"Leben ist weitaus mehr..."

Interview von Tina Mendelsohn mit Daniel Libeskind nach Erhalt der Buber-Rosenzweig-Medaille während der Eröffnungsfeier der Woche der Brüderlichkeit am 7. März 2010 in Augsburg.



Mendelsohn: Für Neid, Arroganz und Hybris steht in der Bibel der Turmbau von Babel. Man baute so hoch, man wollte eigentlich bis zu Gott bauen. Es gibt aber auch einen guten Architekten in der Bibel, der heißt Bezalel. Ich möchte jetzt Daniel Libeskind zu seinen persönlichen, künstlerischen, vielleicht auch politischen Maßstäbe befragen. Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihre Berliner Zeit zurückblicken? Sie lebten zehn Jahre in Deutschland und ihre Kinder wuchsen hier auf. In Ihrer Autobiographie "Breaking Ground" schrieben Sie, es sei eine Zeit der Herausforderungen, aber auch eine interessante Zeit gewesen.

Libeskind: Meine Einstellung zu Berlin hat sich in den zwölf Jahren, die ich in Berlin lebte, sehr verändert. Als ich zum ersten Mal nach Berlin kam, war ich zögerlich, zurückhaltend. Ich hatte sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was Berlin sein könnte. Aber als ich den Menschen begegnete, als ich eine Veränderung wahrnahm und selber in die Lage kam, zu kommunizieren, erkannte ich, dass sich die Geschichte nicht auf einen Ort reduzieren läßt. Wir können die Schrecken der Geschichte nicht ungeschehen machen, aber die Geschichte geht auch weiter. Und manchmal merkt man, dass etwas Gutes geschieht. Ich entdeckte, dass Berlin eine Stadt ist, die sich mit ihrer Geschichte neu erschafft, ein neues Bewusstsein entwickelt, dass Berlin eine wunderbare Stadt ist, eine Stadt, die Zukunft hat.

Mendelsohn: Ich sprach von Bezalel, dem guten Architekten. Frau Göring-Eckardt erwähnte in ihrer Laudatio, dass auch in der Architektur heutzutage eine gewisse Hybris, eine bestimmte Arroganz herrscht.

Libeskind: Ja, natürlich, es besteht immer die Gefahr, dass wir etwa nur die Höhe eines Gebäudes verehren. Aber es kommt nicht auf die Höhe eines Gebäudes an, sondern auf die Höhe der Inspiration. Die Frage ist nicht, wie groß ein Gebäude ist und wie teuer, sondern worin seine Bedeutung liegt. Es kann sich trotz seiner Größe um ein sehr bescheidenes Gebilde handeln, es kommt ganz auf seine Bedeutung an, der Sinn eines Gebäudes ist das Entscheidende. Insbesondere in einer homogenisierten Welt, die ökonomisch und technologisch zu einer Welt geworden ist, was bedeutet es da, einen Ort zu haben, eine Identität zu besitzen, der die Erinnerung eines Ortes zueigen ist, und damit in der Lage ist, Geschichten zu erzählen, mit den Menschen zu reden.

Mendelsohn: Würden Sie in diesem Zusammenhang sagen, dass wir Maßstäbe verloren haben? Denken Sie, dass es in der Architektur eine Zeit gab, in der es einzig und allein um Größe ging, dem Tanz um das goldene Kalb vergleichbar, von dem die Bibel spricht?

Libeskind: Ich denke, dass der Mensch immer in Gefahr ist, zu vergessen, dass es in der Welt nicht allein um oberflächliche, tote Materie geht. Leben ist weitaus mehr, als wir zu denken in der Lage sind. Ja, das ist eine permanente Gefahr, von der die Wissenschaftler ebenso bedroht sind wie die Architekten oder die Genetiker und andere. Aber ich glaube, entscheidend bleibt der menschliche Gesichtspunkt: Was ist die Aufgabe des Menschen auf dieser Welt? Wozu sind sie auf der Welt? Was ist der Sinn ihres Lebens? Sobald man über diese Fragen nachzudenken beginnt, so glaube ich, wird das Denken ausgewogener.

Mendelsohn: Es ist also das Menschliche, dass die Architektur ausdrücken muss?

Libeskind: Ich bin überzeugt, dass die Architektur etwas ist, das das Herz des Menschen ansprechen muss. Architektur ist keine Waschmaschine oder Klimaanlage, kein Auto, sie ist etwas, in das wir hineingeboren werden, zu dem wir bestimmt sind, denn sie gibt uns die Orientierung darüber, wo wir sind, wie die Welt aussieht. Die Art, wie unsere Fenster gebaut sind, wie der Horizont vor unserem Auge auftaucht, hat damit zu tun, wie wir die Welt gebaut haben. Ich glaube tatsächlich, der stärkste, archimedische Orientierungspunkt, den es gibt, ist der Ort, wo wir leben, die Stadt. Und eine demokratische, offene Stadt gibt uns ein Gefühl von Ausgeglichenheit, Balance, davon, wo wir sind und warum wir da sind.

