Franz Rosenzweig und der Zionismus
Preisträgervortrag von Prof. Dr. Micha Brumlik, Haus der Region, Hannover
I.
2018, in zwei Jahren, wird der Staat Israel mit seiner Hauptstadt Jerusalem siebzig Jahre alt werden. Heute, mehr als hundert Jahre nach ihrem ersten Auftreten befinden sich Idee und Staat der jüdischen Nationalbewegung nicht nur in der Krise - im Moment zeichnet sich nicht weniger als die Selbstzerstörung des zionistischen Vorhabens ab. Dieser Selbstzerstörungsprozess ist in widersprüchlichen Tendenzen des modernen Judentums angelegt, die zu lösen die zionistische Bewegung mit ihrem Nationalgedanken vor mehr als hundert Jahren angetreten war.(1) Sie trat damit in Konkurrenz zu anderen von Juden betriebenen Entwürfen zur Behebung der je unterschiedlich ausgeprägten Judennot: dem westeuropäischen Assimilationsjudentum, welches das Judentum konsequent konfessionalisieren wollte, unterschiedlichen Spielarten des Sozialismus, die darauf setzten, mit der Lösung der sozialen Frage zugleich jede Form der Judenfeindschaft zum verschwinden zu bringen sowie Varianten eines ethnisch verstandenen Kulturjudentums, das sich hier – im Rußland des späten Zarismus als ethno-kultureller Sozialismus verstand – die jiddisch sprechende Gewerkschaftsbewegung, der „Bund“ – und dort als hebräischsprachiger, aber nicht staatenbildender Kulturzionismus auftrat. Tatsächlich gingen diese idealtypisch verschiedenen Motive in der Realität beinahe beliebige Kombinationen ein, die auszuführen hier der Platz fehlt. Von ihnen unterschied sich der Zionismus sowohl durch seinen Territorial- als auch durch seinen Staatsgedanken,wobei es keineswegs immer klar war, daß als einziges Territorium für einen Judenstaat nur Regionen des historischen Landes Israel in Frage kämen. Grob gesprochen faßte der moderne staatsbildende Zionismus die Juden als Nation.
Der Gedanke der Nation aber entstand im heutigen Sinne des Wortes nicht vor der Französischen Revolution, wo der Begriff zunächst das im Geiste einer auf Demokratie und Menschenrechten beruhenden Verfassung geeinte Bürgertum bezeichnete. Diese Form der Nation lässt sich als ein auf gleichen Rechten aller Citoyens beruhendes Zukunftsbündnis ansehen, dem es um die Verwirklichung der gemeinsamen Freiheit aller Bürger geht. Dieses Verständnis von Nation als Staatsvolk hat Jean Jacques Rousseau in seinem 1762 verfassten „Contrat social“ vorgelegt. Im Gegenzug und in Konkurrenz dazu entstand vor allem in Deutschland, in Reaktion auf die napoleonische Besatzung, ein Begriff der Nation, der nicht die gemeinsame Zukunft der einander anerkennenden Bürger, sondern die gemeinsame Herkunft der in Sprache und Tradition verhafteten Volksgenossen zum Inhalt hatte. Hierfür lassen sich systematisch die von Johann Gottlieb Fichte die 1808 verfassten „Reden an die Deutsche Nation“ nennen.
Der damit bezeichnete Unterschied zwischen einem aufklärerischen Begriff der Nation im französischen und einem romantischen Begriff der Nation im deutschen Sinne sollte auch die zionistische Bewegung in ihren vielfältigen Schattierungen prägen. Freilich: jenseits der Ausfaltung in einen Begriff der Nation als eines im Staat geeinten Herkunftsvolkes im Geiste Fichtes bzw. einer die Rechte und Freiheiten der Individuen wahrenden und verwirklichenden Rechtsgemeinschaft im Geiste Rousseaus stand die Idee der modernen jüdischen Nation von allem Anfang an unter dem Druck des Antisemitismus, d.h. unter dem kollektiven Interesse, vor aller kulturellen Verwirklichung oder allen liberalen Garantien Leib und Leben verfolgter Juden zu schützen sowie ihre verletzte Selbstachtung wieder aufzurichten. Ben Gurion bezeichnete diese – nicht zuletzt von Theodor Herzl propagierte Variante – als „Philanthropie“.
