeinen Menschenrechten und zum Konzept der fundamentalen Menschenwürde bedeutete.
Zur Singularität der Tora Israels gehört auch ihr schöpfungstheologischer Anfang in Gen 1–9 bzw. Gen 1–11, der in der Fachwissenschaft meist als Ur-Geschichte bezeichnet wird, weil hier sozusagen die kosmische und menschheitsgeschichtliche Bühne für die dann mit Abraham beginnende Geschichte Israels erzählerisch entworfen wird. Welt- und Menschenschöpfungsmythen gibt es in vielfältiger Form auch in Israels Umwelt. Wir können sogar mit guten Gründen annehmen, dass Israel derartige Mythen und Epen nicht nur kannte, sondern sich mit ihnen und ihren Konzepten auseinandersetzte. Ist diese interpretatorische Relecture altorientalischer und ägyptischer Überlieferungen durch Israel bereits als solche ein erstaunliches Phänomen, so ist vor allem singulär, dass Israel die Erzählungen über die Welt- und Menschenschöpfung und über die Genese der Völkervielfalt an den Anfang der Darstellung seiner eigenen Ursprungsgeschichte gestellt hat. Was dies religionsgeschichtlich und kulturgeschichtlich, insbesondere auf Grund des diesen biblischen Erzählungen innewohnenden entgötternden, ja geradezu aufklärerischen Impetus, bedeutet, kann ich hier nicht weiter entfalten.
Ich möchte zunächst erläutern, wie stark die Erzählung über die Menschenschöpfung in Gen 1–2 vom Pathos der Freiheit imprägniert ist. Das lässt sich durch einen kurzen vergleichenden Blick auf die altorientalischen Menschenschöpfungsüberlieferungen zeigen.
Den ersten vergleichenden Blick werfen wir auf den Atramchasis-Mythos , der im zweiten und ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung im gesamten Alten Orient bekannt war, nach Meinung vieler Bibelwissenschaftler auch in Israel. Dieser Mythos beginnt mit den erstaunlichen Sätzen:
Als die Götter (auch noch) Menschen waren,
trugen sie die Mühsal, schleppten sie den Tragkorb.
Der Götter Tragkorb war groß,
die Mühsal war schwer, viel Beschwernis gab es.
Da wollten die sieben großen Anunnaku,
dass nur noch die Igigu die Mühsal tragen sollten ...
Die Anunnaku des Himmels
legten die Mühsal auf die Igigu …
Die Igigu begannen, Flüsse zu graben,
Kanäle öffneten sie, das Leben für das Land.
Der Mythos beginnt mit einer Aufspaltung der Götter in zwei Klassen. Eine kleine Gruppe von Göttern, die sieben großen Anunnaku, beschließen, dass nur noch die niedere Klasse der Götter, die Igigu, die harte Arbeit in der mesopotamischen Flussebene leisten sollten, um die Versorgung der Götter und ihrer Tempel sicherzustellen. Die Igigu sollten als Arbeitsgötter die Freiheit und den Luxus der sieben Obergötter gewährleisten.
Doch nach 2500 Jahren revoltieren die Arbeitsgötter und wollen auch selbst richtige Götter in Freiheit und ohne Arbeit sein. Sie streiken, verbrennen ihre Werkzeuge und versammeln sich vor dem Palast Enlils, des obersten der Götter. Dieser ruft die anderen Obergötter zusammen und einer von ihnen, Enki, der Gott der Weisheit, weiß einen Ausweg, nämlich die Erschaffung der Menschen. Ihm schließen sich die anderen Obergötter an und sagen zur großen Muttergöttin Beletili:
Du bist der Mutterleib, der die Menschheit erschafft,
erschaffe den Urmenschen, dass er das Joch auf sich nehme!
Er nehme das Joch auf sich, das Werk des Enlil,
den Tragkorb des Gottes trage der Mensch.
Und so schafft die Muttergöttin den Urmenschen aus Lehm und mischt in den Lehm das Blut eines dafür geschlachteten Igigu-Arbeitsgottes und erklärt dann feierlich nach Vollendung der Menschenschöpfung:
Eure schwere Mühsal schaffe ich hiermit ab;
euren Tragkorb leg ich den Menschen auf.
