Messianismus und mystischer Aktivismus im gegenwärtigen Judentum: Chabad Lubawitsch

Rabbiner-Brandt-Vorlesung 2011

Prof. Dr. Micha Brumlik


1.Vorbemerkung

Im Winter des Jahres 1987, zwei Jahre vor dem Fall der Mauer, klingelte in den Räumen der jüdischen Gemeinde von Ostberlin das Telefon und die abhebende Sekretärin sah sich genötigt, das Vorstandsmitglied Dr. Runge zu rufen: „Kommen Se mal, det is Englisch, det vasteh ich nich…“ Die in New York geborene Irene Runge hörte dann – es war zur Chanukkazeit – dass zwei Rabbiner aus Amerika nach Ostberlin kommen wollten, sie etwas mitbringen würden und man sie auch ohne weiteres am damaligen Grenzübergang Friedrichstrasse erkennen würde. Tatsächlich kamen dort ein paar Stunden später zwei blutjunge Männer mit langen Bärten, Schläfenlocken und schwarzen Kaftanen an, die Kerzen, Chanukkaleuchter und wohl auch etwas Schnaps mitgebracht hatten, um mit den wenigen Mitgliedern der ostberliner jüdischen Gemeinde dieses im Allgemeinen als minder wichtig eingestufte Fest zu begehen. Dazu später mehr. Der Besuch der beiden jungen Männer erwies sich als der Beginn einer wundervollen Freundschaft zwischen Irene Runge und den Lubawitscher Chassidim: nachdem Runge zu Beginn des Jahres 1990 den „Jüdischen Kulturverein“ gegründet hatte, eine Gruppe für all jene Juden, deren Status nicht in jedem Fall den halachischen Regeln entsprach, die als ehemalige Kommunisten auf keinen Fall Mitglied er als westlich verschrieenen Berliner Jüdischen Gemeinde werden wollten oder die als überzeugte Atheisten nicht einsahen, warum sie Mitglied einer Religionsgesellschaft werden sollten, waren es die Lubawitscher, die die geistliche Betreuung des Jüdischen Kulturvereins für jene zwanzig Jahre, die er bestehen sollte übernahm: Es waren Lubawitscher, die Chanukkakerzen besorgten, einen Seder zu Pessach ausrichteten und im Falle von Not und Krankheit älteren Menschen halfen.

Heute, mehr als zwanzig Jahre später, unter gänzlich veränderten weltpolitischen Verhältnissen, liegen die Berliner Lubawitscher in einem erbitterten Streit mit der offiziellen Jüdischen Gemeinde um die Zuteilung von Mitteln und der Berliner Senat sah sich bemüßigt, einen Vermittler, einen Spezialisten für Staats- und Kirchenrecht einzuschalten, um bei dem Streit um Mittel eine drohende Klage der Lubawitscher gegen den Senat zu verhindern, was übrigens bisher gelungen zu sein scheint. Die Drohung mit einer Klage gegen Senat scheinen die Lubawitscher übrigens – das sei nebenbei angemerkt - der World Union for Progressive Judaism abgeschaut zu haben, die ob der Diskriminierung ihrer liberalen Mitgkiedsgemeinden durch die Zentralratsgemeinden vor fast zehn Jahren damit drohte, die deutsche Bundesregierung wegen dem Grundgesetz widersprechender Ungleichbehandlung liberaler jüdischer Gemeinden im Rahmen von Staatsverträgen zu verklagen. Unter dieser Drohung bestellte der damalige Innenminister Schily die Streithähne von Zentralrat und Union progressiver Juden in sein Ministerium ein und erwirkte so jenen bis heute haltbaren Kompromiß, der schließlich in der Gründung zweier vom Zentralrat der Juden in Deutschland anerkannter Rabbinerkonferenzen, der Allgemeinen und der orthodoxen Rabbinerkonferenz gipfelte. Wird sich der Konflikt zwischen Berliner Einheitsgemeinde und Berliner Lubawitschern ähnlich lösen lassen, vor allem aber: hat – und nur darum kann es bei einer Rabbiner Brandt Vorlesung gehen – diese ganze Auseinandersetzung auch eine theologische Dimension?

2.Innerjüdische Mission

Das ist unzweifelhaft der Fall, doch bevor ich auf die schwerwiegenden theologischen Konsequenzen all dessen eingehe, ist es unerlässlich, die in Teilen märchenhafte Geschichte der Bewegung der Lubawitscher Chassidim, vor allem im Zwanzigsten Jahrhundert zu erzählen. An einem jedenfalls kann überhaupt kein Zweifel bestehen: die Lubawitscher Chassidim, also die alles in allem nicht mehr als 35.000 Menschen zählende Anhängerschaft der Gruppe kann als die seit Jahrhunderten erfolgreichste und aktivste innerjüdische Missionsbewegung zählen.[1] Sie versucht – mit zum Teil erheblichen Erfolg – tatsächlich das zu tun, worum sich bereits Jesus von Nazareth – so Matthäus 15,24 - bemühte: um die Heimholung der verlorenen Schafe Israels. Ob hoch im Himalaya, in Katmandu, wo Lubawitscher Gesandte, Schluchim, wir würden von Aposteln sprechen, jüdischen Hippies zu Pessach Matzes zukommen lassen, ob auf den Campus us.amerikanischer Universitäten, wo sie den traditionellen jüdischen Studentenwerken wie Hillel House mit ihren niedrigschwelligen Angeboten den Rang ablaufen, ob in Deutschland, wo sie sich gezielt um die glaubensfernen Mitglieder des jüdischen Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion kümmern – überall, wo sich größere oder auch kleinere Gruppen von Jüdinnen und Juden zusammnfinden, sind die Lubawitscher mit ihrer Devise: „No Jew will be left behind“ bereits da.

