Wer Menschenliebe übt, hat immer Recht

Ansprache von Bischof Prof. Dr. Martin Hein bei der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier anlässlich der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit im Ständehaus zu Kassel, 02. März 2013


Lukas 10,25-37
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
27 Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst".
28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog; und als er ihn sah, ging er vorüber.
32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn;
34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.
35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?
37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!


Alles könnte so einfach sein, liebe Schwester und Brüder. Gottes Gebote  aus freien Stücken beherzigen und dann aus ganzem Herzen tun: Da gibt es zwischen Jesus und jenem Schriftgelehrten, der ihn fragt, überhaupt keine Differenz. Sie sind sich in der Auslegung der Tora einig: Gottes- und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen (Deuteronomium 6,5 und Leviticus 19,18). Rechte Gottesliebe ist ohne Nächstenliebe unvorstellbar.  

Die Verbindung beider Gebote zum Doppelgebot der Liebe war keine Neuigkeit, die erst Jesus mit seiner Verkündigung des Willens Gottes gebracht hätte. Sie steht ganz und gar innerhalb der jüdischen Tradition, in der Jesus beheimatet war. Niemand sollte versuchen, hier einen Unter-schied zwischen Altem und Neuem Testament zu konstruieren! Es gibt ihn nicht. Deshalb ist es auch nur folgerichtig, dass das Gespräch einver-nehmlich endet: „Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.“ Man ist sich einig!

Aber manchmal ist das Einfache weniger einfach, als es scheint. „Wer ist denn mein Nächster?“ Kann ich da Abstufungen vornehmen? Muss ich nicht doch Unterschiede machen? Gilt das Gebot der Nächstenliebe wirk-lich uneingeschränkt allen Menschen?

Auf der Ebene der Theorie konnten sich beide verständigen. Doch jetzt wird es praktisch. Jetzt geht es zur Sache: Denn wer der oder die „Nächste“ ist, kann man nicht einfach theoretisch erklären, sondern das wird erst in der konkreten Begegnung zwischen Menschen erkennbar. Jeder oder jede kann auf einmal gefordert sein, anderen zu „Nächsten“ werden.

Nein, der „Nächste“ ist nicht der Überfallene am Wegesrand, sondern zum „Nächsten“ wird, wer sich von der Not anrühren lässt und sich erbarmt. Frömmigkeit allein, das zeigt uns die Geschichte, ist jedenfalls nicht vor Kaltherzigkeit und Achtlosigkeit gefeit! Im Gegenteil!

Erst der Dritte ist tatsächlich kein Passant mehr, geht nicht einfach vorbei, sondern bleibt stehen und hilft. Aber nicht nur das! Ausgerechnet er fällt vollkommen aus dem Rahmen, denn er ist Samariter, Angehöriger jener Volks- und Religionsgruppe, die als Ketzer oder Heiden galten. Gerade der wird zum Musterbeispiel dessen, was ein „Nächster“ ist.

Auch die Samariter suchten die Tora zu befolgen und kannten das Dop-pelgebot der Liebe. Aber dieser eine Samariter tat das, was sich ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – nahelegte. Das macht den Unterschied aus!

Die Provokation Jesu lag darin, dass ausgerechnet der Samariter bewusst oder unbewusst die Tora befolgte. Aber gerade deshalb lautet die Moral der Geschichte für uns heute: Angesichts der konkreten Notlagen schwindet das, was uns religiös trennt. Da ist nur noch eines gefragt: Nächstenliebe – oder besser: reine Menschlichkeit.

Erinnern wir uns noch einmal. Der Schriftgelehrte und Jesus hatten Ein-vernehmen erzielt: Im Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe ist der Kern des Glaubens zusammengefasst. In der Erzählung geht es des-halb nicht mehr um Religion und darum, wer etwa im Blick auf Gott recht hat und wer nicht. Das Beispiel, das Jesus entfaltet, überzeugt vielmehr in sich selbst – unabhängig vom Glauben, den jemand für sich beansprucht oder eben auch nicht beansprucht.