Als Reaktion auf die Judenfeindschaft entstanden - voneinander zunächst unabhängig - zuerst in Russland, dann nach der französischen Dreyfusaffäre durch den Wiener Journalisten Theodor Herzl auch in England, Deutschland und Österreich zunächst kleine jüdische Nationalbewegungen, die die Judenfeindschaft als mittelfristig nicht behebbare, gesellschaftliche, sogar biologische Tatsache ansahen und daher den Exodus der bedrohten Juden in ein ungefährdetes, selbstregiertes Territorium am Rande der Einflusszonen der damaligen Grossmächte erwogen, also in eine nationale Heimstätte im sÜdlichen Lateinamerika, in Ostafrika oder im osmanischen Reich, zumal im Sinai oder dem Land Israel, in Palästina.
Diese wesentlich philanthropische Grundidee wurde von zwei anderen geistigen Strömungen Überlagert: von dem genannten romantischen Nationalismus herdersch-fichtescher Prägung, der als Remedur wider unterschiedliche Formen der Entfremdung von Juden in der modernen Welt ein in Sprache, Geschichte und kollektiven Institutionen geeintes jüdisches Volk sah; und einem lebensreformerischen Sozialismus tolstoianischer und - paradox genug - nietzscheanischer Art, der in der Hinwendung zu Körper und Erde, zu Gemeinschaft und Stärke die Wende zu einem neuen Leben sah. Alle drei Elemente des modernen Zionismus: philanthropischer Territorialgedanke, romantisch verstandener Nationalstaat und lebensreformerischer Sozialismus entstanden völlig unabhängig von den Überlieferungen des konfessionalisierten oder auch kommunal gelebten Glaubens, ja ausdrücklich gegen sie.
Die ersten Einwanderergruppen nach Palästina vor und nach dem Ersten Weltkrieg stellten entsprechend die Erlösung des durch die Diasporaexistenz deformierten jüdischen Körpers im Medium einer die verkarstete Erde Palästina erlösenden landwirtschaftlichen Arbeit in den Mittelpunkt. Freilich verband sich dieser lebensreformerische Sozialismus nicht nur mit dem romantischen Nationalismus, sondern auch mit einem bürgerlichen Machtstaatsdenken, das die Rettung des in Europa bedrohten jüdischen Volkes alleine durch den Aufbau einer jüdischen Armee, die militärische Eroberung des künftigen Territoriums beiderseits des Jordans und die Masseneinwanderung in Städte und nicht-sozialistische Siedlungen gewährleistet sah.
Erst die 1903 anstehende, die zionistische Bewegung spaltende Entscheidung darüber, ob man als rettendes Territorium anstelle Palästinas im osmanischen Reich das damals dem britischen Empire zugehörige Uganda akzeptieren sollte, rührte an die traditionellen Bindungen auch des modernen Judentums. Zumal ostjüdische Zionisten bedeuteten unmissverständlich und dramatisch, dass eine Wahl etwa der britischen Kolonie Uganda als Territorium eines künftigen jüdischen Gemeinwesen auf die wanderungsbereiten jüdischen Massen Osteuropas abschreckend wirken und damit den ohnehin stärkeren Zustrom nach Nordamerika bzw. die antizionistische, nationaljüdische Arbeiterbewegung „Bund“ nur verstärken würde. Erst die Ugandakrise hat freigelegt, dass ein Zionismus, der sich seiner religiösen Wurzeln gänzlich beraubte, keinen Widerhall finden konnte. Diese Debatte lenkte den Fluss der säkularen Erlösungsreligionen von romantischem Nationalismus und lebensreformerischem Sozialismus in das Bett jüdischen Traditionsbewussteins und gab ihm damit seine Richtung ins Land Israel, die osmanische Provinz Palästina.
Indem der erste Oberrabbiner der askenischen Juden im britisch verwalteten Völkerbundesmandat Palästina, Raw Kuk, auf der Basis mystischer Spekukationen die landwirtschaftliche Arbeit auch atheistischer Sozialisten zum „Erlösungswerk“ erklärte, gelang ihm jene nationalreligiöse Synthese, die den jüdischen Staat aufgrund seines Territoriums für gottgewollt erklärte und wie selbstverständlich davon ausging, daß die dort lebende jüdische Bevölkerung sich früher oder später, einer wenn auch modifizierten Verfassung im Geist der Torah anzuschließen hätte.