Dieser Aktivismus ist ohne die theologischen Grundlagen, aber auch ohne die spezifische Religions- und politische Kultur der USA nicht zu verstehen: „Theologisch“ geht er nicht nur auf die schon von Schneersons Vorgänger gebotenen inneramerikanischen Werbekampagnen zurück, sondern – Menachem Schneerson hat diese Inspiration durchaus eingestanden – auf den von John F. Kennedy angeregten „Peace Corps“ Gedanken.[2] Schneerson formte diesen Gedanken zu der von späteren Interpreten so genannten „Ufaratzto“ Kampagne um, also zu einer Missionskampagne, zu deren Beginn – so seine Weisung – die künftigen „Shluchim“, also die Apostel – enthusiastisch jenes hebräische Lied singen sollten, das da mit den Worten „Ufaratzto, Ufaratzto“ beginnt – das war zu Beginn der 1960er Jahre. Die Worte des Liedes zitieren Bereschith, Genesis 28/14, Gott zu Jakob in seinem Traum von der Himmelsleiter spricht: „Dein Same soll werden wie der Staub der Erde, du wirst dich ausbreiten nach Westen, nach Osten, nach Norden und nach Süden…“
Der anfangs durchaus skeptischen Journalistin Sue Fishkoff verdanken wir eine inzwischen auch auf Deutsch, in der Schweiz erschienene Reportage:„The Rebbes Army – Inside the World of Chabad-Lubavitch“.[3] Die ebenso anschauliche wie packende Studie erhellt den Geist dieser Bewegung, die – wie schon erwähnt – von John F. Kennedys Aufbruchstimmung der 1960er Jahre ebenso inspiriert ist wie sie eine eine verblüffende phänotypische Ähnlichkeit mit dem Missionswesen der Mormonen aufweist: Auch diese Glaubensgemeinschaft ermutigt, ja verpflichtet ihre jugendlichen Mitglieder, in der Welt für ihren Glauben zu werben. Mit zwei Unterschieden: während sich die Mormonen unterschiedlos an alle Menschen wenden, Lubawitscher Schluchim aber nur an Juden und – gewichtiger noch – während die Mormonen jeweils zwei junge Männer für etwa ein halbes Jahr auf Mission schicken, senden die Lubawitscher nur verheiratete junge Paare aus. Eine Lebensgemeinschaft, die stärkere Bindungen und damit auch ein stärkeres Durchhaltevermögen unter den oft schwierigen Bedingungen einer gänzlich unjüdischen Umwelt ermöglicht.

3.Öffentlichkeit

Aber mehr noch: Chabad Lubawitsch strebt auch eine deutlich hegemoniale Präsenz in der allgemeinen Öffentlichkeit und scheut sich nicht, auch nichtjüdische Politiker als ihre Schirmherren und – frauen zu gewinnen. Chabad Lubawitsch nutzt öffentliche Auftritte gerne, ihre theologischen Gehalte zu manifestieren. So zierte für das zu Ende gehende Jüdische Jahr 5765, nach säkularer Zeitrechung 2004/2005 das Titelbild des von Chabad Lubawitsch Frankfurt herausgegebenen „Jüdischen Kalenders 2004/2005 Frankfurt“ – und schräg daneben geschrieben „5765“ die Fotografie eines beleibten, eine Kippah tragenden Knaben, der seinen Finger auf die Seite eines Gebetbuchs hält sowie eines etwas schlankeren Mädchens, das auf eine Alef Bet Tafel deutet. Auf der dritten Seite finden sich zudem – auf die zweite, theologisch bedeutsamste ist noch zurückzukommen – zudem zehn Farbfotografien u.a. von Studenten der Frankfurter Jeschiwa als Bäckern, von einem Frankfurter Rebben, der vor einem Hochhaus eine riesige Chanukka Leuchte entzündet sowie von Kindern auf einem Tagescamp zu sehen sowie – klein, aber unübersehbar – ein Porträtfoto der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth; ein Bild, das über einem von Oberbürgermeisterin unterzeichneten Schreiben an die Nutzer des Kalenders steht. „Viele von Ihnen“ so dürfen wir lesen „freuen sich Jahr für Jahr auf den informativen und schönen Wandkalender von Chabad Frankfurt, der sie mit zwölf beeindruckenden Losungen in den kommenden Monaten begleiten wird.“ Neben der Fotografie eines mißmutigen Jungen liest man eine der von der Oberbürgermeisterin gepriesenen Losungen: zuerst den Segensspruch über das Blasen des Schofars, und dann eine Geschichte über den Gründer des Chassidismus Israel Baal Schem Tov sowie den älteren Rav Schneerson, den Schwiegervater des von Menachem Mendel Schneerson, die davon handelt, daß das Gebet jedes einzelnen Menschen letzten Endes ein „Schrei“ sei – eine Geschichte, die auf dem Kalender mit der wahrhaft tröstlichen Erläuterung endet: „Ein solcher Rettungsruf an G’tt mag erhört werden oder eben auch nicht“. Weiter heißt es dort: „Was aber alle Juden am Rosch- Ha Schanah gleichwohl tun, ist das „Schreien“ als solches, welches aus dem allertiefsten Innern der jüdischen Seele kommt, und dieses „Schreien“ wird von G’tt dem Allmächtigen, erhört.“.

