Nostra Aetate und die Zukunft des jüdisch-christlichen Dialogs
09. März 2006
Vortrag von Kardinal Walter Kasper bei der ersten Begegnung "Kirchen und Rabbinerkonferenzen" am 09.03.2006 in Berlin
Nostra Aetate und die Zukunft des jüdisch-christlichen Dialogs
Hier in Berlin vor deutschen Rabbinern über die Zukunft des jüdisch-christlichen Dialogs zu sprechen stellt für mich eine Aufgabe dar, der ich nur mit innerer Bewegung nachkommen kann. Nicht weit von hier befindet sich das Holocaust-Denkmal, das uns an eine dunkle Epoche deutscher Geschichte erinnert, die von dieser Stadt ausgegangen ist und die im zweiten Weltkrieg auf fast ganz Europa übergegriffen hat.
Die Aufgabe, hier in Berlin über das Verhältnis von Juden und Christen zu sprechen führt meine Gedanken jedoch noch weiter zurück. Die Geschichte Berlins ist nicht erst nach 1933, sie ist von allem Anfang an im Guten wie leider auch im Bösen unlöslich mit der Geschichte des Judentums verknüpft. Es ist – wie auch anderswo – eine Geschichte von Duldung und Ausweisung, von Gettoisierung und Emanzipation sowie Assimilation, von Aufstieg und Vernichtung. Es gibt jedoch auch die andere Seite, nämlich die eines Miteinanders und einer gegenseitigen Beeinflussung. Viele jüdische Namen sind zu nennen, welche vor dem Schicksalsjahr 1933 das religiöse und das kulturelle Leben dieser Stadt geprägt haben: Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Hermann Cohen, Walter Benjamin, Leo Baeck und viele andere. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass in Berlin wie an anderen Orten Deutschlands nach 1945 ein neuer Anfang möglich wurde und neues jüdisches Leben entstand. Es ist eine Bereicherung auch für uns Christen.
I. Ein Umbruch von welthistorischer Bedeutung
Nach 1945 konnte man nicht mehr einfach dort weitermachen wo man 1933 aufgehört hatte. Eine grundlegende Neubesinnung über das Verhältnis von Juden und Christen war nötig. Es gehört zu den Paradoxien der Geschichte, dass die ersten Anfänge dieser Neubesinnung in die Nazi-Konzentrationslager zurückweisen. Dort fanden sich Juden und engagierte Christen im gemeinsamen Widerstand gegen ein brutales neuheidnisches totalitäres System; sie entdeckten ihr gemeinsames Erbe und ihre gemeinsamen humanen und biblischen Wertvorstellungen. Um dieser Neubesinnung nach dem Zusammenbruch zum Durchbruch zu verhelfen, bedurfte es leider des Erschreckens über das bis dahin unvorstellbare Verbrechen des Holocaust und über das unsägliche Leid, das er über Millionen von unschuldigen Menschen gebracht hatte.
Vorbereitet und ermöglicht war der Neuanfang durch jüdische Philosophen und Theologen, welche großen Einfluss auf die christliche Theologie des 20. Jahrhunderts nehmen konnten und die mithalfen, das Judentum neu zu verstehen. Nur zwei Namen möchte ich nennen, auch wenn sie innerhalb des Judentums eine Sonderstellung einnehmen: Franz Rosenzweig und Martin Buber, dessen Schriften mich schon als junger Student beeindruckt hatten. Schon bald nahmen bedeutende Theologen beider Kirchen die Herausforderung an: Dietrich Bonhoeffer, Karl Barth, Hans Urs von Balthasar, Augustin Bea um nur die wichtigsten Pioniere des jüdisch-christlichen Dialogs deutscher Sprache zu nennen. Doch wie könnte man es hier in Berlin unterlassen, Dompropst Bernhard Lichtenberg und Bischof Konrad Graf von Preysing wenigstens zu erwähnen. Sie und viele andere leiteten ein christliches Umdenken, eine teschuwa, ein, die in der Geschichte der christlichen Theologie in dieser Form wohl einmalig ist.
Auf evangelischer Seite meldete sich nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 vor allem der Ökumenische Rat der Kirchen bei seiner ersten Vollversammlung in Amsterdam im Jahr 1948 zu Wort. Er betonte die besondere Bedeutung des jüdischen Volkes für den christlichen Glauben und sah den Grund für das Weiterbestehen des jüdischen Volkes in der unveränderlichen Treue und Barmherzigkeit Gottes. Viele weitere Stellungnahmen aus dem Bereich der evangelischen Kirchen folgten.
Die katholischen deutschen Bischöfe meldeten sich im August 1945 in einem Gemeinsamen Hirtenbrief ebenfalls zu Wort; der erste deutsche Katholikentag nach dem Krieg im Jahr 1948 in Mainz begründete die Tradition der nachfolgenden Katholikentage, sich regelmäßig mit Fragen des Verhältnisses von Christentum und Judentum auseinander zu setzen. Nimmt man die Wortmeldungen vieler nicht deutscher katholischer Bischofskonferenzen und Diözesen hinzu, so muß man die kirchliche Entwicklung nach 1945 in der Frage des jüdisch-christlichen Verhältnisses als eine der erfreulichsten Entwicklungen in dem sonst dunklen 20. Jahrhundert bezeichnen; sie führte zu einem grundsätzlichen Umdenken in der jüdisch-christlichen Verhältnisbestimmung.(1)
Dieses Umdenken war im ursprünglichen Sinn des Wortes radikal, d.h. an die Wurzel gehend. Denn im Zug dieses Umdenkens haben die Kirchen – um mit dem Apostel Paulus zu sprechen – ihre jüdische Wurzel wiederentdeckt, von welcher der Apostel sagt, daß sie es ist, welche den eingepfropften Zweig des Christentums trägt (vgl. Röm 11,17 f). So machten nicht wenige christliche Theologen für das Versagen so vieler Christen in der Zeit des Nationalsozialismus die Schwäche verantwortlich, die das Christentum dadurch erlitten hat, dass es von dieser es nährenden Wurzel des Judentums so lange Zeit fast wie abgeschnitten war. Das Problem geht also weit über politische und ethische Fragen, so wichtig diese selbstverständlich sind, hinaus und betrifft die christliche Identität in ihrer Wurzel. Die Tatsache, daß nach der langen, komplexen und schwierigen Geschichte zwischen Juden und Christen der jüdisch-christliche Dialog seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in dieser Tiefe neu aufgebrochen ist, stellt einen Vorgang von welthistorischer Bedeutung dar.
