Verloren geglaubte Maßstäbe wieder fruchtbar machen

Rede des Bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer anlässlich der zentralen Eröffnungsfeier der Woche der Brüderlichkeit am 7. März 2010 in Augsburg


(Anrede)

Ich freue mich sehr, dass die Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit 2010 hier in Bayern und besonders in Augsburg stattfindet – einer Stadt, in deren Synagoge bereits 1945 wieder jüdische Gottesdienste gefeiert werden konnten und die mit ihrem Friedensfest Jahr für Jahr Signale für die konfessionelle und interkulturelle Verständigung in alle Welt aussendet. Auch die Woche der Brüderlichkeit hat Jahr für Jahr eine große Signalwirkung. Seit 1952 veranstalten die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit diese bundesweite Themen- und Aktionswoche.

Sehr geehrter Herr Präsident Dr. Brandt,

wenn man auf die Erfolgsgeschichte der Woche der Brüderlichkeit schaut, kann man zu recht sagen: Hier wurden Maßstäbe gesetzt:
• Maßstäbe für das Verständnis und Miteinander zwischen Juden und Christen;
• Maßstäbe für den sensiblen Umgang mit unserer jüngsten Geschichte und
• Maßstäbe für eine Erinnerungskultur, die nicht im Gestern verweilt, sondern ihren Blick auf das Heute und Morgen richtet.

Dafür möchte ich mich sehr herzlich bei Ihnen und allen aktiven Mitgliedern der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit bedanken. Sie haben mitgeholfen, dass nach den furchtbaren Schrecken des Nationalsozialismus jüdisches Leben in Bayern wieder neu erblühen konnte.

In Ihrem Jahresthema geht es auch um „Maßstäbe“. Angesichts von Finanzkrise, von erschütternden Gewalttaten, aber auch angesichts so mancher überspitzer Satiredarstellungen, die an der Grenze des Erträglichen sind, fragt man sich: Wo ist das rechte Maß geblieben? Hat unsere Gesellschaft ihre Maßstäbe verloren? Ihre Werte?

Ich denke, verloren sind sie nicht. Aber zum Teil verschüttet, verdeckt, unkenntlich und unsichtbar. Die Maßstäbe, die eine Gesellschaft für ein gedeihliches Zusammenleben braucht, die Werte wieder sichtbar zu machen, dieses Ziel kann nur mit gemeinschaftlicher Kraftanstrengung erreicht werden. Möglichst viele gesellschaftliche Gruppierungen müssen dazu an einem Strang ziehen.

Am vergangenen Montag haben wir das „Wertebündnis Bayern. Gemeinsam stark für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene“ aus der Taufe gehoben. Rund 60 Organisationen haben sich diesem Bündnis angeschlossen, um zentrale Werte in unserer Gesellschaft zu stärken und jungen Menschen die notwendigen Handlungsspielräume zu eröffnen, dass sie diese Werte erleben und leben können. Ich freue mich sehr, dass die christlichen Kirchen wie auch der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern mit großem Engagement mitmachen.

Dieses breit angelegte Bündnis aus allen Bereichen unserer Gesellschaft zeigt, wie groß der Wunsch und auch das Bemühen ist, verloren geglaubte Maßstäbe wieder sichtbar und für den Zusammenhalt in der Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Der Blick auf die Geschichte hat gezeigt, dass es oftmals die Brüche sind, die – in einer aktiven Auseinandersetzung mit eben diesen Brüchen - einer Gesellschaft das rechte Maß zurückgeben können. Die Woche der Brüderlichkeit wird mit ihrem vielfältigen und abwechslungsreichen Programm solche Brüche in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart aufzeigen und damit Denk- und Dialogprozesse anstoßen, die heilsam und zukunftsweisend sind.

Ich wünsche der Woche der Brüderlichkeit gutes Gelingen.

Es gilt das gesprochene Wort!