Wendet man sich der zweiten Seite des Kalenders zu, so sieht man das Bild eines Erwachsenen: eine Fotografie von Rabbi Menachem M. Schneerson, also ein Bild des 1994 in Brooklyn hochbetagt und kinderlos verstorbenen Oberhaupts jener aufgrund ihrer modernen Kommunikationsmethoden so erfolgreichen chassidischen Gruppe. Der kursiv gedruckte Begleittext zu dieser Photographie endet mit einem Bekenntnis: „Der Mut, die Kraft und das Vorbild des Rebbe inspirieren noch heute die weltweite Arbeit von Chabad. Das ist keine Bezeugung zu seinem Gedenken, sondern ein dynamischer Ausdruck seines lebendigen, fortwirkenden Vermächtnisses. Dieses Vermächtnis drängt uns vorwärts. Wir arbeiten für eine Welt, in der ewiger Frieden herrscht, für eine Welt großartigen Wissens und der Fülle – für den Tag, an dem der Moschiach sich uns offenbart.“

4. Moshiach

Der Kalender offenbart, was der modernen jüdischen Orthodoxie angehörige Kritiker schon seit längerem festgestellt haben, innerjüdisch ein Ärgernis und religionswissenschaftlich ein Faszinosum ist: die Neuentstehung des christlichen Gedankens zweitausend Jahre nach Jesus von Nazareth im Herzen der chassidischen Orthodoxie. Man kann den Kern des christlichen Gedankens, wie er sich im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels herausbildete, so fassen: Der Gott Israels schickte sein erlösendes Wort unter Israel und die Menschen, wobei dieses erlösende Wort in Gestalt eines Menschen auftrat, der zugleich die Aufgabe und die Fähigkeit hat, Israel und die Welt zu erlösen. Dieser Glaube hat die vom rabbinischen Judentum in Reaktion darauf strikt abgelehnte Konsequenz, dass erstens Gott selbst sich in einem Menschen manifestiert und – zweitens – dass auch ein toter Messias Messias bleibt.

Ein genauer Blick auf ein eher beiläufiges Zeugnis der Lubawitscher Theologie, in diesem Falle Aussagen eines populären Kalenders sind vielsagend: man muß sich die Andeutungen des Kalenders auf der Zunge zergehen lassen: die Arbeit von Lubawitsch ist demnach nicht deshalb erfolgreich, weil man des Rebben gedenkt, sondern deshalb, weil diese Arbeit Ausdruck seines „lebendigen, fortwirkenden Vermächtnisses“ ist. M.a.W: so wie nach dem Glauben nicht nur der frühen Kirche der Geist Jesu in ihr fortwirkt und sie trägt, wirken die Tugenden des Rebben „lebendig“ in der Gemeinde der Lubawitscher nach, kurz: er selbst – nicht etwa Gott – trägt diese jüdische Gemeinschaft. Indem der erste - hier nicht zitierte Satz - des Begleittextes feststellt, daß eine Persönlichkeit wie Schneerson jeder Generation nur einmal geschenkt werde, bezieht er sich auf die halachisch anerkannte Messiaslehre – vor allem des Maimonides[4] -, wonach der Messias keine einzigartige Person sei, sondern ein jeweils von Gott Gesandter, der in jeder Generation auftreten kann und auftritt. Aber auch der Kalender stellt ein Messiasrätsel: wer wird sich schließlich in der Welt ewigen Friedens und großartigen Wissens als Messias, also endlich als „der Moschiach“ offenbaren? Wollen die Verfasser des so nützlichen Kalenders nahelegen, daß sein Antlitz das des Menachem Mendel Schneerson sein wird?

Ihre volle Dynamik, man geradezu von „Wucht“ sprechen, aber gewann die Mission der Lubawitscher Chassidim nicht vor Beginn der 1990er Jahre. In diesen Jahren – die Sowjetunion war untergegangen, der Staat Israel hatte die Bedrohungen durch Saddam Husseins Irak überstanden - verdichtete sich unter immer mehr Anhängern des Rebben die Überzeugung, dass er, der ja kinderlos geblieben war, der „Nassi ha Dor“, der „Prinz seiner Generation“, er der „Moschiach“ sein müsse. Gleichwohl ergab sich Schneerson nicht offen dem Drängen seiner Anhänger, gab ihnen jedoch schließlich folgende Weisung auf den Weg: „I have to hand over the task to you: Do all you can to bring the righteous Moshiach, mamesh“.[5] Das war 1994.
Wie konnte es dazu kommen?

5.Messianismus und Inkarnation

Die Brisanz der Theologie von Chabad Lubawitsch verdankt sich der Synthese dreier zunächst unabhängiger Gedanken: Erstens der Vorstellung, dass die Zeit des Moshiach gekommen sei und zweitens der Annahme, dass ein bestimmter einzelner Mensch, ein Mann, versteht sich, darüber hinaus noch in irgendeinem Sinne selbst göttlicher Natur sei. Schließlich –auch dies wurde innerhalb der jüdischen Orthodoxie und auch innerhalb der Lubawitscher selbst intensiv diskutiert, ob es nämlich mit der rabbinischen Messiaslehre vereinbar ist, anzunehmen, dass auch ein gestorbener jüdischer Mann Moshiach sein kann – wobei viele Lubawitscher 1994 – nach dem Tod des Rebben – diesen Tod nicht eingestanden, sondern glaubten, dass er mit seinem Leben allenfalls eine andere Form angenommen habe. Zudem: tatsächlich finden sich Talmud Passagen – insbesondere Sanhedrin 98 b – wo die Möglichkeit eines toten Messias von einigen Rabbinen eingeräumt wird.