Es war schließlich der Junikrieg des Jahres 1967 und die mit ihm verbundene Eroberung der Sinaiwüste, der Golanhöhen, Ostjerusalems und der Klagemauer sowie des Westjordanlandes, die die drohende Selbstzerstörung des zionistischen Vorhabens einleitete. Der auf Vertreibungs- und nicht auf Vernichtungsantisemitismus hin angelegte jüdische Staat eingerichtet, ein Staat, der die Schoa auch dann nicht hätte verhindern können, wenn er vor 1933 gegründet worden wäre(2), sah sich ein weiteres Mal einer Vernichtungsdrohung ausgesetzt, gewann aber mit seinem fulminantem Sieg jene Territorien zurück, um die es dem religiösen Judentum immer gegangen war. Seither stellt Jerusalem – politisch gesehen – nicht die Lösung, sondern das Problem in seiner intensivsten Form dar.
Franz Rosenzweig gilt gemeinhin als Gegner des Zionismus – freilich: ganz so einfach sind die Dinge nicht, wie im Folgenden zu zeigen ist.
II.
Am 19.4. 1927 schrieb der kaum noch bewegungsfähige, auf das schwerste an unheilbarem Muskelschwund erkrankte Franz Rosenzweig seinem 1909 zum Protestantismus übergetretenen Cousin Hans Ehrenberg einen seiner letzen Briefe. Ehrenberg gehörte, bevor er nach einer Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen 1939 nach Großbritannien emigrierte, der bekennenden Kirche an und war spätesten seit 1918 als überzeugter Sozialist Mitglied der SPD. Rosenzweig, der Bekehrungsversuchen seiner Freunde zum Trotz 1913 beschlossen hatte, Jude zu bleiben und lange Zeit einem zwar nationaljüdischen, aber gewiß nicht zionistischen Selbstverständnis anhing, versuchte Ehrenberg den Sinn des Zionismus im Geist des religiösen Sozialismus zu erklären:
„Du kannst dir den Zionismus verdeutlichen an der Bedeutung des Sozialismus für die Kirche. So wie die Sozialdemokratie, auch wenn nicht „religiössozialistisch“, ja sogar wenn „atheistisch“ für die Verwirklichung des Gottesreichs durch die Kirche wichtiger ist als die Kirchlichen, sogar die wenigen Wirklichkirchlichen, und erst recht wichtiger als die ungeheuere Masse der Halb- oder Ganzindifferenten, so der Zionismus für die Synagoge.“(3)
Rosenzweigs 1927 gegenüber Ehrenberg abgegebenes Bekenntnis fielen nicht vom Himmel, sondern waren das Ergebnis von Erfahrungen und Überlegungen, die der zunächst so zionismuskritische Rosenzweig in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg machen musste. Rosenzweig wurde der Zionismus und vor allem die geistige Auseinandersetzung zwischen einem jungen, charismatischen Rabbiner wie dem in Frankfurt am Main wirkenden Anton Nehemia Nobel und dem verehrten Vorbild Hermann Cohen, der aus kantianischer Überzeugung heraus gegen den Zionismus war, zu einem sein ganzes weiteres Leben prägenden Anreiz.(4) In einem Brief an Eugen Rosenstock versucht er sich an einer systematischen Fassung des Problems:
„Ich halte ja unseren alten Gegensatz hie 1789 hie 1914 als Anfang der dritten Zeit für einen rein taktischen – und finde immer wieder, für die Ruhe und Überzeugungskraft der Darstellung bewährt sich das Rückgreifen auf 1789, einfach weil dann zur Illustrierung 130 Jahre zur Verfügung stehen und man nicht immer auf die Zeiungsnachrichten von gestern früh angewiesen ist (oder gar von heut früh?). Z.B. der Judenstaat allein (1919) würde wenig Gewicht haben, dass er aber das Ende des 130 jährigen Prozesses der Judenemanzipation ist, dieses Rückgreifen auf 1789 macht seine symptomatische Bedeutung deutlich.“(6)
Noch im gleichen Jahr dann offenbart sich Rosenzweig seinen Freunden ironisch als „böser Zionist“, der durchaus ein positives Weltverhältnis haben kann, denn:
„die Lehre des Judentums, die der Zionismus zu entfalten gedenkt, ist nicht die Lehre eines Volkes, ist die Lehre der Welt. Wie es heisst: und alle sollen an der Lehre genesen.“ 1920 muß er dann bekennen, dass ihn die „Frage „Zionismus“ ... jetzt, wie es so geht, aus allen Ecken“ anspringt, „aus jedem Buch, in das ich hineinsehe, aus jedem Menschen, mit dem ich spreche.“(7)
wofür er Werke von Maimonides und Spinoza anführt. Am 24. Juni 1920 folgt das Bekenntnis am Margrit Rosenstock über eine im Jüdischen Lehrhaus gehaltene Vorlesung:
„Heute 1789 – 1920 (Goethe, Judenemanzipation, Weltkrieg, Zionismus) Mein Verhalten zum Zionismus wird ja immer mehr a la Bileam: ich bin ausgezogen, um ihm zu fluchen, und segne ihn bei jeder Gelegenheit.“(8)
Dem folgt vier Wochen später das verzweifelte Bekenntnis eines Misserfolgs bei seiner Hörerschaft, die nicht überzeugt sein will:
„Ausser man giebt dem Pack was es verlangt: Orden zum „Stern der Erlösung“ I.II. III. Klasse usw. Die Zionisten sind die einzigen auf dem richtigen Weg. Ich bin ein Schlag ins Wasser.“(9)
Als überzeugter deutscher Patriot ist Rosenzweig auch noch nach dem Ersten Weltkrieg extrem antibritisch eingestellt und kritisiert den politischen Zionismus nicht zuletzt deshalb, weil er das Bündnis mit Großbritannien eingegangen ist.
“Das Schlimmste ist“ so Rosenzweigs Urteil über die Briten „dass dies Volk nun nicht bloß über die Welt herrscht, sondern auch über die Juden, sogar als unser „Wohltäter“. Unser Schicksal hängt davon ab, dass wir undankbar sind; ich habe Anzeichen dafür, dass wir es sein werden.“(10)
Rosenzweigs Annäherung an Martin Buber, der seit jeher bekennender Kulturzionist war, schlägt in dieser Frage in Bewunderung um, wenn Rosenzweig der angebeteten Frau im Herbst des Jahres 1920 schreibt, dass ein Zionist wie Buber doch ganz anders „Ketzer“ sein könne als
„unsereiner“ – also wie er selbst oder eben Hans Ehrenberg, von dem er meint, dass er „bloß unter die Sozialdemokraten“ gegangen sei.(11)
Derlei „Ketzer“ faszinieren ihn so, dass er stolz bekennt, „einen – sehr übeln – Zionisten für das Lehrhaus gewonnen“ zu haben.(12) In seinen Debatten mit Nobel sah er sich schließlich gezwungen, konkrete Prognosen über die künftige Gestalt des Judentums zu äußern:
„Ich sagte ihm neulich...: ich erwartete, in Palästina, wo der zusammenhaltende Druck von außen wegfallen würde, würden die beiden Flügel des Judentums in eine „protestantische“ und eine „katholische“ Kirche auseinanderfallen. Er sagte ganz seelenruhig, nein, die Kabbala wird uns zusammenhalten.“(13)
Eine Auseinandersetzung mit dem bürgerlich liberalen Jabotinsky Anhänger Richard Lichtheim provoziert nach einer Vorlesung gar das Bekenntnis:
„Aber ich rutsche ohne Halten in den Zionismus hinein. Sprechen ist eine dolle Sache.“(14)
Rosenzweigs Briefwechsel mit „Gritli“ beweist unter anderem, dass er dabei war, die im „Stern“ entfaltete Theorie des Jüdischen Volkes zu revidieren, genauer schon vor dessen Erscheinen zu revidieren begann, mehr noch , dass er sehr genau sah, dass der Zionismus in einer von ihm als christlich bezeichneten historischen Welt eine unausweichliche Form war: dem Brief an Ehrenberg im Jahr 1927 gingen beinahe identisch klingende Sätze an Eugen Rosenstock sechs Jahre früher voraus:
„Der Zionismus ist das, was Dir der Sozialismus ist. In 100 Jahren hat die Welt wieder eine Form und wir wieder ein Gesetz. Ich selbst werde noch eine der Grundschriften schreiben, aus denen es dann kodifiziert werden wird. Denn es wird wirklich wieder ein geschriebenes und doch wirklich gehaltenes Gesetz sein ( - ein Wunder, ohne das die Welt nicht leben kann) Dass die Zionisten diesem neuen Gesetz zuleben können nur indem sie sich selbst, ihre eigene europäisch verflochtene Seele opfern, das wissen sie selbst. Ich hatte mir bisher eingeredet, ich dürfte Werkzeug für das neue Werk sein und doch meine Seele auf der Erde retten und behalten. Jetzt sehe ich, es geht mir genau wie jenen. Ich gehe genauso vor die Hunde wie die ganze lebende Generation von Zionisten (ich rede immer nur von den wirklichen) Aber das neue Gesetz wird daraus entstehen.“(15)