II. Das II. Vatikanische Konzil – der Anfang eines neuen Anfangs
Im Folgenden beschränke ich mich im Wesentlichen auf den katholisch-jüdischen Dialog. Der entscheidende amtliche Durchbruch geschah im vierten Kapitel der Erklärung des II. Vatikanischen Konzils (1962-65) Nostra Aetate, „In unserer Zeit“. In der Tat, dieses Dokument „In unserer Zeit“ war eine der wichtigsten Zeitansagen dieser wohl bedeutendsten Kirchenversammlung des 20. Jahrhunderts.(2) Die Erklärung hat einen Vater: Papst Johannes XXIII. Er wurde nach dem Tod von Papst Pius XII. 1958 als Übergangspapst gewählt, in Wirklichkeit hat er für einen Übergang in der Kirche gesorgt, nicht zuletzt was das Verhältnis zu den Juden angeht.
Schon als Apostolischer Visitator und Delegat in Sofia (1925-35) und vor allem als Apostolischer Delegat in Istanbul während des zweiten Weltkriegs (1935-44) war es ihm eine Herzens- und Gewissenssache, unter persönlichem Einsatz das Leben vieler Juden vor dem Tod in den national-sozialistischen Vernichtungslagern zu retten. Schon bald nach seiner Erhebung auf den päpstlichen Stuhl strich er am Karfreitag 1959 aus der Karfreitagsliturgie den Ausdruck, der von den “treulosen Juden“ sprach. Im Oktober 1960 begrüßte er – sein Taufnahme war Giuseppe (Josef) – eine Gruppe amerikanischer Juden mit den Worten aus dem ersten Buch Mose: „Ich bin Josef, euer Bruder“. Ein solcher Ausdruck der Brüderlichkeit war ein völlig neuer Ton nach den vielen Jahrhunderten, die von der „Sprache der Verachtung“ (Jules Isaak) geprägt waren.
Johannes XXIII. hatte ein Gespür für das, was sich im Bewusstsein der Kirche veränderte, und er hatte den Mut ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Aber eine Idee in die Tat umzusetzen kann auch für einen Papst schwierig sein. So war er glücklich, für diese Aufgabe in Augustin Bea (1881-1968) einen tüchtigen Mitarbeiter zu finden. Augustin Bea war ein angesehener Bibelwissenschaftler, ein Kenner der Kurie, ein Mann von Wissenschaft und Weisheit, der menschliches Einfühlungsvermögen, Klugheit und persönliche Frömmigkeit in seine neue Aufgabe mitbrachte.(3) Der Papst ernannte ihn am 5. Juni 1960 zum ersten Präsidenten des „Sekretariats für die Förderung der Einheit der Christen“, das seit 1988 „Päpstlicher Rat für die Förderung der Einheit der Christen“ heißt. Als Johannes XXIII. nach dem denkwürdigen Besuch von Jules Isaak im Juni 1960 entschied, das II. Vatikanische Konzil solle eine Erklärung zum Judentum veröffentlichen, und als er Augustin Bea mit der Vorbereitung beauftragte, musste dieser nicht nur völliges Neuland, sondern ein total vermintes Gelände betreten.
Es gab vehemente Opposition von Innen und Außen. Von Innen kamen die bekannten Schemata des Antijudaismus zum Vorschein, von außen kam es besonders von Seiten einiger Moslem-Länder zu einem wahren Sturm des Widerstands, der mit handfesten Drohungen gegen die Christen verbunden war, die als kleine Minderheiten in diesen Ländern lebten. Das alles fand Ausdruck in allen möglichen und unmöglichen Pamphleten und Hetzschriften. Nachdem das Dokument das Konzil passiert hatte, sagte Kardinal Bea einem Freund: „Wenn ich vorher alle Schwierigkeiten gewusst hätte, hätte ich nicht den Mut gehabt, diesen Weg einzuschlagen.“
Unter diesen Umständen konnte die Geschichte des Dokuments nicht anders als dramatisch verlaufen. Um wenigsten die Möbel aus dem brennenden Haus zu retten, wurde schließlich entschieden, das Dokument als ein Kapitel in eine neu zu schaffende „Erklärung über die nicht-christlichen Religionen“ einzufügen, die dann als Nostra Aetate bekannt wurde.
Das war ein Kompromiss, denn das Judentum ist für uns Christen nicht eine Religion unter anderen nichtchristlichen Religionen; vielmehr hat – wie das vierte Kapitel von Nostra Aetate klar macht – das Christentum zum Judentum eine einmalige Beziehung, die es zu keiner anderen Religion hat. Wir können das Christentum nicht definieren ohne auf das Judentum Bezug zu nehmen, was weder für den Islam und noch weniger für irgend eine andere Weltreligion zutrifft. Das Judentum ist die Wurzel des Christentums und der Bezug des Christentums zum Judentum gehört zu dessen Identität. Aber dies klar zu machen und für diese Einsicht eine Mehrheit zu finden, war keine einfache Aufgabe. Schließlich wurde die Erklärung mit 2221 Ja- gegen 88 Neinstimmen vom Konzil angenommen und am 28. Oktober 1965 feierlich promulgiert.