Auf jeden Fall: Am 17. Januar 1951 hielt der 1902 geborene Menachem Mendel Schneerson, nach Aufenthalten in Paris und Berlin, nach seiner Ankunft 1940 in den USA inzwischen offizieller Nachfolger seines verstorbenen Schwiegervaters, Rabbi Yosef Yitzhak Schneerson, genannt „Rayatz“, eine Art Antrittsvorlesung am ersten Todestag seines Vorgängers, in der es u.a. hieß:
„We are now very near the approaching footsteps of Messiah, indeed, we are at the conclusion of this period, and our spiritual task is to complete the process of drawing down the Shechina moreover, the essence of the Shechinah – within specifically our lowly world. May we be priviledged to see and meet with the Rebbe here in this world, in a physical body, in this earthly domain – and he will redeem us.”[6]

Ja, Sie haben richtig gehört: Im Jahre 1951, sechs Jahre nach der Shoah wünscht der neue Rebbe der Lubavitcher inständig, dass die Gruppe ihren verstorbenen Rebben, Menachem Mendel Schneersons Schwiegervater, auf der Erde, in einem physischen Leib wiedersehen möge – ein Ereignis, das dann die Erlösung einleiten würde. Ein – wenn sie so wollen – jüdischer Wunsch nach einem Emmauserlebnis.

Rabbi Yosef Yichak Schneerson, genannt der „Rayatz“, der sechste Lubwitscher Rebbe, also jener Rebbe, dem Menacem Mendel Schneersohn eine Art Auferstehung wünschte, erreichte New York auf einem schwedischen Schiff unter abenteuerlichen Umständen im März 1940. Die Forschung konnte inzwischen zeigen, dass Schneersons Flucht aus dem Europa der ersten Monate des Zweiten Weltkrieges auf Verhandlungen zwischen den damals noch nicht im Krieg befindlichen USA und dem Dritten Reich Hitlers zurückgingen. Es war pikanter Weise ein Offizier der Wehrmacht jüdischer Herkunft, Ferdinand Benjamin Bloch der Schneerson aus Polen heraus- und auf ein sicheres Schiff brachte.[7]

Der Rayatz selbst war selbstverständlich ein Anhänger des Zaddikismus, also der chassidischen Lehre von der besonderen Qualität der Seele eines Rebben. Das manifestierte sich u.a. in seiner Überzeugung, dass das Singen chassidischer Melodien die Anhänger mit den transzendenten Seiten der Seele ihres Rebben verbinden werde.[8] Der wohl bedeutendste moderne jüdische Historiker, Simon Dubnow skizzierte diese Lehre, die einer ganzen Lebensform zugrundelag in seiner erstmals 1931 erschienenen „Geschichte des Chassidismus“ in einer Schilderung des dritten Sabbatmahls, der „Sseuda Schlischith“, bei der die jeweiligen Rebben stets eine erbauliche Ansprache halten, so:
„Die Zuhörerschaft aber hängt an den Lippen des Zaddiks und findet in seinen Worten mehr als er selbst in sie hineingelegt hat, da ja seine Ausführungen zumeist recht dunkle und vieldeutige Improvisationen sind. Die von glühendem Glauben erfüllten Chassidim zweifeln jedoch nicht daran, dass es die in dieser Stunde auf dem Zaddik ruhende Schechina selbst sei, die zu ihnen aus einem Munde spreche; es überkommt sie das Gefühl, dass auch sie, ganz gewöhnliche Menschen, der göttlichen Heiligkeit teilhaftig geworden seien…“[9]

Diese Theologie des Zaddiks haben sich auch die Lubawitscher, nicht zuletzt Menachem Mendel Schneerson selbst zu eigen gemacht, der anlässlich seiner Ausrufung zum Nachfolger seines verstorbenen Schwiegervaters 1951 folgendes zu Protokoll gab:
„So wie Israel und die Tora und Gott im wörtlichen Sinne eins sind, und nicht nur indem sich Israel an die Tora bindet und die Tora an Gott, so ist es mit der Bindung der Chassidim an den Meister, wobei es sich nicht um zwei Dinge handelt, die vereint werden, sondern sie werden buchstäblich einer. Und der Meister ist nicht ein „dazwischen tretender Vermittler“, sondern vielmehr ein „verbindender Vermittler“, und deshalb sind für den Schüler Meister und Gott „einer“. Deshalb – so Schneerson schon 1951 – ist nicht nach einem Vermittler zu fragen, denn sein (Gottes) Sein und Wesen haben in ihm (dem Meister) Platz genommen.“[10]

