Erste Begegnung Bischöfe und Rabbinerkonferenzen
09. März 2006
Rede von Landesrabbiner Dr. h.c. Henry G. Brandt bei der ersten Begegnung "Kirchen und Rabbinerkonferenzen" am 09.03.2006 in Berlin
Sehr geehrter Herr Kardinal Kasper,
sehr geehrter Herr Kardinal Lehmann,
sehr geehrter Herr Bischof Huber,
sehr geehrte hohe Würdenträger beider großer Kirchen,
meine lieben verehrten Kollegen,
liebe Kollegen von Vorstand und Präsidium des Deutschen Koordinierungsrates,
liebe Kollegen vom Gesprächskreis Juden und Christen,
liebe Frau Knobloch,
lieber Herr Kramer,
sehr geehrte Damen und Herren,
dieses Ereignis ist für mich persönlich ein sehr bewegendes Ereignis und ich bin voll Dankbarkeit und – wenn ich das so sagen darf – voller Zufriedenheit, dass das Ackern über viele Jahre hinweg nun Früchte getragen hat. Dass wir heute hier so zusammensitzen, ist ein Erlebnis, von dem ich nie geglaubt habe, es erleben zu dürfen und ich danke allen Beteiligten, dass es dennoch zustande gekommen ist!
Ich muss den weiten Horizont, den uns Kardinal Kasper hier aufgezeigt hat, jetzt wieder auf das Wesentliche reduzieren, auf dieses Treffen, auf dieses Land und dieses besondere Ereignis, denn besonderes ist es – und bedeutend auch. Zum ersten Mal, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte, kommt der nach dem Papst ranghöchste Vertreter des Vatikans in Sachen religiöser Beziehung zum Judentum nach Deutschland, um die Rabbiner Deutschlands zu treffen. Hier, an jenem bedeutungsvollen Ort, in Berlin, wo der ganze Horror, der einmalige Holocaust - die Schoa - und damit die unsägliche Tragödie der nationalsozialistischen Tyrannei mit ihren unbezifferbaren Opfern und den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges ihren Ausgang nahmen, hier, wo die Wunden am tiefsten klafften und immer noch klaffen, wo noch heute die Folgen am meisten zu spüren sind. Und zugleich jenem Ort, wo aus jüdischer Sicht die Ruinen der geistigen und spirituellen Herrlichkeit, die einmal war, überall präsent sind. Ja, man muss es sich wirklich ins Bewusstsein rufen, dass dieses Ereignis hier in Berlin stattfindet, gewissermaßen in "Spuckweite" zum Wannsee, wo die Zerstörung des europäischen Judentums, wenn nicht gar des Weltjudentums beschlossen wurde. All dies liegt nur wenige Jahre zurück, ist Teil meiner eigenen Lebzeit, und aus geschichtlicher Warte gesehen eine sehr kurze Zeit.
Dass Sie, Herr Kardinal Kasper, in Begleitung von hohen Würdenträgern der Katholischen und der Evangelischen Kirche nun hierher gekommen sind, um mit den Rabbinern Deutschlands zu sprechen und sich mit uns auszutauschen, ist wahrlich etwas Besonders. Denn bisher – es wurde schon erwähnt – war das Gespräch, wenn es überhaupt stattfand, ein Gespräch zwischen den verschiedenen geistlichen Würdenträgern und den säkularen Vertretern des Judentums, Mitgliedern des Zentralrates der Juden in Deutschland, selbst wenn es um Themen ging, die Theologie und Religion betrafen, wo die Gesprächspartner eigentlich die religiösen Vertreter des Judentums, die Rabbiner, hätten sein sollen. Dass es heute die Rabbiner sind, die ihren rechtmäßigen Platz in religiösen und theologischen Fragen einnehmen und dies – wie ich hoffe – auch in Zukunft tun werden, auch das ist ein Durchbruch, den wir heute feiern können. Das Rabbinat Deutschlands wird endlich als präsent und zuständig wahrgenommen.
Aber über dieses Rabbinat und über die Gemeinden, die wir betreuen, muss ich Ihnen noch einiges erzählen und dabei möchte ich brutal offen sein, damit Sie, meine Damen und Herren, erkennen, womit wir konfrontiert sind und warum die Rabbiner in Deutschland – von deutschen Rabbinern will ich gar nicht reden – weder qualitativ noch quantitativ die Gesprächspartner sind, die Sie sich erhoffen und verdienen. Aber wir müssen Realisten sein und die Situation ist eben, wie sie ist.