Das Dokument enthielt zwei Epoche machende Aussagen. Zuerst eine theologische Entscheidung: Im Anschluß an die Kapitel 9-11 des Römerbriefs des Apostels Paulus erinnert das Konzil an die jüdische Wurzel des Christentums; es erinnert an unser gemeinsames Erbe als Söhne Abrahams; es sagt, daß Jesus, seine Mutter Maria, die Apostel Juden waren. Es stellt unter Berufung auf den Römerbrief ausdrücklich fest, daß Gottes Gnadengaben und Berufungen unwiderruflich sind (vgl. Röm 11,28-29). Deshalb verbietet die Erklärung, die Juden als ein von Gott verworfenes und verfluchtes Volk darzustellen. Die Sprache der Verachtung war damit kirchenamtlich endgültig aufgegeben. Aus der theologischen Entscheidung folgte eine zweite – wenn man so will – kirchen- und allgemeinpolitische Entscheidung: Die Konzilserklärung beklagte alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemanden gegen die Juden gerichtet haben.
Nimmt man beide Aussagen zusammen, dann hat das Konzil nicht nur den Antisemitismus, eine erst im 19. Jahrhundert aufgekommene, völlig abwegige Rassentheorie verurteilt, sondern auch den wesentlich älteren theologischen Antijudaismus, welcher dem Antisemitismus Vorschub leisten konnte, überwunden. Überwunden war damit auch die seit dem 2. Jahrhundert gängige Substitutionstheorie, wonach die Kirche als das neue Bundesvolk an die Stelle des von Gott verworfenen alten Bundesvolkes getreten sei. Nostra Aetate hat also den Boden der Geschichte gründlich umgepflügt und ihn für eine Neuaussaat und eine fruchtbare neue Entwicklung des jüdisch-christlichen Verhältnisses bereitet.
III. Der Beitrag von Papst Johannes Paul II.
Die Entscheidungen von Nostra Aetate sind inzwischen Allgemeingut kirchlicher Lehre geworden. Das heißt jedoch nicht, daß die Aufgaben und die Herausforderungen mit dem Ende des Konzils zu Ende gewesen wären. Hindernisse, Widerstände, Konflikte und Probleme dauerten vielmehr fort. Mit der Konzilserklärung war zwar ein fester Pflock eingeschlagen, um den man nicht mehr so leicht herumkommen konnte; aber eine Konzilserklärung ist eine Sache, ihre Rezeption im Leib und im Leben der weltweiten Kirche, und noch mehr ihre praktische Verwirklichung an der „Basis“ der Kirche ist eine andere Sache.
So waren die Jahre nach dem Konzil geprägt von lebhaften Debatten über die rechte Interpretation und die angemessene Verwirklichung des Konzils, insbesondere des vierten Kapitels von Nostra Aetate. Dabei erwies sich sehr bald: Die Konzilserklärung war erst der Anfang eines neuen Anfangs. Es war notwendig, auf dem vom Konzil gelegten Grund weiterzubauen und die Konzilserklärung nicht nur in die verschiedenen Sprachen, sondern auch in die verschiedenen, rasch sich wandelnden gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexte zu übersetzen.
Bereits Papst Paul VI. (1963-78) hat die Rezeption energisch vorangetrieben; das eigentliche Verdienst, die Erklärung ins Bewusstsein und ins Leben umgesetzt und wesentlich weitergeführt zu haben, kommt jedoch vor allem dem langen Pontifikat von Papst Johannes Paul II. (1978-2005) zu.(4) Von Jugend an war er mit Juden bekannt und befreundet; als junger Mann ist er in unmittelbarer Nähe von Auschwitz aufgewachsen. So war ihm die Neuordnung des jüdisch-christlichen Verhältnisses ein persönliches wichtiges Anliegen. Bei seinen Pastoralreisen begegnete er fast regelmäßig jüdischen Vertretern. Die wichtigsten Begegnungen fanden im Konzentrationslager Birkenau (1979), beim ersten Deutschlandbesuch in Mainz (1980), beim Besuch der Großen Synagoge in Rom (1986), bei einem Konzert zum Gedenken der Shoah (1994), in der Gedenkstätte Yad Wa-Shem in Jerusalem (2000) und in der Gedenkstätte Babi Yar bei Kiew (2001) statt.
Antisemitismus war für den Papst in erster Linie eine Verletzung der Würde der menschliche Person und ihrer unveräußerlichen Rechte; denn die Würde des Menschen hängt nicht von seiner Abstammung, Kultur, Religion oder seinem Geschlecht ab; sie ist ihm als Mensch zu eigen und ist jedem Menschen durch seine Geburt in die Wiege gelegt. Bereits auf der ersten Seite der Bibel findet sich die Aussage, daß Gott den Menschen, d.h. jeden Menschen, nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (Gen 1,26-27). So besitzt jeder Mensch eine unendliche Würde, und jeder Mensch verdient unabhängig von seiner völkischen, kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit unbedingte Achtung. Antisemitismus ist deshalb eine Beleidigung der Würde des Menschen wie eine Beleidigung Gottes; Antisemitismus ist Sünde.
Unter theologischem Gesichtspunkt wiederholte Johannes Paul II. im Anschluß an den Römerbrief des Apostel Paulus (vgl. Röm 11,28 f) immer wieder, das jüdische Volk sei das von Gott erwählte und geliebte Volk, es sei das Volk des Bundes, den Gott aufgrund seiner Treue nie gekündigt hat und der darum noch immer gültig ist. Als er am 13. April 1986 als erster Papst in der Geschichte die Große Synagoge in Rom besuchte, nannte er die Juden „unsere bevorzugten … unsere älteren Brüder.“ In der bewegenden Szene an der Klagemauer in Jerusalem am 26. März 2000 und beim Gottesdienst in St. Peter am ersten Fastensonntag des Jubiläumsjahres 2000 bat er um Vergebung für alle Sünden, welche Christen gegen Juden begangen haben. Er war, wie mir amerikanische Juden öfters gesagt haben, der Papst, der in der langen Geschichte der Päpste am meisten für die Juden und für das jüdisch-christliche Verhältnis getan hat.
