Um des Menschen – und um Gottes Willen
Festrede von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Zentralen Eröffnungsfeier der Woche der Brüderlichkeit am 6. März 2016 in Hannover
Wenn wir uns heute anlässlich der Eröffnung der „Woche der Brüderlichkeit“ hier begegnen, begegnet uns auch eine überkommene Begrifflichkeit, eine seit Jahrzehnten bewährte Tradition. Für die öffentliche Wahrnehmung kann das unter Umständen ein Problem darstellen.
Aber wenn wir uns nur einen Moment vor Augen führen, mit welchen Bildern wir jüngst konfrontiert wurden und welche Nachrichten uns in den vergangenen Wochen und Monaten berührt haben, dann bekommt das Wort von der „Brüderlichkeit“ einen aktuellen, einen dringlicheren und zugleich einen verheißungsvolleren Klang als in vielen Jahren zuvor. Wonach könnte man sich mehr sehnen?
Wir erleben doch in diesen Tagen eine zutiefst zerstrittene Welt, eine Welt, in der Not und Krieg Menschen zu Hunderttausenden, ja Millionen in die Flucht treibt. Wir erleben eine Welt, in der Hass immer neue Gewalt gebiert, in der Gewalt immer neue Vergeltung provoziert.
Und was uns sicher schien, die Einigung Europas etwa, droht vor unseren Augen wieder Risse zu bekommen. Unendlich weit entfernt scheinen Schillers Worte zu sein, die uns zu Beethovens Europa-Hymne natürlich in den Sinn kommen: „Alle Menschen werden Brüder…“
Gehört es nicht zu den deprimierendsten Erfahrungen der Gegenwart, dass in unseren Tagen ungeheuerliche Schreckenstaten verübt werden? Vorgeblich im Namen Gottes werden Menschen vergewaltigt und gekreuzigt, verbrannt und enthauptet, erschossen und in die Luft gesprengt. Uralte Zeugnisse menschlicher Kultur, religiösen Glaubens werden von fanatisierten islamistischen Gotteskriegern vernichtet.
„Um Gottes Willen!“ möchte man da immer wieder erschüttert rufen – und dann fällt uns die tiefe Doppeldeutigkeit dieses Ausrufs auf, der in diesem Jahr so passend zum Motto der Woche der Brüderlichkeit gewählt wurde.
„Um Gottes Willen!“ sagen wir ja im Deutschen, wenn wir zum Beispiel von etwas Schlimmem überrascht werden, einem Unglück oder einer Untat, oder wenn wir uns etwas vorstellen, das besser nicht passieren sollte. „Um Gottes Willen!“ kann und soll man aber auch etwas tun oder propagieren – eben weil man glaubt, es sei ganz im Sinne und ganz nach dem Willen Gottes.
Mord und Totschlag im Namen Gottes – wir können im christlichen Europa nicht so tun, als kennten wir das nicht. Die ungeheuren Verwüstungen, die im Gefolge der Reformation der Dreißigjährige Krieg über unseren Kontinent, speziell über Deutschland gebracht hat, sind nur ein Beispiel. Und dass auch getaufte Christen bei der Vernichtung der Juden Europas beteiligt waren, ist leider unbestreitbar.
Umso wichtiger sind die Lehren, die wir daraus gezogen haben. Die ökumenische Bewegung hat die Christen der einander entfremdeten oder sogar verfeindeten Konfessionen die Wahrheit entdecken lassen, dass sie Brüder und Schwestern sind. Und die späte Erkenntnis, dass auch Christen und Juden einander wie Geschwister begegnen können, hat so unendlich viel Gutes entstehen lassen. Sie hat zu Verständnis und Aussöhnung beigetragen.
In beiden Fällen mussten in so unterschiedlicher Weise betroffene Menschen einen langen Weg gehen. Und in beiden Fällen mussten sie Hindernisse überwinden. Für die Nachgeborenen ist es heute schwer nachvollziehbar, wieviel Selbstüberwindung oftmals eine ausgestreckte Hand erforderte! Ich bin dankbar, dass Deutschland in den Nachkriegsjahrzehnten nicht nur von einem Wirtschaftswunder geprägt war, sondern auch von einem Wunder schrittweiser Versöhnung. Großmütige Versöhnung gewährende und schuldbewusste, oder verantwortungsbewusste Menschen begegneten einander. Eigentlich unglaublich, dass nach Exzessen von Hass, Grausamkeit und Vernichtung so früh ein solcher Prozess beginnen konnte und ein neues Miteinander möglich wurde! Unglaublich – aber ganz wirklich und wahrhaftig!