Diese Begegnung kann man, so glaube ich, in unserem Kontext als historisch bezeichnen. Das, was wir heute miteinander besprochen haben und jetzt noch sprechen werden, wird nicht als Paukenschlag in die Historie und nicht als die 'große Deklaration von Berlin' in die Geschichtsbücher eingehen, aber dass sie stattgefunden hat, dass wir uns hier getroffen haben – Vertreter des Vatikans, der katholischen Kirche, der evangelischen Kirche und die Rabbiner Deutschlands –, so kurz nach der Schoa und so lange nach 2000 Jahren der "Vergegnung" (Martin Buber) ist bestimmt wenigstens eine Fußnote in der Geschichte des Zeitgeschehens wert. Es ist ein weiterer Schritt, ich hoffe ein großer Schritt auf dem Weg zur Annäherung, zur Aussöhnung, ein Schritt, den ich, wie die meisten von uns, nicht für möglich gehalten hätten. In Ihrer Ansprache, Herr Kardinal, haben Sie die Asymmetrien im Bereich der Theologien erwähnt und haben diese Asymmetrien in Frage gestellt – und das mit Recht. In anderen Bereichen jedoch, wenn auch nicht im Bereich der Theologie, kann man, muss man von Ungleichmässigkeiten sprechen. Ich denke insbesondere an eine Asymmetrie der Möglichkeiten, wie sie hier in Deutschland und im Gespräch zwischen den religiösen Vertretern der Kirchen und der jüdischen Gemeinschaft vorhanden sind.
Uns mangelt es nämlich an der Zahl der Mitglieder und den Rabbinern mitunter an den nötigen Voraussetzungen, an der Zeit und den Möglichkeiten, uns intensiv und ausführlich dem Dialog zu widmen. Das hat gewiss nichts mit fehlendem guten Willen zu tun, sondern schlicht mit den beschränkten Gegebenheiten, mit denen wir im Alltag konfrontiert sind. Ich rufe in Erinnerung, dass nur sehr wenige Juden in diesem Land überlebt haben und die jüdischen Gemeinden, die sich nach dem Krieg wieder formierten, meistens aus Menschen bestanden, deren Wurzeln nicht in Deutschland lagen. Leo Baeck hat dem Todesurteil über das deutsche Judentum bereits 1933 Ausdruck gegeben, indem er sagte, dass die tausendjährige Geschichte der Juden in Deutschland an ihr Ende gekommen sei. Zumindest was die Zukunft betrifft, hoffe ich, dass er sich irrte. Aber nach dem Krieg erschien dies offensichtlich. Es waren Überlebende, Gerettete, aber alles versehrte Menschen, die wieder jüdische Gemeinden gründeten. Und diese Gemeinden hatten eine sehr geringe Zahl von Mitgliedern. Gemeinden wie beispielsweise Düsseldorf oder Hamburg mit 1300 oder 1500 Mitgliedern wurden schon als Großgemeinden angesehen, von Berlin, München und Frankfurt abgesehen. Aber viele der kleineren jüdischen Gemeinden in diesem Land – und so viele waren es auch nicht – konnten noch vor 20 Jahren an den Fingern einer Hand abzählen, wie viele Jahre ihrer Existenz sie noch vor sich hatten. Man konnte berechnen, wann man die Tora-Rollen an die größeren Gemeinden wird abgeben müssen, um dann die Tore, eines nach dem anderen endgültig zu schließen.