1921 wußte Rosenzweig eingestandenermaßen noch nicht, wie dies neue Gesetz aussehen werde:
„Ob das neue jüdische Gesetz schon das letzte, das Weltgesetz sein wird – die Zionisten glauben es, ich weiß es nicht. Auch das ist nicht meine Sache. Marx und Lassalle ? sie sind meine Mitarbeiter dabei, so gut wie Nobel und so gut wie Strauss und Koch..“(16)
Neben vielem anderen findet sich im „Stern der Erlösung“ eine vom späten Schelling beeinflußte Theorie des jüdischen Volkes als des Trägers des jüdischen Glaubens. Rosenzweig war in seiner spekulativen Soziologie der Überzeugung, daß die Juden, die – anders als alle anderen Völker – weder über ein Land, noch über eine gemeinsame Alltagsssprache noch gar über die Fähigkeit zur Kriegsführung verfügen, all dies zwar einmal – in der Jugendzeit des Volkes – besassen, es aber spätestens mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem verloren hätten. Ohne Land, Sprache und Kriege lebte das Volk seither nur noch im geschlossenen Raum des liturgischen Jahres und gewann seine Fortexistenz in der Zeit einzig durch das „Seid fruchtbar und mehret Euch“, also durch die – wie Rosenzweig es ausdrückte - Kraft des „Blutes“. Das Leben im liturgischen Jahr und in familialer Kontinuität bannt die Juden somit in einen Raum jenseits jeder nationalen Geschichte und auch jenseits der Weltgeschichte, die seiner Überzeugung nach durch das Christentum und seinen messianischen Missionsauftrag geprägt wurde.
Während also die christliche Welt durch und durch geschichtlich ist und jenem Endpunkt entgegenstrebt, da alle Völker den Gott der Bibel anerkennen werden, befinden sich die Juden als Volk bereits dort, wo alle anderen hinstreben: in einem stehenden, transhistorischen Jetzt, in dem es jene Ewigkeit schon gewonnen hat, nach der die restliche Menschheit sich vielleicht sehnt.
III.
Rosenzweig, der 1929 starb, hat den Nationalsozialismus, die Massenvernichtung und – auf sie folgend – die Gründung des Staates Israel nicht mehr erlebt, aber – wie anfangs angedeutet – in seinen letzten Jahren dem Zionismus durchaus eine theologisch-moralische Bedeutung zugemessen. Hätte er all dies erlebt, wäre ihm jedoch wenig anderes übrig geblieben, als seine Sicht zu verändern, denn:
Die Massenvernichtung hat das Ewige Volk in seiner ganzen Endlichkeit sichtbar werden lassen, während die Gründung des Staates Israel mindestens einem Teil von ihm Geschichtlichkeit, gemeinsame Alltagssprache und die Fähigkeit zum Kriegführen zurückerstattet hat. Rosenzweig hätte sich zugleich dem Problem zu stellen, was es erstens heißt, daß das Volk wieder im Besitz eines, seines Landes, ist und zweitens die Frage zu beantworten, was es für das „Ewige Volk“ heißen kann, mit der Erfahrung, beinahe zur Gänze umgebracht worden zu sein, zu leben. Durch den über die Shoah und die Gründung des Staates Israel verursachten Rücksturz in die Geschichte ist das jüdische Volk aus seinem bisherigen Existenzmodus, dem Vertrauen in die durch Zeugung und Glaube je und je wieder erschaffene Ewigkeit in zwei andere Existenzmodi gefallen. Auch noch in der dritten Generation nach der Shoah leben Juden – individuell und kollektiv – im Schrecken, im Schock und in Trauer – sofern sie sich auf die Vergangenheit beziehen. Ihre Gegenwart indes ist, sofern sie auf den Staat Israel bezogen wird, nicht mehr – wie vielleicht noch bis 1973 – durch Stolz und Vertrauen in den selbstgeschaffenen Staat, sondern durch den Alltag der Sorge geprägt.