Die Menschen werden hier also geschaffen, um die Götter vom Frondienst zu befreien. Die Menschen sind die Sklaven der Schöpfung, die den Göttern ein Götterleben ohne Mühsal und in göttlicher Muße zu ermöglichen. Das ist die anthropologische Grundthese, die in zahlreichen Texten Mesopotamiens präsentiert wird, nicht zuletzt, um die dort bestehenden Gesellschafts- und Staatsstrukturen zu legitimieren: Der Daseinssinn des Menschen ist es, für die Götter hart zu arbeiten und so den Kosmos in Gang zu halten. Genuss des Lebens und der Freiheit sind das Privileg der Götter – und einiger Menschen, die als Könige und Oberpriester in ihren Ländern die Rolle der Götter spielen und deshalb göttergleich sind.
Diese mythische Legitimierung einer in Freiheit und Luxus lebenden göttergleichen Oberschicht und die gewissermaßen schöpfungsgegebene Verpflichtung der breiten Menschenmassen, Diener dieser göttlichen Oberschicht zu sein und darin ihre schöpfungsgemäße Bestimmung entsprechend zu leben, zeigt uns ein anderer altorientalischer Mythos von der Erschaffung des Menschen und des Königs, der von Werner R. Mayer in der Vorderasiatischen Abteilung der Berliner Museen entdeckt und 1987 erstmals publiziert wurde. Dieser Mythos erzählt von der sukzessiven Erschaffung zweier unterschiedlicher Menschenklassen. Auch hier werden die Menschen wie im Atramchasis-Mythos geschaffen, weil die Arbeitsgötter sich weigern, weiterhin zu arbeiten, um das Werk der Weltschöpfung zu vollenden bzw. die Welt in Gang zu halten. So wird also der »normale Mensch«, der lullu-amelu, geschaffen, um die Freiheit der Götter zu ermöglichen. Doch danach folgt ein zweiter Akt der Menschenschöpfung. Nun wird der »königliche Mensch«, der maliku-amelu, geschaffen. Wieder hat der Gott der Weisheit, Ea/Enki, die Idee:
Ea begann zu sprechen, indem er sein Wort an Belet-ili richtete:
Belet-ili, die Herrin der gossen Götter, bist du,
du hast den Normalmenschen (lullu-amelu) geschaffen,
bilde nun den König, den überlegen-entscheidenden Menschen (maliku amelu).
Mit Schönheit umhüllte seinen ganzen Körper,
forme seine Gestalt mit Harmonie, mache seinen Körper schön!
So schuf Belet-ili den König, den überlegen-entscheidenden Menschen.
Die großen Götter gaben ihm die (Macht zum) Kampf.
Anu gab ihm seine Krone, Enlil gab ihm seinen Thron.
Nergal gab ihm seine Waffe, Ninurta gab ihm seinen Lichtglanz.
Belet-ili gab ihm ein schönes Aussehen,
Anweisung gab Nusku, erteilte Rat und stand ihm zu Diensten.
Blicken wir von diesen altorientalischen Traditionen auf die ersten zwei Kapitel der Tora sind sowohl Gemeinsamkeiten als auch fundamentale Differenzen unübersehbar. Ich will diese skizzenartig in folgenden Punkten zusammenfassen:
Der biblische Schöpfergott erschafft die Menschen weder als Götterersatz noch als kosmische Sklaven, die ihm ein freies und genussvolles Leben ihm Himmel ermöglichen sollen. Er gibt den Menschen vielmehr eine eigene Dignität und sorgt sich, wie Gen 2 plastisch erzählt, darum dass es seinen Menschen gut geht. Deshalb schafft er sie als Mann und Frau, die als gegenseitige Stütze und als eigenständiges Gegenüber eine Lebensgemeinschaft bilden sollen, über die der Schöpfergott in Gen 1 seinen Segen ausruft. Nach meinem Wissen haben wir bislang keinen vergleichbaren altorientalischen Menschenschöpfungstext, in dem sich der Schöpfergott mit vergleichbarer Aufmerksamkeit und Zuneigung der Erschaffung eines Menschenpaares widmet.