Das war kein erfundenes Horror-Szenario, das war die raue Wirklichkeit. Ich habe es selbst erlebt. Die Prognosen waren düster. Und dann geschah ein Wunder. Ich bezeichne es bewusst als Wunder, dass im Zuge von Perestroika, Glasnost und dem Fall der Berliner Mauer durch die Zuwanderung von Brüdern und Schwestern aus der ehemaligen Sowjetunion unsere Gemeinden neues Leben erhalten haben. Heute, keine zwanzig Jahre später, gibt es keine jüdische Gemeinde mehr in Deutschland, auch nicht die kleineren, die an Torschluss denken, sondern sie beschäftigen sich mit Neubau, Erweiterung, Verbesserung der Infrastruktur und wie die vielfältigen neuen Aufgaben bewältigt werden können. Und das ist ein Wunder! Ein Wunder ist etwas, das nicht voraussehbar ist und ein Resultat zeitigt, das zur rechten Zeit positiv und segensreich ist. Aber wie so oft, kam auch dieses Wunder nicht kostenlos ins Haus. Wir freuten uns und jauchzten ob der Ankunft unserer Brüder und Schwestern aus der ehemaligen Sowjetunion, hätten uns jedoch noch mehr gefreut, wenn sie mit etwas mehr jüdischem Gepäck gekommen wären. Das ist beileibe keine Geringschätzung, denn jeder der mich kennt weiß, dass mir dies fern läge. Es ist einfach wieder nur eine Feststellung von Tatsachen. Nicht nach einer Generation, nein, nach mehreren Generationen, die seit der russischen Revolution dem Atheismus ausgeliefert waren, war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch als Juden existierten. In ihren Pässen stand zwar vermerkt „Jude“, aber das bezog sich auf ihre Ethnie und nicht auf ihre Religion. Und nun kamen sie zu uns, zu Gemeinden, wie ich sie Ihnen vorher beschrieben habe, mit ihren kleinen bescheidenen Infrastrukturen, und sie kamen ohne jüdische Bildung, jüdisches Wissen und zumeist ohne Glauben. Als ich einmal einen Vortrag über die Bibel hielt, begann ich mit den Worten: "Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde...". Alle wussten, was Anfang ist, mit Himmel und der Erde konnten sie auch etwas anfangen, aber was ist Gott? Dabei ist der Bildungsstand dieser Menschen in allen anderen Bereichen hoch, vielleicht sogar höher als derer, die sie hier empfangen haben. Aber man konnte nicht einfach Geschichten aus der Bibel erzählen, sondern musste irgendwie rational und verständlich erklären, was es mit Gott auf sich hat. Versuchen Sie das mal, Herr Kardinal!
Aber um das Rabbinat in Deutschland war es vor der Zuwanderung nicht weniger schlecht bestellt wie um die Gemeinden. Das Überleben war ja nicht vorauszusehen, im Gegenteil, und so waren auch keine Ausbildungsstätten geschaffen worden, an denen Rabbiner hätten ausgebildet werden können. Als nun unsere neuen Gemeindemitglieder die Säle füllten, gab es fast keine Rabbiner, die sie betreuen konnten. Wir hatten, vielleicht verständlicherweise, nicht vorgesorgt. Ich glaube, einige unserer Funktionäre, die damals schon am Ruder waren, fassen sich heute an die Nase und sagen: „Da haben wir uns aber gewaltig vertan ...“. Das können Sie ruhig weitergeben, liebe Frau Knobloch.
Und auch heute noch – und das ist wahrscheinlich die noch größere Sünde – gibt es kein Ausbildungsinstitut für Rabbiner, sieht man von dem in den letzten Jahren gegründeten Abraham-Geiger-Kolleg ab, dessen Früchte wir noch erwarten. Immerhin gibt es jetzt dort wieder die Möglichkeit in Deutschland liberale Rabbiner auszubilden, wobei ich glaube, dass eine weitere Ausbildungsstätte für das allgemeine Rabbinat noch aussteht. Also wo nehmen wir unsere Rabbiner her? Viele meiner geschätzten Kollegen, die meisten sind hier anwesend, kamen aus dem Ausland. Es ging gar nicht anders. Aber die, die aus dem Ausland kamen – und ich wollte ja brutal offen sein – hatten wenig Ahnung von der Komplexität der Situation, in der sich die jüdischen Menschen, die jüdischen Gemeinden hier in Deutschland befinden, z.B. von der Gemeindestruktur, diesem fast einmaligen Konzept der "Einheitsgemeinden", wie wir sie in Deutschland haben. Nicht wenige hatten Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache und insgesamt mit dem kulturellen Hintergrund hierzulande, insbesondere den Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten, die mit dem Erbe der Schoa verbunden sind. Und sie konnten auch nichts oder nur wenig wissen, von den alten Traditionen, die hier einmal vor dem Krieg herrschten, und die es allemal zu respektieren gilt. Und alle zusammen sind wir konfrontiert mit jener minimalen Infrastruktur, die ich vorher beschrieben habe.
Die Integration und Aufnahme der Zuwanderer und deren jüdische Bildung waren und sind für uns momentan im Judentum die ersten Prioritäten. Sie werden deshalb verstehen, warum der christlich-jüdische Dialog, das interreligiöse Gespräch bei den meisten Rabbinern nicht jene hervorragende Stellung einnehmen kann, die es vielleicht verdient hätte. Das ist einfach Realität.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unser Doyen, Herr Prof. Ernst-Ludwig Ehrlich, hat einmal gesagt, „unsere Geschichte trennt uns mehr als unser Glaube“. Wenn dem so ist, dann wird die Aussöhnung, die Annäherung, die wir hier in Deutschland einüben, wahrscheinlich zum Prüfstein schlechthin, könnte zum Modell für die Lösung aller Konflikte werden. Denn wenn wir Juden und Christen gemeinsam das hier schaffen, dann gibt es wohl keinen Konflikt, der nicht bereinigt werden kann. Denn diese Auseinandersetzung schwelt schon seit fast 2000 Jahren und ist tief in die Wurzeln der Seelen unserer Völker eingegraben. Das Erreichte ist aber noch nicht gesichert und wir merken beinahe jeden Tag, dass es gefährdet ist.