6.Tanya und Shoah

Man versteht diese nur auf den ersten Blick auf charismatische Führerschaft bauende religiöse Praxis und ihre Theologie nicht, wenn man nicht deren theologisch-mystische Grundlegung in dem vom Gründer der Lubavitscher Bewegung, Rabbi Shneur Salman von Lijadi (1745-1812) genannt der „Alter Rebbe“ verfassten Buch „Tanya“ zur Kenntnis nimmt – mindestens aber dessen Seelenlehre, gemäß derer Teile der Seele des jüdischen Menschen göttlicher Natur sind – im Unterschied zu den Seelen der Völker der Welt, die allesamt von unreinen Schalen, Klippoth umfangen sind. Tatsächlich behauptet schon der erste Satz des zweiten Kapitels von „Tanya“:“Nefesch haschniah be Jissrael hi chelek elu ha mimaal mamasch..“ Die zweite Seele in Israel ist ein Teil von oben – wahrhaftig!“ Dies gilt nach dem Tanya grundsätzlich für alle Juden, in besonderer Weise jedoch für die Rebben, also die Zaddikim, die Gerechten und deren Seele. Verbindet sich nun diese traditionell mystisch - chassdische Lehre von der Göttlichkeit eines Teils der jüdischen Seele mit dem davon zunächst unabhängigen Glauben an das baldige Kommen des Moshiach, und zwar so, dass – jedenfalls bei den Lubawitschern - das Kommen des Moshiach immer schon die Form einer Naherwartung angenommen hatte, so sind die tragenden Komponenten der religiösen Weltanschauung der Lubawitscher genannt. Freilich ist diese Naherwartung, in der Geschichte der christlichen Religion wird von „Parousieerwartung“ gesprochen, nicht erst von Menachem Mendel Schneerson, sondern schon von seinem Vorgänger und Schwiegervater artikuliert worden: Schon im Dezember 1938 hatte der Rayatz, als Babbi Josef Yitzchak Schneerson in einem Vortrag noch in Polen verkündet: „Az Moshiach is shoyn korev er iz hintern vant“.[11] Das war einen Monat nach der nationalsozialistischen Pogromnacht und zwei Jahre vor Beginn jenes Massenmordens an den europäischen Juden, das wir als „Holocaust“ bezeichnen. Das hängt mit der Deutung zusammen, die Rabbi Josef Jizchak Schneersohn den Judenverfolgungen und Morden, deren Umfang er noch gar nicht voll überblicken konnte gab. So schrieb er 1941, dass sich jeder Jude des Umstandes bewusst sein sollte, dass das Volk Israel keineswegs sterbe. Nein: es ist so, dass die Welt Zwillinge gebiert: ein neues jüdisches Volk und ein neues Land Israel. Die Geburtswehen haben begonnen aber werden nicht lange dauern.“[12] Und so war es auch Yosef Yitzchak Schneersohn, der bereits im Mai 1941 das unmittelbare Eintreten der Erlösung beschwor. „Der gerechte Moshiach“ so der Rayatz im Mai 1941 „steht schon um die Ecke bereit, und die Zeit, sich auf sein Kommen vorzubereiten, ist sehr kurz.“[13]

Keine zehn Jahre nach dem Ende des Mordens und dem Ende des zweiten Weltkrieges wiederholte Menachem Mendel Schneerson, nun selbst Oberhaupt der Lubawitscher,genau diese Überzeugung: „wir befinden uns in der Generation des Moschiach und seine ehrenwerte Heiligkeit, mein Lehrer und Schwiegervater, Admor, sagte es mehrere Male dass dies nun die Zeit ist, dass er hinter der Wand steht, „bald mamasch ot, ot kumt bald moshiach“[14]

Wer übrigens die auf den Messias bezogenen Redeweise „Er steht hinter der Wand“ einfach nur für ungeschickt hält, irrt sich gründlich – tatsächlich handelt es sich um ein biblisches Zitat und zwar aus dem Hohelied Salomonis, das die Rabbinen seiner erotischen Drastik zum Trotz als Inbegriff der Liebe Gottes zu Israel in den Kanon aufgenommen haben. „Ah“ heißt es dort in Kapitel 2, Vers 9 „sieh, da steht er, da hinter unserer Mauer, er lugt durch die Fenster, er guckt durch die Luken“

Nun hat es in der jüdischen Geschichte stets ausreichend Messiasprätendenten gegeben: angefangen von Jesus von Nazareth über Simon Bar Kochba über den hochmittelalterlichen David Reubeni bis zu Sabbati Zvi. Was freilich den Moshiach aus Brooklyn,[15] von allen anderen Messiassen – mit Ausnahme des Jesus von Nazareth – unterscheidet, ist der Umstand, dass ein – wenn auch wahrscheinlich kleiner Teil seiner Anhängerschaft – der Überzeugung war und ist, dass sich Gott in ihm manifestiert.

7. Avoda Zarah?

Handelt es sich bei alledem, wie scharfsinnige Kritiker vor allem aus der modernen Orthodoxie meinen, um Götzendienst? Ist das eine strukturelle Art von Christentum? Läuft die in der Fluchtlinie der spätmittelalterlichen Kabbala liegende Spekulation von der Göttlichkeit der jüdischen Seelen tatsächlich auf eine Vergottung des jüdischen Volkes und – daraus abgeleitet – auf eine Vergottung des letzten Messias, Menachem Mendel Schneerson hinaus? Der entsprechende Wikipedia Eintrag zu „Chabad Messianism“[16] bezeichnet jene wenigen Anhänger Schneersohns, die davon überzeugt sind, dass er nicht nur der Moshiach, er nicht nur – trotz seines physischen Ablebens tot sei, sondern die auch von der Ununterschiedbarkeit seiner Person und Gott Gottes überzeugt sind, als „Elokisten.“

Als bedeutendste gelehrte Stimme in dieser Auseinandersetzung kann der neoorthodoxe, als Professor für mittelalterliche jüdische Geschichte am Brooklyn College in New York wirkende David Berger gelten, dessen 2001 erschienenes Buch „The Rebbe, the Messiah and the Scandal of Orthodox Indifference“[17] nicht nur ein weiteres Mal nachzeichnet, mit welch hohem strategischem Geschick die Sekte Einfluß in den Gemeinden auch in Nordamerika gewinnt, sondern auch den Nachweis führt, dass die Messiasvergottung der Lubawitscher den Prinzipien des rabbinischen Judentums gemäß „Awoda Zarah“, d.h. Götzendienst ist. Berger zeichnet nicht nur nach, dass die Messianisten unter den Lubawitschern tatsächlich – wie die ersten Christen – den geradezu antirabbinischen Gedanken eines toten, bzw. nach seinem physischen Tod „irgendwie“ weiterlebenden Messias bekennen, sondern dass sie auch in ihren Gottesdiensten der Verehrung von Schneerson eine besondere Rolle zukommen lassen – vor allem durch die regelmäßige Einschaltung einer neuen, zentralen Beracha, eines Segensspruches folgenden Wortlautes:
„Jechi adonenu morenu verabbenu melech hamoshiach leolam waed“, zu deutsch: Es lebe unser Herr unser Lehrer und unser Raw, der König Messias für immer.“

