Laudatio von Sergey Lagodinsky
Laudatio von Sergey Lagodinsky anlässlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Navid Kermani am 13. März 2011 in Minden
Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin,
Minister, Mitglieder des Bundestages,
(Exzellenzen),
meine Damen und Herren,
lieber Herr Kermani,
als ich gebeten wurde, die heutige Laudatio zur Verleihung des wichtigsten Preises der deutsch-jüdischen Gegenwart zu halten, war ich verblüfft. Wer? Ich? Ein mit 18 Jahren nach Deutschland eingereister Zuwanderer, der sein Deutsch mühsam lernen musste und es wahrscheinlich nie fehlerfrei sprechen wird? Und nun soll ich eine Laudatio halten auf einen echten Siegerländer, einen erfolgreichen Schriftsteller, dessen Vorbilder Goethe und Hölderlin sind und der seit eh und je ein stolzer Fan des 1. FC Köln ist? Kurz: Ich, ein typischer Zuwanderer der 90er Jahre, habe nun die Ehre, eine Laudatio auf einen echten Deutschen zu halten.
Diese Preisverleihung findet in aufgeregten Zeiten statt. Abgedroschene Diskussionen werden zum zweiten, zum dritten , zum X-ten Mal wiederbelebt: Der neue Innenminister bezweifelt, der Islam gehöre zu Deutschland - ein Chor der Empörung widerspricht. Der türkische Ministerpräsident prangert den Assimilationsdruck an, der angeblich in Deutschland auf seinen „Landsleuten“ laste, die er gerne als seine Wähler sieht. Die gesamte Medien- und Parteienlandschaft stürzt sich auf Erdogan. Und ein jüdischer Publizist aus Köln setzt fort, was er schon seit vier Jahren macht: Er kämpft gegen den „real existierenden“ Islam und gegen die Politik der „passiven Toleranz“, die angeblich in Deutschland herrsche. Sie alle fragen sich, wie es denn mit dem Islam und den Moslems – realen oder imaginierten- in diesem Land, auf diesem Kontinent oder im Nahen Osten stehe. Fragen über Fragen!
Wie langweilig!.. Wie überholt!..
Es stimmt, dass es keine dummen Fragen gibt. Aber es gibt langweilige Fragen, Fragen, die von der Realität überholt oder von anderen längst beantwortet sind. Navid Kermani hat die Fragen der notorischen „Islamdebattierer“ längst beantwortet: mit seinen Büchern, mit seinen Essays, durch seine differenzierte Perspektive. Man muss nicht zu seinen gesellschaftspolitischen Analysen greifen, um diese Antworten zu finden. Sie sind an anderen Stellen in seinen Texten liebevoll versteckt, dort etwa, wo er seine Kindheit beschreibt. Hier lesen wir über besondere Erfahrungen eines Siegener Schuljungen, der seine „deutschstämmigen“ Klassenkameraden um ihre „ ordentlich geschmierten, wie mit Lineal abgeschnittenen Butterbrote“ beneidet. Wir erfahren, dass er die eigenen Eltern in Gegenwart seiner deutschsprachigen Freunde nicht anredet, damit es bloß nicht auf Deutsch auffällt, dass er mit seinen Eltern auf Persisch per „Sie“ ist. An anderen Stellen sind es kurze Einblicke auf ein symbiotisches Zusammentreffen verschiedener Erlebniswelten. Viele von ihnen mögen auf den ersten Blick überraschen, sind aber mit solcher Selbstverständlichkeit erwähnt, dass sie ganz alltäglich klingen: so beschreibt Kermani fast beiläufig, wie er häufig dabei war, als seine eigene Tochter während ihrer Grundschulzeit die Fürbitte in der Kirche las oder, dass er selbst in einer Kirche auch gelegentlich mal beten würde. Zeugnisse über einen Alltag, der von medial vermittelten Islamdebatten übersehen wird. Kermani gibt mit Leichtigkeit und fast beiläufig die Antworten auf die abgedroschenen Debatten. In manchem erkennt man sich wieder: Als Zuwanderer, oder als Deutscher. Vor allem wird einem Leser, der, wie Kermani in einer Familie der Zuwanderer aufwuchs, bewusst, wie deutsch unser SEIN geworden ist, und wie UNSER das Deutschsein wurde.
Vieles davon ist der Stoff, aus dem heutzutage die eine oder andere Reportage über die „Parallelgesellschaften“ gestrickt ist. Manch ein Publizist würde aus dem Brauch, die eigenen Eltern zu Siezen, ein Beispiel für „archaisch-patriarchalische“ Strukturen basteln; aus der Scham, dies auf Deutsch zu tun - eine traumatisierende Zerrissenheit des jungen Deutsch-Iraners und aus dem anklägerischen Artikel des Doppelstaatsbürgers Kermani an „seinen“ iranischen Präsidenten – einen Loyalitätskonflikt. Doch wer genau liest, versteht, warum Navid Kermanis Werke sich nicht dafür eignen, aus „mit Lineal geschnittenen Butterbroten“ ein Kulturkonflikt zu stricken.
