Wenn die Propheten einbrächen...
Begrüßung durch Hans-Josef Becker, Erzbischof von Paderborn, zur jüdisch-christlichen Gemeinschaftsfeier im Rahmen der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit am 12. März 2011 in Minden.
Liebe Gemeinde, im Glauben an den einen Gott, der Himmel und Erde erschaffen und uns als sein Ebenbild angesprochen hat, begrüße ich Sie alle als Schwestern und Brüder zu unserer Christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit.
Auch dieser Kirchenraum der Evangelisch-reformierten Petrikirche, in der wir heute zu Gast sein dürfen, kann nicht verleugnen, dass er eine seiner Wurzeln in der jüdischen Synagoge hat. Das gilt ebenso für jeden christlichen Kirchenraum. Denn in ihm hören wir zuerst auf Gottes Wort, das uns auch dazu anleitet, aufeinander zu hören. So ist – wie Papst Johannes Paul II. sagte, „die jüdische Religion für die Kirche nicht etwas Äußerliches, sondern sie gehört in gewisser Weise zum Inneren der christlichen Religion.“
Deshalb sind wir, Christen und Juden, darauf angewiesen, einander zu achten, hören wir doch beide auf das gleiche Wort Gottes, wenn auch in je eigener Weise. Denn Gott hat seinen Bund mit Israel nie gekündigt. Auch für Christen ist die jüdische Leseweise der Bibel anzuerkennen, wie ein päpstliches Dokument sagt. Christliche und jüdische Lesung der Hl. Schrift sind nicht einfach auf die je andere Lesart zurückzuführen. Doch gerade deshalb hören wir in dieser Feier gemeinsam auf Gottes Wort und lernen voneinander und füreinander.
Es geht vielen heute leicht von den Lippen, wenn sie, in unterschiedlichen Zusammenhängen – auch in politischen – von „christlich-jüdischer Tradition“ sprechen. Doch manchmal könnten wir im Blick auf unsere Umwelt und Gesellschaft mit dem Asarja des Buches Daniel klagen: „Ach, Herr, wir sind geringer geworden als alle Völker.“Denn selbstverständlich ist es heute nicht mehr, als Christ oder als Jude sein Leben zu gestalten. Doch genau deshalb ist es für uns wichtig, aufeinander zu hören, damit wir gemeinsam Zeugnis geben können für ein Leben miteinander und in einer Gesellschaft, die sich mit großer Geschwindigkeit verändert und Nachrichten konsumiert, so dass gegenwärtige Trends schnell alte Traditionen und Hörgewohnheiten vergessen machen.
„Aufeinander hören – miteinander leben“ – das Motto der Woche der Brüderlichkeit – scheint eine Selbstverständlichkeit zu formulieren, haben wir doch alle Ohren, die natürlicherweise jeden Laut auffangen. Ich erinnere mich jedoch, dass wir schon als Kinder in einem Spiel lernten, wie gehörte Botschaften im Weitersprechen und im Hören „unter die Räder“ kommen können. „Stille Post“ hieß das Spiel. Jeder flüsterte dem Anderen neben sich in langer Reihe einen Satz in das Ohr.– Wie erstaunt waren wir immer, als wir erfuhren, wie der Satz sich, als er am Ende der Reihe angekommen war, verändert hatte.
Deshalb wohl beginnt das jüdische Bekenntnis, das „Schma“, auch mit dem Satz: „Höre Israel“. Er befindet sich auch in dem kleinen Kästchen der Tefillin, die Juden zum Gebet um die Stirn legen.
Und Nelly Sachs dichtete:
„Wenn die Propheten einbrächen durch die Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten…
Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?“
In unsere Art zu hören, mischen sich sehr leicht eigene Interessen, die das Gehörte umformen, ins Gegenteil verkehren oder abwehren. Diese Erfahrung betrifft ja nicht nur das Gespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen oder das der Konfessionen untereinander, sondern auch das Miteinander in der eigenen Kirche, wie man häufig schmerzlich erfahren kann.
Oft genug sind aus unterschiedlichen Hörgewohnheiten Spaltungen und gegnerische Gemeinschaften geworden. Denn:„Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht. Gedeihen die Werke nicht, so verderben sie Sitten und Künste. Darum achte darauf, dass die Worte stimmen. Das ist das Wichtigste von allem.“, so sagte ein chinesischer Weisheitslehrer. Die richtigen Worte aber findet nur der, der zuvor gehört hat. Nicht nur für den Spracherwerb ist diese Erkenntnis wichtig, sondern auch für den Umgang und für das Leben miteinander.
Die Bibel beginnt die Erzählung von der Geschichte der Menschen mit der Erschaffung eines Menschenpaares. Sie will damit, keine naturwissenschaftliche Aussage machen. Vielmehr macht sie uns auf diese Weise darauf aufmerksam, dass wir alle Schwestern und Brüder sind. Selbstverständlich ist solche Botschaft zu keiner Zeit gewesen. Man muss nur die Zeitungen lesen und die Nachrichten hören, um zu erfahren, wie das Leben im Großen und im Kleinen von Kämpfen und Konflikten - ja, Feindschaften - durchzogen ist.
Aufeinander zu hören, damit man auch miteinander leben kann, bedeutet deshalb vor allem, bereit zu sein, die eigene Perspektive zu wechseln und sich in den Anderen hineinzuversetzen. Entsprechend übersetzt Leo Baeck das Gebot „Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst.“, so:„Du sollst ihn lieben, er ist wie du“(Lev 19).
Wir Christen haben lange und oft auch leidvoll lernen müssen, dass wir nicht immer richtig auf Gottes Wort gehört haben und deshalb auch nicht in der rechten Weise miteinander umgegangen sind – besonders mit dem jüdischen Volk.Bis zur Erklärung des II. Vaticanums über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Konfessionen („Nostra aetate“) und bis zu den Dokumenten der Evangelischen Kirche hat es eines langen Lernprozesses bedurft.
Die „Woche der Brüderlichkeit“, die wir seit über fünfzig Jahren begehen und diese jüdisch-christliche Gemeinschaftsfeier geben uns die Zuversicht, dass wir aufeinander hören können, weil wir gemeinsam auf Gottes Wort zu hören bereit sind und deshalb auch alltäglich miteinander leben können als Schwestern und Brüder.