Da der Titel „Adonaj“ im jüdischen Gottesdienst bisher nur Gott selbst vorbehalten blieb, lässt sich auch hier eine Parallelle zum frühen Christentum aufweisen: bekanntlich beglaubigten Paulus und andere den nach ihrer Überzeugung gekreuzigten und auferweckten Jesus von Nazareth mit dem griechischen Ausdruck „Kyrios“, was wiederum nichts anderes bedeutet als „Herr“ – „Adon.“ Über diese zweideutigen, aber zentralen Glaubensbekenntnisse der Lubawitscher hinaus will David Berger noch weitere, freilich nun innerhalb der Lubawitscher Chassidim umstrittene Äusserungen gefunden haben. So etwa in einem 1996 erschienenen Erbauungsbuch, indem sich nach einer Wundererzählung über Schneerson eine erweiterte Beracha nach dem „Jechi“ findet: …adonenu, rabbenu we borenu, melech ha moshiach“, zu deutsch: „es lebe unser Herr, Lehrer und Schöpfer, der König Messias in alle Ewigkeit“. Die Belege, die Berger für diese Ansicht aus einer Fülle der Gruppe entstammender Schriften vorlegt, sind überzeugend. So kann Berger einen Beitrag von Aryeh Gotfried aus der Zeitschrift „Beis Moshiach“ aus dem Jahr 1996 zitieren, in dem der Autor unter dem Titel „The Rebbes Answer: A dream come true“ folgendes schrieb: „So who (is) Elokeinu? Who Avinu (Our father)? Who Malkeinu (our King)? Who Moshianu( our Redeemer)? Who Yoshianu V Yigaleinu Shaynis be kariv (will save and redeem uns once again shortly)? The Rebbe, Melech Ha Moshiach. That’s who.“[18]

Der Jerusalemer Religionswissenschaftler Goshen-Gottstein, der diese Thematik erstmals in einer deutschen Zeitschrift für das christlich-jüdische Gespräch entfaltet hat, wendet allerdings ein, dass allen vermeintlichen Parallellen zum Trotz das jüdische Inkarnationsverständnis gänzlich anders als das christliche sei, denn: „Nach jüdischer Auffassung ist Inkarnation nicht an ein einziges Wesen gebunden. Im Falle eines Zaddik bedeutet Inkarnation das Erreichen eines geistlichen Zieles. Mit dem Erreichen einer gewissen spirituellen Reife wohnt Gott in uns und befähigt uns, den spirituellen Meister als göttlich anzuerkennen. In diesem Sinne – so Goshen-Gottstein – ist Inkarnation eher eine Frage der Beziehung als eine Frage des Seins.“[19] Ich bezweifele, dass sich diese Differenz von Judentum und Christentum vor dem Hintergrund zumal der Geschichte der frühen Kirche und der Kirchenväter halten lässt: richtig ist zwar, dass die Väter die Einheit Gottes mit Jesus vor allem substanzontologisch dachten, zu übersehen ist aber auch nicht, dass zumal durch Abendmahl und Kommunion eine mystische Einheit zwischen Gott, dem als Christus bekannten Jesus und der Gemeinde hergestellt und beglaubigt wird. Und darauf, dass nicht erst die moderne, zeitgenössische christliche Theologie, sei sie katholischer oder protestantischer Provenienz an die Stelle substanzontologischer Denken relationstheoretische Kategorien gesetzt hat, muß auch nicht eigens verwiesen werden. Gleichwohl: Die Frage, ob der Menachem Mendel Schneerson tatsächlich erstens der Moshiach ist, er also den Beginn der Erlösung darstellt und sich zweitens Gott in ihm in besonderer, unüberholbarer Weise gezeigt hat, scheint in der Gruppe der Lubawitscher selbst derzeit noch umstritten zu sein.

8. Gegenwart

Einzuräumen ist bei alledem unbedingt, dass die offizielle Weltorganisation der Chabadnikim sowohl das Messiasbekenntnis zu Schneerson als auch alle Spekulationen über seine Göttlichkeit eingestellt zu haben scheint.[20] Heute – und das sei in aller Deutlichkeit gesagt – hat sich die Weltorganisation der Chabadnikim, deren offizielle Haltungen auf Chabad.org nachlesen lassen, von den meisten messianischen, vergöttlichenden Vorstellungen gelöst – auf ihrer Homepage bekennt sich Chabad Lubawitsch wieder zu den eindeutigen, von Maimonides aufgestellten Kriterien, wonach der Moshiach erstens ein glänzender Leser und Lehrer der Torah ist und ihre Weisungen strikt befolgt, er aber zweitens Jüdinnen und Juden anregt und beeinflusst, Tora zu lernen und zu halten und er drittens die Kämpfe Gottes führt – wer dies alles erfüllt, ist demnach ein Kandidat dafür, Moshiach zu sein – gelingt es diesem Manne dann noch, den dritten Tempel zu errichten und Israel aus der Verbannung heimzuholen, so ist er sicher der Moshiach. Insofern kann man heute sagen, dass die offizielle Chabad Weltorganisation zum halachisch-orthodoxen Mainstream zurückgekehrt ist, sich aber auch – typisches Merkmal weltanschaulich stark engagierter Gruppen – anhand dieser intern Fragen gespalten hat, so dass der messianische Aktivismus – wenn Sie das im Internet verfolgen wollen – heute beispielsweise von der in Großbritannien ansässigen Gruppe „Beis Moshiach“ vertreten wird, auf deren Homepage man folgendes lesen kann:
„Beis Moshiach Magazine is a magazin dedicated to spreading the Lubavitcher Rebbe H“Hm“ s message that the coming of the Moshiach and our ultimate redemption is imminent. The Rebbe “M”HM said said this a prophesy, stating openly that we are about to see the revelation of The King Moshiach, and the rebuilding of the Third Temple. One of the things every Jew can do to hasten the coming of the moshiach, is to learn about the subject of the redemption and the laws relating to the Third Temple.”