Der neue Antijudaismus – ich möchte nicht sagen Antisemitismus, denn das wäre vom Begriff her falsch – der neue Antijudaismus samt den Resten des alten wird zusätzlich geschürt von einem virulenten Judenhass seitens islamistischer Extremisten, die leider ein weites und fruchtbares Feld im islamischen Kontext finden. Wir haben dessen Auswüchse erst jüngst in Frankreich erlebt. Und wir spielten "Vogel Strauß", wenn wir dächten, dass es in Deutschland unter der Oberfläche so viel anders aussähe, obwohl es Gott sei Dank bislang noch keine gewalttätigen Vorkommnisse zu berichten gab. Es handelt sich hier um keinen Konflikt der Religionen, obwohl man immer wieder versucht, das religiöse Element mit einzubringen, als wäre es der Islam schlechthin, als wäre es der Wille des Propheten, so als wäre das alles für den Islam konstitutiv. Nein, hier handelt es sich vielmehr um einen handfesten politischen und soziologisch begründeten Konflikt, gespeist natürlich durch die Konfrontationen zwischen Israel und Palästina, aber auch von all den anderen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten, sei es der Irak, der Iran oder auch die Beziehungen mit und unter den arabischen Staaten.
Die Extremisten von dort und auch Extremisten anderswo – und wir hier haben auch unsere meschuggene Peripherie – suchen die Auseinandersetzung in ihrem Streben nach Hegemonie und durch ihren Willen, den Kampf der Kulturen herauf zu beschwören, denn noch findet er ja nicht statt. Ich glaube auch, das ist ein Stück Realität. Hier sind unsere neuen Freunde in den christlichen Kirchen gefragt, es ernst mit ihrer dezidierten Ablehnung des Antisemitismus und Antijudaismus zu meinen und – da es einmal mehr die Juden sind, die im Brennpunkt des Hasses stehen – Schulter an Schulter, wie Sie Herr Kardinal es ausdrücken, mit uns zu stehen, wenn es wirklich Ernst wird. Und ich habe, in meinen Optimismus, das Gefühl, dass Sie uns dieses Mal nicht allein lassen würden.
Wenn wir allerdings schon über Palästina und Israel sprechen, dann möchte ich in Erinnerung rufen – und das gilt auch für Juden hier in Deutschland, woher auch immer sie hergekommen sind –, dass die Verbundenheit mit dem Land Israel für unser jüdisches Selbstbild konstitutiv ist. Von Abraham her stammt die Landverheissung, erneuert durch Moses und die Propheten. Wer die Verheissung des Landes aus der Bibel herausschneiden will, muss aus der Bibel Konfetti machen, denn so oft ist von ihr die Rede. Das bedeutet nicht notwendigerweise „Right or wrong my country“, es bedeutet nicht notwendigerweise, dass wir einverstanden sein müssen dem, was israelische Politik oder Strategie ausmacht. Wir nehmen uns das Recht und wir haben auch das Recht, unsere Kritik rückhaltlos anzubringen. Aber was die Existenz und die Sicherheit Israels angeht so sind diese für uns unverhandelbar. Wir stehen wie ein Mann dazu und wir definieren auch unsere Freunde anhand dieses Kriteriums. Und deshalb haben wir mit Genugtuung und Freude registriert, wie der Vatikan seinerzeit die diplomatischen Beziehungen mit Israel aufgenommen hat und ebenso die beeindruckenden Besuche der Päpste, es war ja mehr als einer, im Staate Israel. Besonders bewegend war für mich der letzte Besuch von Papst Johannes Paul II. in Israel, den man am Fernsehen verfolgen konnte. Man hatte wirklich den Eindruck, dass mit dem Betreten des Heiligen Landes neue Kraft seinen kranken Körper beseelte, sodass er alleine, mit fast jugendlichem Elan zur Westwand, zur Klagemauer gehen konnte, um seinen Zettel dort anzubringen. Man merkte, dies war für ihn keine Formalität, es war fast so, als hätte ein Stück Schechina, ein Stück göttliche Einwohnung, ihn auf diesem Weg begleitet. Auch für uns Juden war dies ein immens bewegendes Ereignis, wie eigentlich vieles in seinem Pontifikat.