Papst Benedikt XVI. führt die Linie seines Vorgängers konsequent fort. Er hat dies nicht erst im vergangenen August bei seinem Besuch in der Synagoge in Köln bewiesen; schon lange zuvor hat er als Theologe grundlegende Veröffentlichungen zu diesen Fragen vorgelegt.(5) Als Präsident der Päpstlichen Bibelkommission veröffentlichte er im Jahr 2001 das Aufsehen erregende Dokument „Das jüdische Volk und seine heilige Schrift in der christlichen Bibel“. Dort stellte er gegen die liberale Theologie eines Adolf von Harnack die innere Einheit von Altem und Neuem Testament heraus mit der Aussage: „Ohne das Alte Testament wäre das Neue Testament ein Buch, das nicht entschlüsselt werden kann, wie eine Pflanze ohne Wurzeln, die zum Austrocknen verurteilt ist“. In der kurzen Zeit als Papst hat er bereits viele jüdische Vertreter, unter ihnen die beiden Großrabbiner von Jerusalem, sowie kürzlich den Oberrabbiner von Rom empfangen. Beim letzten Empfang im Januar dieses Jahres hat er nachdrücklich vor den neuen Zeichen eines Antisemitismus gewarnt.
So haben das II. Vatikanische Konzil und die Pontifikate Johannes XXIII., Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die jüdische Wurzel der Kirche neu herausgestellt; sie haben eine neue Periode der Partnerschaft zwischen Juden und Christen eingeleitet und damit auch einen Beitrag zum Frieden in der Welt geleistet. Alle drei Päpste haben gezeigt, daß auch nach einer schwierigen und streckenweise dunklen Geschichte durch Bekehrung und Versöhnung ein neuer Anfang möglich ist.
IV. Stabile institutionelle Verbindungen
Selbstverständlich hängt auch in der katholischen Kirche nicht alles allein von der persönlichen Einstellung des jeweiligen Papstes ab. Um eine „Sache“ auf Dauer zu stellen, bedarf es vielmehr einer institutionellen Verankerung. Das ist um so wichtiger als die heutige jüngere Generation noch nicht einmal geboren war als das Konzil vor mehr als 40 Jahren zu Ende ging. Die Botschaft des Konzils muß daher immer wieder neu an die jeweilige junge Generation weitergegeben werden. Darum ist die Überwindung des Antisemitismus und die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften nicht auf einen Schlag möglich, sie ist eine bleibende und eine generationenübergreifende Aufgabe der Erziehung. Alarmierende Zeichen eines neu aufkommenden Antisemitismus haben gezeigt, daß auch in Zukunft noch viele Anstrengungen notwendig sein werden, um die konziliare Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
Aus diesem Grund hat Papst Paul VI. am 22. Oktober 1974 die „Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum“ als eigene, aber mit dem „Sekretariat (heute dem Rat) für die Förderung der Einheit der Christen“ verbundene Einrichtung begründet. Ihr erster Präsident war der niederländische Kardinal Jan Willebrands, der von 1969-1989 als Nachfolger von Kardinal Bea Präsident des Einheitssekretariats war.
Die Kommission konnte eine Reihe hilfreicher Dokumente veröffentlichen: „Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung ,Nostra Aetate’ Artikel 4“ (1974); „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und des Judentum in Predigt und Katechese der katholischen Kirche“ (1985) und schließlich das wichtigste Dokument „Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah“ (1998).
Dokumente sind wichtig, aber sie sind nicht alles. Dokumente können zu toten Buchstaben werden, wenn sie nicht in persönlichen Begegnungen von Angesicht zu Angesicht umgesetzt werden. Von vielen Dokumenten hat man zudem den Eindruck, daß sie nur für die Bücherregale und als Material für künftige Doktordissertationen produziert werden. So stand für unsere Kommission von Anfang an nicht die Publikation von Papieren sondern die Begegnung mit leibhaftigen Menschen im Vordergrund. Viele persönliche Begegnungen mit einzelnen jüdischen Vertretern, Rabbinern, Theologen, Diplomaten, Politikern und regelmäßige institutionelle Begegnungen mit jüdischen Organisationen wurden darum eingeleitet. Gelegentlich waren sie – wie könnte es anders sein – konfliktreich, meist aber, und in letzter Zeit zunehmend, verliefen sie freundlich.
Ich erwähne hier nur das International Jewish Commitee on Interreligious Consultations (IJCIC), das mit unserer Kommission zusammen das International Catholic-Jewish Liaison Committee (ILC) bildet. Während der Dialog zunächst vor allem in Europa und Nordamerika stattfand, wo sich sehr viele Einrichtungen befinden, die sich dem jüdisch-christlichen Dialog widmen, steht neuerdings auch Lateinamerika im Mittelpunkt. Im Jahr 2001 fand die Tagung des International Council of Christians and Jews (ICCJ) in Montevideo (Uruguay) statt, und das letzte, sehr positiv verlaufene Treffen des International Catholic-Jewish Liaison Committee (ILC) fand Anfang Juli 2004 in Buenos Aires statt, und bildete mit der Erklärung zu Gerechtigkeit und Barmherzigkeit den bisherigen Höhepunkt unserer Beziehungen. Die nächste Begegnung soll vom 4.-7. November dieses Jahres in Kapstadt in Südafrika stattfinden.
Es wäre freilich eine Illusion zu meinen, man könne alles von Rom aus und auf der höchsten Ebene tun. Die katholische Kirche existiert „in und aus Ortskirchen“, welche jeweils ihre eigene Verantwortung haben. So haben nach dem Konzil viele Bischofskonferenzen eigene Kommissionen für den Dialog mit dem Judentum eingerichtet und wichtige Erklärungen veröffentlicht. Von besonderer Bedeutung sind die nordamerikanische, die französische und die deutsche Bischofskonferenz, außerdem nationale und regionale Arbeitsgemeinschaften, Gesprächskreise und Aktionsgruppen, in Deutschland vor allem der Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.(6) Auf evangelischer Seite sind die Stellungnahmen des Ökumenischen Rates der Kirchen, der konfessionellen Weltbünde, vieler Synoden, Ausschüsse und anderer Gruppierungen zu nennen. Nicht unerwähnt sollen auch die Gespräche mit Vertretern der orthodoxen Kirchen bleiben. Die Sammlung aller dieser Texte umfasst allein bis zum Jahr 2000 zwei dicke Bände von insgesamt 1782 Seiten.