Das jüdische Volk lebt heute als Volk – das ist nicht dasselbe ist wie die Summe aller jüdischen Individuen – auch in Trauer und Sorge. Trauer, anders als die Melancholie, ist indes, wie Sigmund Freud gelehrt hat, eine Form harter psychischer Arbeit, ein Vergegenwärtigen und Verabschieden des verlorenen Objekts, das solange anhält, bis dem die Realität prüfenden Bewußtsein klar geworden ist, daß etwas unwiederbringlich verloren und daher nun Raum für neue Erfahrungen und Bindungen ist. Im Unterschied zur Trauer kann die Sorge jedoch solange nicht zur Ruhe kommen, als eventuelle Bedrohungen noch andauern. Die „Sorge“ so hat es Martin Heidegger in „Sein und Zeit“ analysiert, ist jene Existenzform, die ihrer selbst bewußten Wesen eignet, Wesen die ein Bewußtsein ihrer Zeitlichkeit und Vergänglichkeit haben und denen es bei all ihren Handlungen, aber auch Unterlassungen immer um sich selbst, um das Ganze ihres Lebens geht. Das Nachsinnen über Zukunft, über Sicherheit und Unversehrtheit, die Frage, wie das Leben zu führen sei, ja die Sehnsucht nach einem Ende der Angst, all dies ist Sorge.
Jüdische Existenz besteht heute in weiten Teilen der Welt in einem Selbstverständnis als einer noch vor kurzem in Teilen grausam vernichteten Ethnie, die heute in ununterbrochener Sorge um das Fortbestehen ihres staatlichen Zentrums lebt und dieser Sorge alles andere unterordnet. Rosenzweig hat diese Form der Existenz beinahe prophetisch in völliger Unkenntnis der Zukunft, aber mit einem wachen Blick auf die Vergangenheit schon 1921 gesehen:
„Es gibt keine Gruppe, keine Richtung, ja kaum einen Einzelnen im Judentum, der nicht seine Art, das Nebensächliche preiszugeben, um den Rest festzuhalten, für die einzig wahre und sich also für dem „wahren Rest Israels“ ansehe. Und er ists. Der Mensch im Judentum ist immer irgendwie Rest. Er ist immer irgendwie ein Übriggebliebener, ein Inneres, dessen Äußeres vom Strom der Welt gefaßt und weggetrieben wurde, während er selbst das Übriggebliebene von ihm, am Ufer stehen bleibt.“(17)
In dieser Passage paart sich eine Diagnose des Judentums nicht nur der Moderne mit einer Erinnerung an die weite, nicht alle Abschnitte seiner Geschichte bestimmenden Katastrophen. Von allem Anfang an – Rosenzweig verweigert sich einer genauen historischen Bestimmung – trat das, was nach Maßgabe einer Tradition als jüdisches Leben galt und das, was den Einzelnen in einer gegebenen Gesellschaft lebbar schien, auseinander, weswegen die Unterscheidung von zwischen „Nebensächlichem“ und „Bedeutsamem“ nicht nur in Krisenzeiten bestimmend wurde.