In seinen Texten zeigt er uns nicht nur den Lebensalltag, sondern einen Weltenalltag. Und er zeigt uns diese Welten: jede von ihnen einzigartig, jede Welt ohne Parallele, ohne dabei eine Parallelwelt zu sein. Bei ihm existieren diese Welten gerade nicht nebeneinander, sie überschneiden sich auf mannigfaltige, mal auf tragische, mal auf erheiternde Art. Mehr noch: Diese Welten sind miteinander verwoben. Und noch wichtiger: Nicht nur zeigt uns Kermani diese Verwobenheit. Er webt gestalterisch mit. Vor allem in seinen wissenschaftlichen Texten bringt er Welten zusammen, deren Zusammengehörigkeit für das breite Publikum in Vergessenheit geraten ist und von vielen gar in Frage gestellt wird. In einem sehr persönlich geschriebenen Buch führt er etwa jüdische, christliche und islamische Theologie über das Leid gottesgläubiger Menschen zusammen. Unaufgeregt, fachmännisch, pragmatisch - so als wäre dies lediglich eine Randnotiz zu seinem eigentlichen Thema -- führt er uns die Verwandtschaft der Weltreligionen vor Augen. Und dann bringt er diese jahrtausendalte geballte Weisheit der Welten in seine Familie nach Isfahan zurück, wo seine geliebte Tante trotz ihrer Liebe zum G-tt in Schmerz und Leiden verstummt und sich von dieser Welt verabschiedet. Was sind schon die Zeitungsdebatten wert im Vergleich zu diesem aus Einsicht und Leben gestrickten gedanklichen Meisterwerk?
Ich kenne viele Menschen, die aus dem Iran kommen und Deutsch mit Akzent sprechen. Mir kommt dieser Akzent weich und geschmeidig vor. So würde man die Sprachmelodie der Menschen vorstellen, die genug Weisheit besitzen, um in sich zu ruhen und genug Selbstreflexion haben, um sich über die eigenen aThesen nicht zu echauffieren. Bei Kermani, dessen Muttersprache Deutsch ist, hat sich dieser persische Akzent verselbständigt, sich vom linguistischen gelöst und ist zur analytischen, zur intellektuellen Kategorie geworden. Nicht umsonst redet er von Zärtlichkeit, sogar dann, wenn man es am wenigsten erwartet – etwa von der Zärtlichkeit der Massen während der ägyptischen Revolution oder von der zärtlichen Erfahrung der öffentlichen Unterstützung, die er im Zuge der Kontroverse um die Verleihung des Hessischen Kulturpreises genießen durfte. Die unausgesprochene Zärtlichkeit spürt man in seinen Texten, wenn er über Menschen schreibt: Ob über seine Familie, über die jüdischen Opfer der Shoah, oder über den Pfarrer einer Kölner Gemeinde, der Geld für den Bau einer Moschee sammelte. Ist diese Weichheit und Ausgewogenheit, diese leise in sich ruhende Zärtlichkeit der Sprache womöglich das letzte Überbleibsel seiner Herkunft in seiner ansonsten so deutschen Denk- und Ausdrucksart? Und wenn ja, welche Herkunft soll es sein? Ich kenne auch einige Siegerländer. Auch ihre Aussprache, mit ihrem weichen, fast amerikanischen „r“ kommt mir viel geschmeidiger als Hochdeutsch vor.
Wie anders ist sie - diese Welt von Kermani im Vergleich zur ermüdenden Welt der ewigen Debatten über Islam oder das exklusive jüdisch-christliche Kulturerbe. Wie anders hört sie sich - wie anders fühlt sie sich an, als das, was man heutzutage auf den meisten Feuilletonseiten liest.
Wir sind am Ende der Integrationsdebatte angelangt und an diesem Debattenende steht Kermani. Er selbst lässt sich nicht mehr auf sinnlose Podien einladen. Er weigert sich zum Objekt der Islam- oder der Integrationsdebatte machen zu lassen. Er sei kein muslimischer Schriftseller, sagte er mal, er sei Moslem und er sei Schriftsteller zugleich. Nein, er lässt sich nicht auf die eingefahrenen Debatten ein, er versucht sie stattdessen umzudefinieren: Erweckt der Anfang seines Buches „Wer sind Wir?“ den Eindruck, dass es sich um eine „Wir“-Definition für deutsche Muslime handelt, so wird sehr schnell klar, wer unter „Wir“ zu verstehen sind – wir alle nämlich: Muslime, Juden, Christen, Agnostiker, Atheisten - alle, die unser heutiges Deutschland ausmachen. Es geht um unseren gemeinsamen „Wir“-Entwurf.