Indes: es handelt sich dabei nicht um eine Abspaltung nach außen, sondern um das, was man im politischen Bereich als Fraktionierung bezeichnen würde – Chabad. UK hat Beis Moshiach als eine seiner Teilgliederungen, ist offizielles Mitglied der Weltorganisation und weist auf seiner Homepage, sehr, sehr viel deutlicher als die Weltorganisation Mitteilungen, Meinungen und Statements zur „Moshiach“frage auf. Chabad U.K. jedenfalls gibt in einem langen Beitrag unter dem Titel „Moshiach Self-Identified“ als gesicherte Erkenntnis wieder, dass sich zwar Menachem Mendel Schneerson nie selbst als Moshiach offenbart habe, er aber stets behauptet habe, dass der Moshiach gegenwärtig zugegen, sein Name Menachem Mendel und seine Adresse 770 Parkway sei, dass die Zeit der Erlösung gekommen, der Moshiach ankündige, dass die Zeit der Erlösung da sei, der Rebbe von Chabad ein Abkömmling König Davids, er der geistige Führer seiner Generation und seins Aussagen im Judentum autoritativ seien, sowie: dass der Führer der Generation der Moshiach der Generation und ein Prophet sei, dass seine Prophetie die Ankündigung unmittelbarer Erlösung und die Aufforderung sei „behold this Moshiach“ coming – so dass wir – einfach das Konzept des Moshiach zu akzeptieren haben und die Erlösung unmittelbar folgen werde. Der Artikel endet mit der Frage: „Is this a disclosure by the Rebbe that he is the Moshiach?“[21] Tatsächlich – wer nur ein wenig von der Logik des Schließens versteht, kann zu keinem anderen Schluß kommen, als dass Schneerson sich – wenn auch verklausuliert – als Moshiach offenbart hat. Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass auf sämtlichen Webseiten von chabad.uk in Hebräisch oder Umschrift gut lesbar folgendes Bekenntnis – meist unter einem Bild Schneerson vermerkt ist: „Yechi Adonenu Morenu Rabenu Melch ha Moshiach le olam wa ed.“