Ich möchte vor allem die Beziehungen zum Judentum in Israel hervorheben. Hier waren die beiden Besuche von Papst Paul VI. (1964) und Johannes Paul II. (2000) wichtig. 1993/94 kam es zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel, der ein Grundlagenvertrag vorausging. Die katholische Kirche anerkennt damit in aller Form das Existenzrecht Israels und widerspricht mit dieser Position neuerlich wieder laut gewordenen völlig inakzeptablen Polemiken und Drohungen. Sie anerkennt gleichzeitig das Recht der Palästinenser und arbeitet für eine friedliche Lösung des Konflikts, der den berechtigten Anliegen beider Seiten gerecht wird. Im letzten Jahrzehnt erweisen sich die diplomatischen Beziehungen stark genug um den Belastungen durch den israelisch-palästinensischen Konflikt standzuhalten.
Trotz dieser Belastungen war es möglich, im Jahr 2002 eine offizielle Dialoggruppe in Israel selbst zu etablieren; sie wird aus vom Großrabbinat berufenen Rabbinern und Vertretern des Hl. Stuhls gebildet. Die Gespräche finden in einer vorzüglichen Atmosphäre abwechselnd in Jerusalem und Rom (bzw. in Grottaferrata bei Rom) statt. Sie haben eine Reihe von gemeinsamen Erklärungen hervorgebracht: über die Heiligkeit des Lebens, die Werte der Familie, die Bedeutung der gemeinsamen heiligen Schriften für die gegenwärtige Gesellschaft und die Erziehung der kommenden Generationen sowie über soziale Gerechtigkeit und ethisches Verhalten und neuerdings über die Achtung vor der Würde des Menschen am Ende des Lebens (Euthanasie u.a.). Daneben gibt es – wie ich bei einem Besuch in Israel vor einigen Monaten feststellen konnte, im heiligen Land selbst viele Gesprächsgruppen, viel mehr als allgemein bekannt ist und auch mir selbst bisher bekannt war.
Der schwierigste Punkt des Dialogs war in den letzten Jahrzehnten das Gespräch über die Shoah. Sie war eine Ungeheuerlichkeit von bisher beispiellosem Ausmaß, ein Genozid mitten in Europa mit seiner Jahrhunderte alten christlich geprägten Kultur. Das wirft viele Fragen auf und am Ende bleibt man sprachlos. Für die Juden wurde die Erinnerung an die Shoah zu einem gemeinsamen Bezugspunkt ihrer Identität. Für die Christen wurde sie Gegenstand der Beschämung und einer tiefreichenden historischen, moralischen und theologischen Reflexion.
Nachdem verschiedene Bischofskonferenzen Erklärungen publiziert hatten, griff auch unsere Kommission die Herausforderung auf und veröffentlichte nach manchen internen Kontroversen das Dokument: Wir erinnern. Eine Reflexion über die Shoah (1998). Unmissverständlich wurde der Mord an Millionen jüdischer Frauen, Kindern und Männern als Verbrechen und als unaussprechliche Tragödie bezeichnet, dem die Christen nicht den Widerstand entgegen gesetzt haben, den man von Nachfolgern Christi eigentlich hätte erwarten können. Die Erklärung drückt ihr Bedauern über dieses Versagen aus. Sie verwirft den Antisemitismus, bezeichnet ihn als typisch moderne, neuheidnische Ideologie und unterscheidet ihn damit vom theologischen Antijudaismus und den Gefühlen des Misstrauens und der Feindseligkeit, die er geweckt hat. Diese Unterscheidung hindert nicht, daß beide Haltungen eindeutig verworfen werden. Schließlich mündet die Reue über das Vergangene in die Verpflichtung, gemeinsam eine neue Zukunft zu bauen.
Der Text fand Anerkennung aber auch Kritik. Der jüdischen Seite gingen manche Aussagen nicht weit genug. Es ist nicht die Absicht, hier nochmals auf die Argumente pro und contra einzugehen. Ich wiederhole lediglich die Worte meines Vorgängers, Kardinal Edward Cassidy (1989-2001), der sagte: „Dies ist ein erstes, aber kein letztes Wort.“ In der Tat, angesichts einer solchen Ungeheuerlichkeit kann niemand für sich in Anspruch nehmen, das letzte Wort zu sprechen. Aus Respekt vor den Opfern wie vor dem Geheimnis des verborgenen Gottes müssen wir am Ende schweigend verstummen. Der Allmächtige allein kann das letzte Wort sprechen; er wird es tun am Ende der Zeit.
Das entbindet uns nicht von der Aufgabe, schon heute das zu tun, was wir tun können, um in Zukunft eine solche Katastrophe zu verhindern. Es gilt die geschichtlichen Umstände zu erforschen, die das Verbrechen möglich gemacht haben und die Erinnerung an das Geschehene als Belehrung für die Zukunft wach zu halten; es gilt soweit das für Menschen möglich ist, aus der Vergangenheit zu lernen und das Gelernte für den Aufbau einer besseren gemeinsamen Zukunft zu nutzen.
In dieser Hinsicht hat sich in den letzten 40 Jahren im jüdisch-christlichen Verhältnis vieles zum Positiven hin bewegt. Das wurde besonders anlässlich der bewegenden Feiern zum 40-jährigen Jubiläum von Nostra Aetate deutlich: in San Paolo und Washington, in London, Brüssel, Aachen, Rom und an vielen anderen Orten, nicht zuletzt in Jerusalem. Viele persönliche Freundschaften sind entstanden; praktische Zusammenarbeit wurde aufgebaut, und wo neue Zeichen des Antisemitismus auftauchen, da stehen heute Christen an der Seite von Juden, wie umgekehrt einflussreiche jüdische Gruppierungen inzwischen Christen helfen, wo diese bedrängt werden.