Gerade in diesen Wochen sollten wir daran denken, was wir gelernt haben, hier im sogenannten christlichen Abendland. Und man kann das christliche Abendland heute weder verstehen, noch schützen, noch verteidigen, wenn man diese Lektion vergisst. Wer glaubt, das christliche Abendland mit der Herabsetzung Anderer, mit Ausgrenzung Andersgläubiger, mit Hassparolen und Säuberungsphantasien verteidigen zu sollen, hat es schon verraten.
Klares Profil und entschiedenes Bekenntnis zur eigenen Tradition, zur eigenen Kultur, zur eigenen Religion sind vollkommen in Ordnung. Aber die wachsende Unbarmherzigkeit gerade auch von selbsternannten Verteidigern des „christlichen Abendlandes“, die sich längst nicht mehr nur verbal äußert, die ist nicht akzeptabel.
Menschen, die in der Tradition der „Woche der Brüderlichkeit“ stehen, Menschen, die wissen, wie aus Hass Mord werden kann, Menschen, die die Wahrheit suchen und den Anderen als Partner, Bruder, Schwester sehen, werden sich von derartigen Haltungen nicht anstecken lassen. Ihre Wahrheitssuche wird begleitet sein von Demut und Toleranz. Und noch so drückende Sorgen und Probleme werden solche Menschen, werden unsnicht dazu bewegen, unseren Werten den Rücken zu kehren.
Zu unseren Werten gehört auch die Religionsfreiheit, die der säkulare Staat gewährt. Das ist eine der großen zivilen Errungenschaften der Geschichte. Sie gehört damit zu den nicht verhandelbaren Grundlagen unseres Zusammenlebens.
Freiheit der Religion bedeutet selbstverständlich keine Freiheit zur Werbung für Gewalt und Terror, keine Freiheit zur Unterdrückung von Frauen, keine Freiheit zu Intoleranz und Verachtung des Anderen. Freiheit ist nicht denkbar ohne gegenseitigen Respekt.
Der Geltungsanspruch des staatlichen Rechts kann gelegentlich mit dem Wahrheitsanspruch einer Religion kollidieren. Eine Lösung kann man abstrakt philosophisch dafür nicht finden. Das Abendland hat aber die entscheidende historische Erfahrung gemacht: Um eines menschlichen und friedlichen Zusammenlebens willen darf und soll sich religiöser Wahrheitsanspruch nur innerhalb der auf freie und demokratische Weise zustande gekommenen Gesetze artikulieren.
Gesetzestreue ist Pflicht für alle, der Staat darf sie erwarten und einfordern. Brüderlichkeit, Geschwisterlichkeit aber, die darüber hinausgeht, kann von niemandem und für niemanden zur Pflicht gemacht werden. Brüderlichkeit kann der Staat nicht verordnen, genauso wenig wie Nächstenliebe. Umso schöner, wenn sie gelebt wird. Umso wichtiger, wenn sie so gelebt wird, dass sie ausstrahlt, dass sie attraktiv wirkt, dass sie andere ansteckt. Und wie wichtig, wenn und dass Religion diese fordert und fördert!
Im Verhältnis zwischen Christen und Juden ist im Laufe der Jahrzehnte, in denen die Woche der Brüderlichkeit gelebt wird, sehr viel Gutes geschehen. Und vieles hat ausgestrahlt auf die ganze Gesellschaft. Dazu beigetragen haben auch die Persönlichkeiten, deren Wirken durch die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille als besonders beispielhaft gewürdigt wurde.
Dass im Jahre 2011 ein Muslim, Navid Kermani, diese Auszeichnung erhalten hat, zeigt, dass sich der Bogen der Brüderlichkeit über das christlich-jüdische Verhältnis hinaus zu spannen beginnt. Als Bundespräsident, dem an der Integration, am friedlichen Zusammenleben in unserer Gesellschaft so viel gelegen ist, kann ich das nur begrüßen. Und auch den diesjährigen Preisträger, Micha Brumlik, den leidenschaftlichen Pädagogen, den unermüdlichen Aufklärer und Kämpfer gegen Vorurteile und Antisemitismus, grüße ich sehr herzlich. Sein Lob wird aber gleich Frau Käßmann anstimmen.
Brüderlichkeit ist vielleicht ein sehr hehrer, ein sehr hoher und sehr anspruchsvoller Begriff. Er beschreibt eine menschliche Haltung, die verloren gehen kann, die nie selbstverständlich, aber dem Menschen immer möglich ist. In ihr lebt eine menschenfreundliche Hoffnung, die zum Handeln treibt und zum Handeln ermutigt. Um des Menschen – und um Gottes Willen.
(Es gilt das gesprochene Wort)