Angesichts konkreter Notlagen steht außer Frage, dass ein hilfsbedürftiger oder entrechteter Mensch unsere Zuwendung braucht; es ist evident, dass die Hilfeleistung moralische Pflicht eines jedes Menschen ist.  Wer sich dem entzieht, wird unmenschlich! Aber wer sich im Innersten anrühren lässt und hilft, der ist barmherzig – und damit wahrhaft menschlich.

Dass es Situationen gibt, in denen klar und eindeutig ist, was wir zu tun haben, ist für mich die grundlegende Einsicht unseres Bibelabschnitts. Sicher: Wir kennen komplizierte ethische Konfliktfälle, die eine ausführliche Diskussion und Abwägung unterschiedlicher Interessen und Argumente erfordern. Aber häufiger ist doch unmittelbar einleuchtend, was für ein Verhalten moralisch geboten ist: konkrete Menschlichkeit nämlich, die nicht lange fragt.  

Nächstenliebe gibt es jenseits aller Religion! Aber die Gottesliebe gibt es nicht ohne Nächstenliebe. Das gilt für Christen wie für Juden. Es lässt sich nicht leugnen: Wenn wir uns als Christen und Juden begegnen und aus unserem Glauben heraus reden, gibt es bei aller Nähe auch Unterschiede! Die Geschichte vom „barmherzigen Samariter“ ist für mich ein Impuls, den Ausgangspunkt nicht bei den großen theologischen Themen wählen, son-dern schlicht und einfach mit der Nächstenliebe anzufangen. Um das Tun des Guten geht es zu allererst!

Der Stein des Anstoßes in der Geschichte, die Jesus erzählt, ist auch für uns klar: Ausgerechnet ein Außenseiter, einer, der religiös und politisch anders ist, wird als nachahmenswertes Beispiel gewählt. Auf Nächstenliebe gibt es keinen Monopolanspruch. Wir alle können und sollen menschlich handeln. Und keine Religion, so sehr sie auch zu ihrer eigenen Tradition steht, darf jemals gegen die Liebe verstoßen, also gegen das, was uns Menschen nützt und hilft.

Da haben wir Christen im Lauf der Geschichte viel, viel Schuld auf uns geladen und uns am auserwählten Volk Gottes vergangen und versündigt. Um es auf Kassel zu beziehen: Hier lebte nicht nur Franz Rosenzweig, sondern auch Roland Freisler! Dabei wäre es für uns Christen so einfach gewesen. Wir hätten nichts anderes tun müssen, als jener Spur zu folgen, die Jesus gegangen ist: der Spur der Liebe.

Chauvinismus und Antisemitismus dürfen deshalb niemals mehr ihr Haupt erheben. Wir müssen ihnen, wo immer wir sie entdecken, mutig entgegentreten! Denn sie widersprechen von Grund auf dem Gebot der Lie-be zu Gott und den Menschen.

Wer Menschenliebe übt, hat immer Recht, liebe Schwestern und Brüder! Nicht anders kann ich Jesus verstehen, wenn er sagt: „So geh hin und tu desgleichen!“ Bedarf dazu gibt es in unserer Gesellschaft genug. Wir sind heute – Gott sei Dank! – gemeinsam als Juden und Christen gefragt, ihr ein menschliches Antlitz zu geben und jene besonders wahrzunehmen, die an den Rand gedrängt werden oder unter die Räder geraten sind.

Im Dienst der Humanität lernen wir uns verstehen und als Schwestern und Brüder achten. Das ist die beste Voraussetzung dafür, auch die großen theologischen Fragen in gegenseitigem Respekt immer wieder anzugehen. Der Weg der Versöhnung ist lang. Aber es lohnt sich, ihn zu gehen. Und vorher schon können wir mehr tun, als wir meinen: überzeugend menschlich sein! Es kann so einfach sein! Amen.