V. Künftige Aufgaben und Herausforderungen
Trotz aller erfreulichen Fortschritte müssen wir sagen: Auch nach 40 Jahren stehen wir noch immer am Anfang. Im folgenden möchte ich auf drei Komplexe künftiger Herausforderungen und Aufgaben eingehen.(7)
An erster Stelle möchte ich die historischen Probleme nennen. Sie beziehen sich auf unsere gemeinsame, meist schwierig verlaufene Geschichte. Es gab freilich neben den bekannten dunklen Zeiten auch Perioden guten oder zumindest erträglichen Neben- und Miteinanders. Ich war sehr erfreut, als ich bei einem Gespräch mit Studierenden des entsprechenden Instituts an der Hebrew University in Jerusalem erfuhr, dass diese in ihren Doktorarbeiten eher die positiven Aspekte studieren, weil sie überzeugt sind, dass gerade ihre Kenntnis nützlich ist als Exempel für heute und morgen.
Der Einfluss und die Bedeutung des Judentums für das Christentum, seine Geschichte, seine Liturgie, für die biblischen Studien, aber auch für Literatur und Philosophie sind mehr oder weniger bekannt. Weniger bekannt ist der Einfluss, den das Christentum auf das Judentum ausübte. So weiß man heute, daß nicht nur die christliche Liturgie von der jüdischen sondern auch die des späteren Judentums von der christlichen beeinflusst worden ist. Hier harrt noch vieles der historischen Aufarbeitung.
Zum Thema der Shoah ist historisch schon viel gearbeitet worden. Die Vatikanischen Archive dazu sind bisher nur bis 1939 und auch da nur was die Korrespondenz mit der damaligen deutschen Reichsregierung angeht zugänglich. Die Öffnung sämtlicher anderer Bestände ist beschlossene Sache; das setzt die vorhergehende Ordnung und Registrierung vieler tausender Dokumente voraus, an der zügig gearbeitet wird. Die katholische Kirche fürchtet die historische Wahrheit nicht. Doch auch unabhängig von der Öffnung der Archive wird es bis zu einer gemeinsamen fairen historischen Beurteilung der Rolle der Kirche, vor allem der Rolle von Papst Pius XII. wohl noch ein längerer Weg sein. Die Kenntnis der Fakten ist ja nur die eine Seite, ihre Einordnung und Interpretation eine andere; darüber werden die Meinungen wohl immer auseinander gehen. Die Linie verläuft freilich nicht einfach zwischen jüdischen und christlichen bzw. katholischen Historikern, sondern auch quer durch beide Gruppen.
Zur historischen Forschung muss die Vermittlung der historischen Erkenntnisse kommen. Wir kennen einander und unsere Geschichte viel zu wenig. Diese Ignoranz ist der Wurzelboden vieler Vorurteile. Hier ist noch viel Bildungsarbeit zu leisten. Aus diesem Grund überlegt man gegenwärtig, wie in der Ausbildung von künftigen Priestern und von künftigen Rabbinern Basiskenntnisse über die jeweils andere Seite vermittelt werden können. Wichtig ist auch, dafür zu sorgen daß die Schulbücher, aus denen unsere Kinder und Jugendlichen die gemeinsame Geschichte lernen, dem erreichten historischen Standard entsprechen. In der Schule und in der Ausbildung müssen wir anfangen um die bestehenden Vorurteile zu überwinden; dazu gehört der Antisemitismus, aber auch den Antikatholizismus, den man schon als das letzte erlaubte Vorurteil bezeichnet hat.
Neben historischen Problemen sind theologische Probleme zu nennen. Juden und Christen haben Vieles und Wesentliches gemeinsam: Jesus, seine Mutter Maria, die Apostel waren Juden. Die allermeisten Schriften des Alten Testaments bzw. des Tanach sind uns gemeinsam. Gemeinsam ist uns der Glaube an den einen Gott, das Verständnis der Welt als Gottes Schöpfung, die Heiligkeit des Lebens und die Würde der menschlichen Person, die Zehn Gebote, die messianische Hoffnung und vieles andere. In den letzten 40 Jahren ist vieles geschehen, um diese tiefe Gemeinsamkeit wieder bewusst zu machen.
Das hat nichts damit zu tun, daß man Unterschiede übersieht oder herunterspielt. Es gibt Unterschiede, die sowohl für die jüdische wie für die christliche Existenz konstitutiv sind. So können wir in der Trinitätslehre und in der Christologie bei gutem Willen zwar Missverständnisse und polemische Verzeichnungen überwinden, aber trotz des Interesses, das heute auch viele jüdische Exegeten der Person und Botschaft Jesu entgegenbringen,(8) bleibt in der Frage der christlichen Botschaft von Jesus als dem Christus d.h. Messias und dem Sohn Gottes ein nicht aufhebbarer Unterschied.
Heute kommen zu den bekannten traditionellen Problemen neue Fragen hinzu. Die Shoah hat das Theodizee-Problem, also die Frage, wie Gott etwas so Unfassbares wie den Holocaust zulassen konnte, verschärft. Die Nach-Auschwitz-Theologie hat sich diesem rational letztlich aporetisch bleibenden Problem zugewandt.(9) Weitere neue Fragen kommen hinzu. Seit dem II. Vatikanischen Konzil hat die christliche Theologie die alte Substitutionstheorie aufgegeben und hält an der bleibenden Gültigkeit des Bundes Gottes mit dem jüdischen Volk fest. Sofort stellt sich dann die Frage, wie sich der alte und der neue Bund, oder wie manche sagen: der erste und der zweite Bund verhalten.(10) Handelt es sich um zwei Bünde oder um einen Bund, oder reicht diese Alternative überhaupt aus, um das komplexe Verhältnis zwischen beiden zu beschrieben?