9.Chanukka

Ich komme zum Schluß und zurück zum Anfang meiner Erzählung. Es war kein Zufall, dass die Schluchim der Lubawitscher 1987 ausgerechnet am Chanukka nach Ostberlin kamen. Chanukka ist in der jüdischen Tradition im Allgemeinen ein Fest minderen Ranges und hat seine Bedeutung als Kinderfest nicht umsonst erlangt. Ja, es ist noch nicht einmal in den biblischen Schriften, im Tenach erwähnt, sondern findet sich in den Makkabäerbüchern, die weder im Judentum noch im Protestantismus zum Kanon gehören – ursprünglich auf Griechisch verfasst, finden sie sich in der Septuaginta und in den von der katholischen Kirche verwendeten lateinischen Bibeltexten, in der Vulgata. Im assimilierten deutschen Judentum wurde das Fest gerne als „Weihnukka“ begangen und heute in den USA werden Chanukka und Santa Claus als populäre Feste beinahe zur Ununterscheidbarkeit begangen. Und dennoch ist es für die Chabadnikim wichtig, Chanukka öffentlich zu zelebrieren, die Chanukkia an zentralen Plätzen großer Städte, etwa am Brandenburger Tor aufzustellen und feierlich – am liebsten in Anwesenheit nichtjüdischer politischer Prominenz zu entzünden. Warum? In den offiziellen Verlautbarungen von chabad.org wird man die Antwort ebenso wenig finden wie etwa im neuen Berliner Chabad Klaneder für 2011/2012, der Bräuche und Geschichte unspektakulär schildert und allenfalls auf die besondere Schlacht der Juden gegen die Griechen verweist, die aus dem Judentum nur eine Kultur machen wollten und den Glauben unterdrücken. Es war der bekannte amerikanische Kabbalaforscher Elliot R. Wolfson, der in seinem neuen Buch „Open Secret. Postmessianic Messsianism and the Mystical Revision of Menahem Mendel Schneerson“[22] auf das raffinierte Spiel von Entbergung und Verbergung, von Esoterik und Esoterik in Schneersons Ansprachen hingewiesen hat – mit weitreichenden Folgen, die hier nicht mehr zu erörtern sind – und so dürfte es auch mit dem eigentlich naiven Chanukkafest in der Theologie von Chabad sein. Ich selbst habe vor etwa zehn Jahren zwei Schluchim aus London beim Anzünden der Kerzen gehört und einer der Redner konnte nicht genug hervorheben, dass Chanukka acht Tage gefeiert werde, einen Tag mehr als der göttliche Schöpfungszyklus zählt. Chanukka als Fest eines Wunders annociert damit einen Bruch mit der Alltäglichkeit und Alljährlichkeit des Judentums. In einem Beitrag unter dem Titel „We didnt no how the Rebbe would react“ in „Beis Moshiach“ berichtet Menachem Ziegelboim[23] über Erlebnisse zweier Anhänger des Rebben, die als Jungen von ihm aufgefordert wurden, einen neuen Chanukkaleuchter anstatt jenes in Auftrag zu geben, dessen Arme nicht mehr halbkreisförmig angeordnet sein sollten. Die umständlich erzählte Geschichte, die vor allem davon handelt, dass die Arme der Menora im Tempel zu Jerusalem halbkreisförmig angeordnet waren, kurz, dass eine neue Menora anzufertigen sei, was auch eilfertigst noch vor Ende Chanukkafestes geschah. Neben der Lehre, dass Weisungen des Rebben sofort zu befolgen seien, was sowohl für eine Menora als auch für die Werbung für den Moshiach gelte. Der Artikel endet mit einem Zitat aus dem Mund des Rebben: „Möge es Gottes Wille sein, dass durch das Sprechen über die Menora, wir es bald verdienen werden, die Menora des dritten Tempels zu sehen, and wie Aaaron, der Cohen sie entzündet.“ Nicht anders als das von strenggläubigen Protestanten eher verachtete Weihnachtsfest gewinnt das unauffällige Kinderfest so eine spirituelle, messianische Tiefe, die sich jedes Jahr beim öffentlichen Entzünden der Lichter, etwa am Brandenburger Tor, erneut manifestiert. Ein Blick in den Jüdischen Kaleneder 2010/2011 für das Jahr 5771 sichert den spekulativen Befund. Die dort abgebildete Chanukkia weist die acht Kerzen horizontal nebeneinander aufgereiht aus. Es geht hier um nicht mehr und nicht weniger als um einen Widerspruch zum archäologischen Befund, der auf der Innenseite des Titusbogens auf dem Forum Romanum unzweifelhaft die Menora aus dem Tempel halbkreisförmig abbildet. Wer anders als ein „Nassi ha dor“, ein Prinz seiner Generation sollte die Vollmacht haben, traditionelle Formen zu ändern? Das alles – so der Schluß von Ziegelboims Artikel – bedeute nichts anderes, als dass der Moshiach die Vollmacht haben werde, Fehler, die sich bei Bräuchen in der Galuth eingeschlichen hätten, zu korrigieren.



Anmerkungen

1 M. Friedman, Habad as Messianic Fundamentalism: From Local Particualrism to Universal Jewih Mission, in: M.E. Myrty/S.Appleby 8eds.) The Fundamentalism Project 4, Chicago 1994, S. 328 - 357

2 S.C. Heilman/M.M. Friedman, The Rebbe. The Life and afterlife of Menachem Mendel Schneerson, Princeton/Oxford 2010, S. S. 158

3 New York 2003

4 Moses Maimonides, Der Brief in den Jemen.Texte zum Messias, Berlin 2002

5 A.a.O. S. 231

6 S.C. Heilman/M. M. Friedman, The Rebbe. The Life and Afterlife of Menachem Mendel Schneerson, Princeton/Oxford 2010, Motto im Vorblatt

7 B.M.Rigg, Rabbi Schneersohn und Major Bloch. Eine unglaubliche Geschichte aus dem ersten Jahr des Krieges, München/Wien 2006

8 Likkutei Diburim, Volume III. An Anthology of Talks by Rabbi Yosef Yitchak Schneersohn of Lubavitch, Brooklyn 1990, S. 183

9 S. Dubnow, Geschichte des Chassidismus, Bd. 2, Königstein 1982, S. 280

10 A. Goshen-Gottstein, Das Judentum und die Inkarnationstheologie, in: Freiburger Rundbrief 4/2005, S. 248

11 E.R. Wolfson, Open Secret, Postmessianic Messianism and the Mystical Revision of Menahem Mendel Schneerson,Columbia 2009, S. 124

12 R. Elior, The Lubavitch Messianic Resurgence: The Historical and Mystical Background 1939 – 1996, in: P. Schäfer/M.R. Cohen (Eds.) Toward the Millenium: Messianic Expectations from the Bible to Waco, Leiden 1998, S. 385

13 A.a.O. S. 389

14 A.a.O. S. 125

15 A. Ehrlich, The Messiah of Brooklyn: Understanding Lubavitch Hasidism Past and Present, Jersey City 1994

16 http://en.wikipedia.org/wiki/Chabad _messianism

17 Oxford/Portland 2001

18 D. Berger, The Rebbe, The Messiah and the scandal of orthodox indifference, Oxford 2001

19 Goshen-Gottstein a.a.O. S. 249; vrgl. dazu auch die Diskussion in: T. Frymer-Kensky u.a. (Eds.) Christianity in Jewish Terms, Boulder 2000, mit Beiträge von E. R. Wolfson; R. Rashkover und S.A. Ross, a.a.O. S. 239 - 268

20 Vgl. A. Ravitzky, The Contemporary Lubavitch Hasidic Movement: Between Conservatism and Messianism, in: Marty/Aplleby a.a.O. S. 303 - 327

21 http://www.chabad-uk.com/page.asp?page ÍD = A9DE4F09-DO13-47CE-80CA-9859B7E2C3DB&moshhHdr=1

22 New York 2009

23 http://www.beismoshiach.org/Holidays/Chanuka 347/chanuka347.htm