Anders als in der babylonischen Tradition, in der nur der König als der »eigentliche« gottähnliche Mensch geschaffen wird, während die Masse der Menschen für den Frondienst zu Gunsten der Götter und der gottähnlichen Könige bestimmt ist, abweichend auch von ägyptischer Tradition, in der nur der Pharao und die obersten Priester der Reichstempel »Bilder Gottes« sind, schiebt das Schöpfungskonzept der Tora diese Wesen- und Klassenunterschiede kühn beiseite. Nach Gen 1,26–28 (und ähnlich pointiert in Psalm 8) sind alle Menschen in gleicher Weise »königliche Bilder Gottes« weil alle in gleicher Weise von Gott geschaffen sind. In literarischer und konzeptioneller Hinsicht ist die Abfolge der beiden Schöpfungsgeschichten Gen 1 und Gen 2 sehr überlegt gestaltet. In der ersten Schöpfungserzählung geht es um die Gattung »Mensch«, deswegen wird der Gattungs- bzw. Kollektivbegriff ’adam gebraucht. Gen 2 spiegelt dann die Tatsache, dass es die Gattung »Mensch« in männlichen und weiblichen Individuen gibt. Gen 1 spricht dabei ausdrücklich allen Menschen, eben der Gattung Mensch, die gleiche königliche Würde zu. Insofern alle Menschen sich ein und demselben Schöpfergott verdanken, sind vor dem Schöpfergott alle fundamental gleich.
Diese schöpfungstheologische Festschreibung der Gleichheit aller Menschen als Menschen ist eine unmissverständliche Absage an die Ideologie und die Praxis aller Formen der Diskriminierung von Menschen. Der Talmud spitzt die in Gen 1 gundgelegte Gleichheit aller Menschen noch dadurch zu, dass er den Text auf die Schaffung eines einzigen Menschen hin auslegt und ihm folgende Pointe gibt:
Warum schuf Gott nur einen Menschen? … Damit niemand zu seinem Mitmenschen sagen kann: Mein Vorfahr war besser als deiner (Sanhedrin IV,5).
Die Gleichheit aller Menschen vor Gott und voreinander ist auch ein Anliegen der Erzählung Gen 2 über die Erschaffung des ersten Menschenpaares, von dem alle Menschen abstammen. Diese Erzählung braucht und darf man nicht fundamentalistisch und kreationistisch als naturwissenschaftliches Dogma eines biologischen und historischen Monogenismus zu lesen. Vielmehr steckt hinter dieser Erzählung die politische Idee: Weil alle Rassen und Völker in der Sicht des Schöpfergottes von einem einzigen Elternpaar abstammen, sind sie alle von gleicher Würde – und zwar Kraft ihres Menschseins und nicht abhängig von irgend einer politischen oder religiösen Autorität. Jeder Mensch hat als Mensch eine ihm von Gott selbst verliehene Würde, die in seiner Geschöpflichkeit und in seiner Gottebenbildlichkeit gründet, die er durch nichts verlieren kann.
Dieses Konzept der Tora ist m.E. eine der Grundlagen der neuzeitlichen Menschenrechte, wie es z.B. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 im 1. Artikel heißt:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren.
Was die Neuzeit »Menschenrechte« nennt, hat eine Grundlage in der schöpfungstheologischen Konzeption der allen in gleicher Weise und innerweltlich unableitbar zukommenden Menschenwürde. Sie ist die Basis für das grundlegende Recht jedes Menschen, Rechte zu haben. Dies gilt auch gegenüber allen Staaten und Institutionen.
Dass dieses Konzept einer fundamentalen Gleichheit dennoch nicht als gottgewolltes Pogramm gesellschaftlicher oder religiöser Uniformität missverstanden werden darf, entfaltet die Tora in der Erzählung Gen 11,1–9 über den sog. Turmbau zu Babel, deren Komplexität ich hier nicht im Einzelnen entfalten kann, zumal ihre bibelwissenschaftliche Auslegung sehr kontrovers ist. Ich selbst lese die Geschichte im Kontext der vorangehenden sog. Völkertafel Gen 10, die eine Explikation des Abschluss-Satzes der Sintfluterzählung Gen 9,18f ist, wo es heißt: »Die Söhne Noachs, die aus den Arche herausgekommen waren, sind Sem, Ham und Jafet … Diese drei sind die Söhne Noachs; von ihnen stammen alle Völker der Erde ab.« Die dann in Gen 10 folgenden Genealogien der drei Söhne Noachs haben im Erzählzusammenhang eine doppelte Funktion: Sie überbrücken einerseits die erzählte Zeit von der Urgeschichte zur Volksgeschichte Israels und sie stellen andererseits die gesamten Völkerschaften des damaligen Vorderen Orients als eine große miteinander verwandte Menschheitsfamilie dar. Selbst Erzfeinde Israels wie Assur und so weit entfernte Völkerschaften wie Tarschich werden programmatisch auf den gemeinsamen Stammvater Noach zurückgeführt. Doch zugleich wird ihre Verschiedenheit als schöpfungsgegeben und schöpfergewollt konstatiert, wenn in Gen 10 gleich dreimal, jeweils am Ende der genealogischen Listen der von Jafet, Ham und Sem abstammenden Völker gesagt wird: »Das sind die Söhne Jafets/Hams/Sems nach ihren Sippenverbänden, nach ihren Sprachen in ihren Ländern, nach ihren Völkern« (vgl. Gen 10,5.20.31).