Im Hintergrund dieser Frage steht das noch viel grundsätzlichere Problem, wie ist Weitergeltung des alten Bundes mit der für den neuen Bund grundlegenden universalen Heilsbedeutung Jesu Christi vereinbar (vgl. Röm 3,21-31)? Hält man an der universalen Heilsbedeutung Jesu Christi fest, dann stellt sich sofort das äußerst sensible Problem der Judenmission. Im Unterschied zu manchen evangelikalen Gruppierungen kennt die katholische und die offizielle evangelische Position keine organisierte und gezielte Judenmission.(11) Doch in allen diesen Fragen sind wir noch weit von einer allgemein befriedigenden Antwort entfernt. Trotz guter Ansätze gibt es gegenwärtig noch keine umfassende allgemein überzeugende christliche Theologie des Judentums.(12)
Umgekehrt gilt dasselbe. Trotz interessanter Ansätze etwa in Franz Rosenzweigs „Der Stern der Erlösung“ (1929) (13), Leo Baecks Auseinandersetzung mit Harnacks „Wesen des Christentums“ (1900) (14) und der auf die neuere christliche Entwicklung reagierenden im Jahr 2000 in der New York Times und in anderen Zeitungen veröffentlichten Erklärung Dabru Emet (Redet die Wahrheit) (15), gibt es im Augenblick keine umfassende jüdische Theologie des Christentums. Oft wird gesagt, daß es eine solche gar nicht geben könne; denn zwischen Judentum und Christentum bestehe ein asymmetrisches Verhältnis, wonach man zwar das Christentum nicht ohne das Judentum, wohl aber das Judentum ohne das Christentum definieren könne, das Christentum also für das Judentum keine diesem immanente theologische Herausforderung darstelle.(16) Die Frage ist jedoch, ob sich das Judentum, gerade wenn es sich selbst treu bleibt, isolieren und sich auf sich selbst zurückziehen kann. Sowohl im jüdischen Schöpfungsglauben wie in der Verheißung an Abraham, Segen für „alle Geschlechter der Erde“ zu sein (Gen 12,2 f; vgl. Jes 42,6; 49,6) drückt sich ein dem Judentum eigener Universalismus aus, der notwendig zur Begegnung mit dem universalen Anspruch des Christentum führt.(17)
Die Frage nach Universalität und Partikularität stellt sich nach der Staatswerdung Israels in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu. Das Problem ist nicht die staatliche Anerkennung Israels; sie ist heute in den großen Kirchen unumstritten. Die Frage ist vielmehr welche theologische Bedeutung dem „Land“ (ha-erez) zukommt und wie die biblischen Landverheißungen (Gen 12,1-3) in diesem Zusammenhang zu interpretieren sind. Während für Christen das „Heilige Land“ eine geistliche Bedeutung hat, ist für den Großteil des heutigen Judentums das „Land“ in einem konkreten politischen Sinn Teil ihres Selbstverständnisses geworden.(18) Die Brisanz dieser Frage ist offensichtlich.
Juden und Christen sind also bei allem, was sie gemeinsam haben, in Überzeugungen, welche für ihre jeweilige Identität konstitutiv sind, verschieden. Deshalb dürfen wir an den jüdisch-christlichen Dialog nicht mit naiven, einseitig auf Harmonie bedachten Erwartungen herangehen. Man muß sich vor der Versuchung hüten, im Dialog den anderen vereinnahmen zu wollen. Der jüdisch-christliche Dialog ist ein schwieriger Dialog, und er wird ein schwieriger Dialog bleiben. Doch Unterschiede dürfen kein Vorwand für Feindschaft sein; wir müssen uns in unserer jeweiligen Andersheit gegenseitig achten und anerkennen. Nur so sind wir ehrliche Dialogpartner. Nur so können wir voneinander lernen. Nur so können wir füreinander eine bleibende Herausforderung sein.
Nach den historischen und den systematisch-theologischen Problemen möchte ich in einem letzten Punkt auf eine dritte Herausforderung, nämlich auf die praktische Zusammenarbeit eingehen. Hier tut sich ein weites Feld auf, in dem wir vor zwei Jahren in Buenos Aires einen wichtigen Schritt weiter gekommen sind. Vertreter des Jüdischen Weltkongresses hatten zuvor die Erfahrung von Kindern gemacht, welche wegen der schweren ökonomischen Krise in Argentinien an Hunger und Unterernährung leiden. In Zusammenarbeit mit der argentinischen Caritas konnte sehr schnell ein Hilfsprogramm auf den Weg gebracht werden, dessen vorzügliches Funktionieren wir bei dem genannten Kongress feststellen konnten.
Da an anderen Notsituationen in der Welt kein Mangel ist, haben wir für die Zukunft eine weitere derartige Zusammenarbeit beschlossen. Bei dem bereits genannten Kongress in Kapstadt wird es unter dem Thema in Zusammenarbeit mit der südafrikanischen Bischofskonferenz um ein gemeinsames Aidsprogramm gehen. Es geht dabei nicht um utopische Weltverbesserungsprogramme. Es geht um das, was die rabbinische Tradition als tikkum olam, als Heilung der Welt bezeichnet, wobei gilt: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“
Der jüdisch-christliche Dialog hat also nicht nur theoretische sondern auch praktische Fortschritte gemacht; er ist nicht nur allein rückwärtsgewandt; er will sich ebenso und noch mehr den gegenwärtigen und den zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen stellen. Juden und Christen, die sich so lange feindlich oder indifferent zueinander verhalten haben, können heute zum Wohl der ganzen Menschheit in sozialer und karitativer Zusammenarbeit Verbündete werden. Dazu gehört inzwischen auch, daß wir in Kapstadt darüber diskutieren werden, den jüdisch-christlichen Dialog derart zu ergänzen, dass Muslime daran beteiligt werden können.