Angefangen etwa mit dem von Esra ausgesprochenen Verbot der Mischehen über Hillels goldene Regel zur die tiefen Herzensfrömmigkeit der Chassidim und der bundistischen Neubewertung der jiddischen Sprache: Judentum, so will Rosenzweig sagen, ist nur lebbar über die Vereinseitigung einzelner Züge einer Überfülle historisch entstandener Möglichkeiten. Viele dieser Möglichkeiten erschienen je nach historischer und sozialer Lage als nicht mehr zeitgemäß und wurden zugunsten bestimmter Züge hinter sich gelassen sowie vergeßen – etwa die alte Orthodoxie, die nach Aufklärung und Reformjudentum der Neoorthodoxie weichen mußte. Dieser immer wieder zu beobachtende Umstand wirkt auf den ersten Blick negativ und erweist sich doch auf den zweiten Blick als das Geheimnis des historischen Überlebens des jüdischen Volkes - allen Katastrophen zum Trotz.
Entgegen Rosenzweigs Behauptung, daß das Judentum seit der römischen Zeit in einem gleichsam geschichtslosen Zustand verharre, zeigt sich an dieser Diagnose nämlich, daß die behauptete Geschichtslosigkeit als solche nur dann gelten kann, wenn man sie mit einem bestimmten Typus der Geschichte, nämlich der politischen Geschichte von Ethnien und Nationen gleichsetzt. Wenn nur und ausschließlich Staatenbildung und ethnische Selbstbehauptung den Gegenstand der Geschichte umschreiben, dann hatte das Judentum jahrhundertelang tatsächlich keine Geschichte, befreit man sich freilich von dieser Perspektive und wendet den Blick der Weiter- und Fortbildung einer geistigen Existenz zu, dann entfaltet sich das Panorama einer Geschichte, die durch Neugründung, Verdrängung, durch Vergessen ebenso wie durch Anpassung und Kreativität gekennzeichnet ist.
In diesem Sinne konnte Rosenzweig 1927 feststellen, daß der Zionismus gleichsam eine gewandelte, äußerlich institutionelle Form des ewigen jüdischen Wesens, das für ihn in nichts anderem besteht als in gelebter Nächstenliebe, darstelle:
„für das jüdische Volk gilt kein Zwiespalt zwischen dem Eigensten und dem Höchsten, ihm wird die Liebe zu sich selbst unmittelbar zur Liebe des Nächsten.“(18)
Diese von Rosenzweig keineswegs nur normativ gemeinte Formel ist durch die Wiedervergeschichtlichung des Judentums im Zionismus offensichtlich widerlegt worden. Unabhängig davon, ob man die militante Politik des israelischen Staates Palästinensern und arabischen Nachbarn gegenüber in moralischer Hinsicht für gerechtfertigt hält oder nicht – als Ausdruck unmittelbarer Nächstenliebe wird man sie – wenn Begriffe überhaupt ihren Sinn behalten sollen – gewiß nicht bezeichnen dürfen.
Das Land Israel erscheint demgegenüber immer deutlicher als das, was es in der Geschichte des Judentums immer gewesen ist: als ein Unterpfand von Gottes Treue.
Dies Unterpfand ist dem Glauben der faschistisch - nationalreligiösen Rechten von Gush Emunim gemäß als verpflichtendes Geschenk Gottes dankbar anzunehmen und mit Blut und Tod zu verteidigen. Einer nicht substantialistisch, sondern intellektuell argumentierenden Linken hingegen war dies Land ohnehin niemals mehr als Vorschein, Hoffnung, Projekt, Chiffre – eine symbolische Verheißung, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt wieder dorthin zurückzieht, wo sie einst herkam: in die Sprache. Franz Rosenzweig hat dieser Auffassung ihren prägnantesten Ausdruck verliehen, als er über das Verhältnis des jüdischen Volkes zum Land Israel schrieb:
„Das Land ist ihm im tiefsten Sinn eigen eben nur als Land seiner Sehnsucht, als – heiliges Land. Und darum wird ihm sogar, wenn es daheim ist, wiederum anders als allen Völkern der Erde, dies volle Eigentum seiner Heimat bestritten: Es selbst ist nur ein Fremdling und Beisaß in seinem Lande: „mein ist das Land“ sagt ihm Gott; die Heiligkeit des Landes entrückt das Land seinem unbefangenen Zugriff, solange es zugreifen konnte; sie steigert seine Sehnsucht nach dem Verlorenen ins Unendliche und läßt es hinfürder in keinem anderen Land mehr ganz heimisch werden.“(19)