Die Geschichte über den Turmbau von Babel erzählt vom Versuch der Weltmacht Babylon, diese schöpfungsgegebene Vielfalt durch den Ausbau Babylons zur Metropole der ganzen Welt aufzuheben. Das wird erzählerisch einmal durch die Heranziehung »aller Menschen« zu dem monumentalen Bau einer Megapolis mit einem bis zum Himmel reichenden Turm in der Mitte geschildert. Zum anderen soll dieses Projekt globaler Uniformierung in der Zerstörung der Vielfalt der Sprachen durch eine Einheitssprache auch ideologisch unterstützt werden. Dass und wie imperiale Bestrebungen, die Weltherrschaft durch gigantische Bauprojekte und durch eine Einheitssprache zu erlangen, bei den Assyrern, bei den Babyloniern und bei den Persern zur Realpolitik gehörten, ließe sich an einschlägigen Texten gut belegen. Die Pointe von Gen 11 ist diesbezüglich unmissverständlich: Der biblische Gott greift ein und verhindert dieses Projekt der globalen Uniformisierung sowie der Vernichtung der Individualität der Sprachen und Ethnien und stellt die schöpfungsgegebene Vielfalt wieder her.
In dieser Hinsicht bietet die Tora sogar völkerrechtlich relevante Perspektiven. Sie plädiert nicht nur für die gleichen Rechte der Individuen, sondern auch der Völker. Das ist angesichts der dann ab Gen 12 erzählten Sonderstellung Israels durch die Erwählung Adonajs nicht nur bemerkenswert, sondern im Vergleich mit den Konzepten anderer Religionen exzeptionell.
5. Annahme der Tora in Freiheit
Die einzigartige religionsgeschichtliche Leistung der Tora ist der reflektierte und selbstreflexive Monotheismus mit der sog. Mosaischen Unterscheidung zwischen wahr und falsch im Bereich der Religion, zwischen Wahrheit und Lüge in der Religion. Im Horizont der Mosaischen Unterscheidung genügt nicht mehr der bloß rituelle Vollzug. Gefordert ist vielmehr die freie Entscheidung für die wahre Religion. Die Religion wird nun gewissermaßen zur Herzenssache. Man kann dieses Proprium und Novum der Mosaischen Unterscheidung mit Jan Assmann (vgl. ders., Die Mosaische Unterscheidung, München 2003, 156) die »Erfindung des inneren Menschen« nennen: »Die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge teilt nicht nur den äußeren Raum, sie schneidet auch mitten durch das menschliche Herz, das nun erst eigentlich zum Schauplatz religiöser Dynamik wird. Die [mosaische] Religion ist in einem ganz neuen und emphatischen Sinne ›Herzenssache‹. Dazu genügt der Hinweis auf das Schema-Gebet, das nicht von ungefähr die Einzigkeit Gottes und die Intensität des inneren Nachvollzugs in engsten Zusammenhang bringt:
Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist Einer. Und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir ins Herz geschrieben sein.«
Vor allem die Kapitel 4 und 30 des Buches Deuteronomium stellen heraus, dass die Tora in Freiheit angenommen werden will und dass es eine freie Entscheidung des Herzens sein soll. Und zugleich wird betont, dass die Tora die Kraft des Menschen nicht überfordert, sondern im Gegenteil seinem Leben Kraft gibt.
In der Übersetzung Martin Bubers lauten die wichtigen Worte aus Dtn 30 so:
Denn dieses Gebot, das ich heuttags dir gebiete,
nicht entrückt ist es dir, nicht fern ists.
Nicht im Himmel ist es, daß du sprächest:
Wer steigt für uns zum Himmel und holts uns
und gibt’s uns zu hören, daß wirs tun?
Nicht überm Meer ist es, daß du sprächest:
Wer fährt uns übers Meer hinüber und holts uns
und gibt’s uns zu hören, daß wirs tun?
Nein, sehr nah ist dir das Wort,
in deinem Mund und in deinem Herzen,
es zu tun.