Verbündete können Juden und Christen auch sein, indem sie gemeinsam für gemeinsame Werte eintreten, die in unserer weithin säkularisierten Gesellschaft in Frage gestellt sind. Wir haben ein gemeinsames Bild von der menschlichen Person, ihrer je einmaligen Würde und ihrer Verantwortung vor Gott, uns verbindet das Verständnis der Welt als Schöpfung, die Werte der Familie, das Verständnis von Gerechtigkeit und Frieden und die Hoffnung auf die endgültige Rettung und Vollendung. Das ist ein reiches gemeinsames Erbe, das die Menschheit in ihrer gegenwärtigen Orientierungskrise dringend braucht, und das, wenn wir es gemeinsam einbringen, um so überzeugender und kraftvoller wirksam werden kann. Wir brauchen einander und die Welt braucht uns.
Unser gemeinsames Erbe sollte uns Verpflichtung sein, gemeinsame Antworten auf gemeinsame gegenwärtige Herausforderungen zu geben: die Heiligkeit des Lebens, der Schutz der Familie, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt, das Problem des Terrorismus, die Bewahrung der Schöpfung und vieles andere mehr. Nach der Tragödie der Shoah sind Juden und Christen gemeinsam aufgerufen, Verantwortung dafür zu übernehmen, daß eine ähnliche menschliche Katastrophe sich in Zukunft nie mehr ereignen wird. Wenn uns dies gelingt, dann wird die Abraham, unserem gemeinsamen Vater im Glauben, gegebenen Verheißung wahr: „Du sollst ein Segen sein.“ „Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12, 2 f).
Vor allem können Juden und Christen in einer von so vielen Problemen geschüttelten, von Zukunftsangst geplagten Welt, gemeinsam die Hoffnung hoch halten. Sie können bezeugen, daß trotz geschichtlichem Versagen und geschichtlicher Schuld, trotz Andersheit und Fremdheit Umkehr, Versöhnung, Frieden und Freundschaft möglich sind. Möge deshalb das neue Jahrhundert ein Jahrhundert der Brüderlichkeit zwischen Juden und Christen werden – Schulter an Schulter. Schalom!
ANMERKUNGEN:
1 Vgl. Die Kirchen und das Judentum, hrsg. von H. H. Henrix u.a., 2 Bde., Paderborn-München-Gütersloh 1989. 2001. Juden und Christen, hrsg. im Auftrag des Rates der EKD, 3 Bde., 1975-2000; Neuere katholische Dokumente in: Chiesa ed ebraismo oggi. Percorsi fatti, questioni aperte, ed. N. Hofmann e.a., Roma 2005; Fratelli predeliletti. Chiesa e Popolo ebraico. Documenti e fatti:1965-2005, ed. P .Fumagalli, Milano 2005.
2 Vgl. J. Oesterreicher, in: LThK Vat. II, Bd. 2 (1967) 406-478; R. A. Siebenrock, Herders Theol. Kommentar zum II. Vatikanischen Konzil, Bd. 3, 2005, 595-693.
3 Vgl. St. Schmidt, Augustin Bea. Der Kardinal der Einheit, Graz-Wien-Köln 1989.
4 Vgl. B. L. Sherwin-H. Kasimow (ed.), John Paul II and Interreligious Dialogue, Maryknoll, N.Y. 1999.
5 Vgl. J. Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der eine Bund, Bad Tölz 1998.
6 Wichtig der Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für jüdisch-christliche Begegnung, begründet 1948 von Gertrud Luckner.
7 Vgl. H. Frankemölle (Hrsg.), Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend, Paderborn-Frankfurt a.M. 2001.
8 Zu nennen sind u.a. L. Baeck, J. Isaak, D. Flusser, H. J. Schoeps, J. Klausner, Schalom Ben-Chorin, P. Lapide.
9 Vgl. den Überblick bei J. B.. Metz, Auschwitz II. Theologisch, in: LThK I (1993), 1260 f; ders., (Hrsg.), Landschaft aus Schreien. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz 1995.
10 Vgl. J.T. Pawlikowski, Judentum und Christentum III, in: TRE XVII (1988) 390-403; ders., Reflections on Covenant and Mission, in: Themes in Jewish-Christian Relations, ed. E. Kessler and M. J. Wright, Cambridge (England) 2005, 273-299.
11 Vgl. dazu u.a. die Erklärung des Gesprächskreis “Juden und Christen” “Juden und Christen in Deutschland. Verantwortete Zeitgenossenschaft in pluraler Gesellschaft“ (2005).
12 Beiträge aus dem deutschen Sprachraum u.a.: F. Mussner, Traktat über die Juden, München 1979; N. Lohfink, Das Jüdische am Christentum, Freiburg i. Br. 1987; H. Küng, Das Judentum, München-Zürich 1991; C. Thoma, Das Messiasprojekt. Theologie Jüdisch-christlicher Begegnung, Augsburg 1994; J. Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der eine Bund, Bad Tölz 1998; W. Groß (Hrsg.), Das Judentum – eine bleibende Herausforderung christlicher Identität, Mainz 2001.
13 F. Rosenzweig, Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Haag 1976.
14 Vgl. dazu W. Homolka, Leo Baeck. Jüdisches Denken – Perspektiven für heute, Freiburg i. Br. 2006.
15 Wieder abgedruckt und ausführlich kommentiert in: Christianity in Jewish Terms, ed. T. Frymer-Kensky e.a., Westview Press Boulder, Colorado 2000.
16 R. J. Zwi Werblowsky, Art. Judentum. B: Aus jüdischer Sicht, in: NHThG II (1984) 264—266.
17 Dieser Gesichtspunkt ist wichtig bei Kardinal J.-M. Lustiger, La promesse, Paris 2002.
18 Vgl. Israel and the Holy See. A Catholic View of the State of Israel (Teshuva Institute Papers). The Institute of Judaeo-Christian Studies. Seaton Hall University, South Orange, N.J. 2000.