Über derlei historische Analysen hinaus stellt sich die Frage nach der Möglichkeit eines jüdischen Staates als systematische Frage. Dann ist jedoch als erstes zu vermerken, daß das Judentum aufgrund seiner über Jahrhunderte währenden politischen Ohnmacht eine politische Theologie, die diesen Namen auch verdient, auf den ersten Blick tatächlich nicht entwickelt hat, sondern seine Staatsgründung auf der Basis des säkularen Nationalismus als Zionismus betrieben hat – ein Projekt, das an inneren Widersprüchen laboriert. Dabei hängt freilich alles davon ab, in welchem Sinn hier von „politischer Theologie“ gesprochen wird. Selbstverständlich enthalten die alttestamentlichen Schriften politische Theologien, in den Büchern der Könige auch durchaus solche, die das Spannungsverhältnis von priesterlich-theokratischer Herrschaft hier und Königsherrschaft dort auf das genaueste registrieren. Freilich brach diese Tradition spätestens mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels bzw. dem gescheiterten Aufstand Bar Kochbas ab, um sporadisch in talmudischen Debatten weiter geführt zu werden.(20)
Der Franz Rosenzweig war kein Zionist und fing erst in den letzten Tagen seines Lebens an, dem zionistischen Gedanken Positives abzugewinnen. Bei alledem blieb er von dem Gedanken durchdrungen, daß das Land Israel in seiner Heiligkeit letztlich Gott vorbehalten blieb und sich in seiner Heiligkeit dem unbefangenen Zugriff auch der Juden entziehen müsse:
„die Heiligkeit des Landes entrückt das Land seinem unbefangenen Zugriff, solange es zugreifen konnte; sie steigert seine Sehnsucht nach dem verlorenen ins Unendliche und läßt es hinfürder in keinem anderen Land mehr gänzlich heimisch werden.“(21)
Anfang der Zwanziger Jahre hatte Franz Rosenzweig Gedichte des in Spanien gebürtigen mittelalterlichen Dichters Jehuda Halevi (1079 –1141), der nicht nur am Exil litt, bedeutende religionsphilosphische Kommentare verfaßte, sondern gegen Ende seines Lebens beschloß, ins Land Israel heimzukehren. Die von ihm verfaßten Zionsgedichte sind Ausdruck mystischer Frömmigkeit wie ungezügelter Erlösungssehnsucht. Die erste Strophe des Gedichts „Heimkehr“ hat Rosenzweig so eingedeutscht:
„Jed Irrn, du trägst mirs.Breite
den Arm dem Heimwärtskehren!
Doch folg ich deiner Leite,
muß eignen Rats entbehren.
Dein Licht ums Auge mir spreite!
Heil Herzens Sichverkehren!
Heimkehr uns, Herr, bereite
Zu dir, daß heim wir kehren.“ (22)
ANMERKUNGEN
(1) W. Laqueur, Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus, Wien 1972
(2) T. Segev, Die siebte Million, Reinbek 1999
(3) F. Rosenzweig, Die Schrift, Königstein 1976, S.227
(4) F. Rosenzweig, Die „Gritli“ – Briefe. Briefe an Margrit Rosenstock – Huessy herausgegeben von Inken Rühle und Reinhold Mayer mit einem Vorwort von Rafael Rosenzweig, Tübingen 2002, S. 278
(5) a.a.O. S. 354
(6) a.a.O. S. 434
(7) a.a.O. S. 611
(8) a.a.O. S. 614
(9) a.a.O. S, 628
(10) a.a.O. S. 629
(11) a.a.O. S. 638
(12) a.a.O. S. 658
(13) a.a.O. S. 664
(14) a.a.O. S. 686
(15) a.a.O. S. 723
(16) S. 732
(17) F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Ffm. 1921, S. 507
(18) a.a.O. S. 413
(19) Rosenzweig a.a.O. S. 378
(20) J.Neusner, Rabbinic Political Theory – Religion and Politics in the Mishna, Chicago 1971
(21) F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Ffm. 1993, S. 338
(22) F. Rosenzweig, Die Schrift, Aufsätze, Übertragungen und Briefe, Königstein 1976, S. 108