Sieh,
gegeben habe ich heuttags vor dich hin
das Leben und das Gute,
den Tod und das Böse …,
wähle das Leben,
damit du lebst, du und dein Same:
IHN deinen Gott zu lieben,
auf seine Stimm zu hören,
an ihm zu haften,
denn das ist dein Leben und Länge deiner Tage
beim Siedeln auf dem Boden, den ER deinen Vätern
Abraham, Jizchak, Jaakob, zuschwor ihnen zu geben.
Der befreiende Gott will eine freie Zustimmung freier Menschen. Eine staatlich oder institutionell aufgezwungene Gottesverehrung nach dem Prinzip »cuius regio eius religio« wäre ein tiefster Gegensatz gegen das Freiheitspathos der Mosaischen Unterscheidung. Zwangsmissionierung und Feldzüge zur Ausbreitung des Judentums hat es deshalb nie gegeben.
Dass die Entscheidung für die Tora eine Herzenssache sein soll, kommt nach einer traditionellen Erklärung im Wortlaut der Tora selbst zum Ausdruck und wird am Fest der Torafreude ausdrücklich bewusst gemacht, wenn nacheinander die Schlussworte der Tora aus Dtn 34 und anschließend die ersten Worte der Tora aus Gen 1 gelesen werden. In dieser Abfolge gelesen ergibt sich ein tiefsinniges Wortspiel. Das letzte Wort der Tora lautet: ??????; das erste Wort der Tora lautet: ???????. Der letzte Buchstabe ist also ein Lamed, der erste ein Bet. In dieser Abfolge gelesen ergibt sich das Wort ?? »Herz«. Weil und wenn Israel die Tora sich zur Herzenssache macht, ist es auf dem Weg des Lebens und der Freiheit.
Im letzten Kapitel des Buches Josua wird diese Freiheitsperspektive in einer eindrucksvollen Szene dargestellt. Wie Jakob und Mose hält auch Josua vor seinem Tod eine große Abschiedsrede in Sichem, die in dem Aufruf an die Stämme Israels kulminiert:
Entscheidet euch heute, wem ihr dienen wollt –
dem Herrn, unserem Gott, oder den Göttern.
Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen.
Wo Freiheit für die Religion und Freiheit der Religion ein Grundprinzip von Religion ist, wächst die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Überzeugungen Anderer in ihrer Andersartigkeit zu respektieren. Wer selbst Freiheit für je eigene Entscheidungen will, muss und kann diese Freiheit auch anderen gewähren. Das gilt im Bereich der eigenen Religion wie auch gegenüber anderen Religionen.
Im zweiten Buch der Tora, im Buch Exodus, gibt es eine wunderschöne Geschichte über die Kreativität und die Effektivität alltäglicher Freiheit. Mit dieser Geschichte will ich meine Vorlesung beschließen.
Als das aus den Sklavenlagern des Pharao befreite Israel auf seinem Weg durch die Wüste an den Gottesberg Sinai kommt, lässt sich, so wird erzählt, eine große Wolke über dem Berg Sinai nieder und hüllt den Berg ein. Sechs Tage lang warten sie voller Spannung – und in der Tat: Am siebten Tag, dem Schabbat, wird Mose von der Stimme Gottes in die Wolke gerufen. Mose steigt den Berg hinauf, und dort zeigt ihm Gott das Modell eines Heiligtums, das das ganze Volk gemeinsam bauen soll, damit er als ihr Gott in ihrer Mitte wohnen und sie so sein Volk, das heißt seine Familie, werden können. Es sollte ein echtes Werk des Volkes sein, zu dem alle beitragen, jede und jeder, wie ihr Herz sie treibt (vgl. Ex 25,2). Der Bau des Heiligtums wird als Einübung in Freiheit und Erfahrung von Gemeinschaft erzählt. Anders als im pharaonischen Ägypten sind keine Eintreiber hinter und keine Zensoren über ihnen. Jeder und jede bringen ihre spezifische Begabung ein, wie der Geist sie treibt. Und wen verwundert’s: Das so erbaute Heiligtum, das Werk von befreiten und freien Menschen entspricht, so stellt Mose dann ausdrücklich fest, genau dem Modell, das Gott ihm auf dem Berg gezeigt hatte (vgl. Ex 39,42 f). Und so hebt sich die Wolke vom Berg Sinai und lagert sich über dem Heiligtum, der sog. Stiftshütte, und die Herrlichkeit des Exodus-Gottes nimmt Wohnung inmitten des Volkes.
In der Tat: Wo Menschen in Freiheit ihre jeweiligen Gaben für eine gemeinsame Sache einbringen, da wohnt Gott. Das ist die Botschaft der Tora Israels als Lehrerin der Freiheit.