Zu diesem neuen „Wir“ gehört die unaufgeregte Selbstverständlichkeit der Pluralität, die Navid Kermani wissenschaftlich und publizistisch kultiviert. Was Pluralität im wissenschaftlichen Diskurs ist, ist im gelebten Alltag die Vielfalt. In einer Gesellschaft, wie unserer, die seit einigen Jahren von der Suche nach Normalitäten, ob im Umgang mit der Geschichte, mit Recht oder mit der Außenpolitik geradezu besessen ist, ist diese Normalität der Vielfalt die einzig wahre und die einzig nötige. Nicht mit Gesetzen, sondern mit Buchstaben gestaltet Kermani diese Normalität und definiert damit das Ungetüm der Multikulturalität zu einer neuen „Kulturalität“, ohne ein „Multi“- oder „Inter“- davor.
Doch auch für ihn bedeutet Differenzierung keine „Vereinfachung und schon gar nicht Verharmlosung“. Der neue kermanische Wir-Entwurf ist kein Allerwelts-Brei nach den Vorstellungen prinzipienloser Kulturrelativisten. Er steht zu seinen Werten, die ausdrücklich aufklärerisch sind, und zu seinem Glauben, dem Islam. Er zieht eine klare Linie zwischen der Akzeptanz gegenüber Anderen und Akzeptanz für sich selbst. Andere kann man respektieren, ohne sich zugleich ihre Werte oder Symbole zu Eigen zu machen. Navid Kermani propagiert gemeinsame Werte, aber er nimmt für sich in Anspruch, seine besonderen Zugänge zu anderen Religionen und religiösen Symbolen zu behalten und diese Zugänge selbstbewusst literarisch zu erklären. Er bleibt sich treu und bringt gerade dadurch das Selbstbewusstsein auf, sich selbst und seine Religion zu hinterfragen, ohne sich aufzugeben. Ihm sind die Herausforderungen klar, vor denen Muslime in der ganzen Welt und seine „anderen“ Landsleute (diesmal sind die Iraner gemeint) stehen. 2005 erklärte er, wie sehr er sich für den iranischen Präsidenten schäme, der zur Vernichtung Israels aufrief, Oppositionelle verhaftete und Bücher verbat. Und sein positives Islambild hat nach seiner Bekundung schon nach seinen ersten Kinderreisen in den Iran die ersten Risse bekommen. Kermani hat keine Illusionen über das Gewaltpotential von Religionen, von allen Religionen, er bedauert gleichzeitig, dass gerade der moderne Islam darunter leidet, dass die Öffnung der religiösen Hermeneutik nur bedingt vollzogen oder gar rückgängig gemacht wurde.
Gerade weil er die Schwächen auf beiden Seiten des berühmt berüchtigten Dialogs der Religionen und Kulturen kennt, hat Kermani in alle Richtungen einen differenzierten Blick. Wie erfrischend ist es für mich, als jemanden, der die Sarrazin-Thesen für eine Zumutung hält, und entschieden gegen Diskriminierung von Muslima und Muslimen in Deutschland eintritt, wie erfrischend und erleichternd ist es auch von der Seite der betroffenen Minderheit nuancierte Töne über den Ausmaß der Diskriminierung und über den Fortschritt unseres gemeinsamen Denkens zu hören: Gedankenarm sei es stets aufzulisten, wo Muslime auf der Welt benachteiligt werden, keineswegs seien Vergleiche mit Judenverfolgung im Dritten Reich gerechtfertigt.
2009 schrieb Navid Kermani, dass die Fortschritte der deutschen Politik in diesem Bereich ihn mit Stolz erfüllten, dass es ihn beruhigte, dass auch nach Terroranschlägen in Spanien und Großbritannien Europäer sich nicht in Muslime und Andere aufspalten ließen. Man fragt sich, ob diese Analyse auch heute noch – auch im Lichte der neu entflammten Debatten der letzten Monate -- trägt. Ich hoffe doch sehr! Denn, bei allen Herausforderungen, mit denen wir auf dem Wege zu unserem gemeinsamen „Wir“ konfrontiert sind, sieht unser Heute doch viel differenzierter, viel diverser und viel normaler aus, als unser Gestern aussah. Gemeinsam haben wir noch gravierende soziale und wirtschaftliche Probleme zu lösen, immer noch stehen die nötigen Bildungsreformen aus, die unsere gemeinsame Chancengleichheit verbessern könnten. Doch in zehn bis zwanzig Jahren werden wir alle in unserer neuen Normalität ankommen. Und wer weiß, vielleicht werden wir dann Navid Kermanis Sprache benutzen und diese christlich-jüdisch-muslimisch-säkulare Normalität als unsere kollektive „zärtliche Erfahrung“ beschreiben.