Mendelsohn: Sie sagten einmal, dass Architektur für sie nicht nur ein Beruf ist, sondern auch eine Art des Denkens.

Libeskind: Ja, das ist es. Sie ist eine Leidenschaft, ein Bekenntnis, sie ist in letzter Konsequenz spirituell. Allein schon die Begriffe "Grund", "Horizont", eine "Tür", ein "Fenster", das sind Worte, die uns sehr nahe stehen, denn die Architektur, die Tatsache, dass wir uns orientieren können, ist möglicherweise die gewaltigste Geschichte, die wir zu erzählen gelernt haben seit der Entstehung der Welt.

Mendelsohn: Das führt mich zur nächsten Frage: Wenn Sie etwas bauen, ist es ein bißchen so, als ob man Gott wäre?

Libeskind: Nein, das pure Gegenteil! Immer wenn Architekten glauben, sie seien wie Gott, schaffen sie Alpträume.

Mendelsohn: Würden Sie sich als politischen Architekten bezeichnen? Ich denke etwa an "Ground Zero", ein eminent politisches Schlachtfeld.

Libeskind: Lassen Sie mich etwas sehr offensichtliches sagen. Das Wort "Politik" leitet sich aus dem Griechischen "Politeia" ab, das "Stadt" bedeutet. Politik ist nichts Schmutziges, etwas, vor dem Architekten zurückschrecken sollten, weil sie meinen, sie agierten in einem rein ästhetischen Raum. Es geht um die Stadt, um die Bürger. Die Bürger machen die Stadt aus. Also müssen Sie sich um das Verhältnis zu ihrem Nachbarn, um die Menschen kümmern. Die Menschen stehen im Mittelpunkt. Natürlich ist Ground Zero eine hochpolitische Angelegenheit, denn es liegt in der Mitte einer großen Demokratie, an einem Ort, wo Menschen miteinander leben und keine Angst haben, ihre Meinung zu sagen.

Mendelsohn: Aber zeigt Ground Zero nicht gerade wie schwierig es mit den Werten und Maßstäben ist, denn nach nun zehn Jahren ist dort noch nicht viel passiert? Ist das nicht frustrierend?

Libeskind: Nein. Demokratie ist nicht mit einem totalitären Entscheidungsprozess vergleichbar, wo einer etwas entscheidet und dann geschieht es. Demokratie ist nicht einfach. Die Demokratie ist anstrengend, ein Kampf, ein Marathonlauf. Sicher, inzwischen erlebe ich den vierten Gouverneur, viele Veränderungen, eine hochpolitische Angelegenheit, aber ich kann Ihnen nur sagen, ich bin nach wie vor von der Sache überzeugt. Das Gesamtkonzept, der Masterplan, ist in guten Händen. Natürlich, im Augenblick lässt die wirtschaftliche Lage es nicht zu, das wir die Gebäude so rasch bauen können, wie wir wollen, aber die Gedenkstätte wird bald eröffnet, der Freedom Tower, die Zufahrtsstraßen. Es wird nicht nur einen Eindruck von der Machbarkeit geben, sondern davon, was für eine Bedeutung dieses Ereignis für Amerika, für New York, für die Welt, für das Gleichgewicht von Erinnerung und ihrer Notwendigkeit hat. Dieses Ereignis hat unser Leben verändert. Dazu kommt, dass New York niemals nur irgendeine kleine Stadt sein wird, es geht um New York, um die Menschen, um Vielfalt.

Mendelsohn: Meine letzte Frage: Wo ist Ihre Heimat? Sie sind so oft umgezogen und die kontinuierliche Konstante auf welchem Flughafen auch immer Sie sind, wo immer Sie sich gerade aufhalten, ist Nina, Ihre Frau. Ist sie ihre Heimat?

Libeskind: Ja, natürlich! Das ist richtig. Heimat ist da, wo Liebe ist, wo Sinn ist. Heimat ist New York, ist Tel Aviv, ist Berlin, ist der Ort, den ich liebe, Heimat, das ist die Welt, denn ich glaube, das wir in einer Welt leben, in der wir einander viel näher sind, als wir denken.

Mendelsohn: Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch, Herr Libeskind.

(Aus dem Englischen übersetzt von Christoph Münz)