Sehr verehrter Herr Kardinal, wir haben Nostra Aetate gelesen, und wir haben auch mit Interesse und Sympathie die Pontifikate der bereits erwähnten Päpste verfolgt. Ehrlich gesagt, ich persönlich habe eine besondere Schwäche für Papst Johannes den XXIII., den "Übergangspapst". Ich habe zweimal in einer jüdischen Gemeinde Kaddisch für eine nichtjüdische Persönlichkeit sagen lassen und gesagt. Die eine war Winston Churchill – ich bin ja ein Kind der Schoa und er repräsentierte für uns den Kampf gegen den Naziterror – und der Zweite war Johannes der XXIII. In seiner Bescheidenheit war er eine große und überzeugende Persönlichkeit. Die Katholische Kirche kann stolz sein, einen solchen Sohn hervorgebracht zu haben. Wir haben mit Genugtuung registriert, dass sich die Katholische Kirche festgelegt hat, dass Gottes Gnadengaben und Verheißungen unabänderlich sind, dass seine Treue ewig währet. Demgemäß steht Gott zu seinem Bund und zur Erwählung Israels, wenn Er auch – nach christlichem Verständnis – die Christen durch den Glauben in diese hineingenommen hat. Dass ich dafür nicht Dank sage, werden Sie mir nicht übel nehmen, denn für das Selbstverständliche sollte man nicht danken müssen, aber ich äußere Genugtuung, dass diese Korrektur in Lehre und Glaube endlich stattgefunden hat. Denn für uns war es immer selbstverständlich, dass der Bund nie gekündigt wurde, fühlten wir uns doch selbst in den schlimmsten Zeiten immer im Bund mit Gott. Nie gekündigt, manchmal schwer zu tragen, und immer präsent. Dass wir das nun gemeinsam so sehen gibt uns, glaube ich, gegenseitig Stärke und Mut für die Zukunft. Das Sündenbekenntnis, das mehrmals ausgesprochen wurde, haben wir ebenfalls registriert. Und als Jude sollte man darauf mit Annahme reagieren. Denn lehrt das Judentum nicht und sprechen wir nicht jedes Mal zu den hohen Feiertagen der Umkehr, zu Rosch HaSchana und Yom Kippur, Umkehr, Gebet und gute Taten ändern das negative Urteil? Wir hoffen nur, dass diese Kehrtwende, dieses fast revolutionäre Neue von Dauer sein wird und man diese Entwicklung wirklich als epochal bezeichnen wird. Hoffentlich werden die zukünftigen Geschichtsbücher es demgemäß berichten.
Herr Kardinal, ich erzähle nichts Neues, wenn ich berichte, dass das Dokument „Wir Erinnern“ (1998) in gewissen jüdischen Kreisen auch Kritik auf sich gezogen hat. Besonders kritisiert wurde das Schweigen über die Schuld der Kirche. Ich teile diese Kritik nicht, denn man kann von der Katholischen Kirche nicht verlangen, dass sie ihr eigenes Selbstverständnis verrät und damit an den eigenen Fundamenten sägt. Schließlich gibt es – wenn ich es richtig verstehe – die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche, die aber die Fehlbarkeit der Kinder, der Menschen, inklusive der Priester nicht ausschließt. Auch von uns Juden sollte nicht verlangt werden, dass wir die Grundsätze unseres Glaubens verraten – und so verlange ich es auch nicht von den Christen. Wir haben schon eine gute Wegstrecke hinter uns, doch gibt es noch Zeit weitere Schritte zu unternehmen, wenn Gottes Weisheit, von der er uns schenken mag, es will.
Sie haben das Thema der Mission angesprochen. Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, aber es muss zur Kenntnis genommen werden, dass besonders hier in Deutschland, die Mission an Juden ein rotes Tuch ist. Insbesondere hier ist jede Idee, jeder Anflug der Möglichkeit einer Judenmission quasi ein feindlicher Akt, eine Fortsetzung der Untaten Hitlers den Juden gegenüber auf anderer Ebene. Das ist hart, aber ehrlich gesagt, denn so wird es von uns empfunden. Deswegen muss die Absage an eine Missionierung von uns Juden radikal und vorbehaltlos sein. Freilich bedeutet dies nicht, dass Christen wie auch Juden nicht verpflichtet wären, unter Bedingungen der Freiheit Zeugnis für ihren Glauben abzulegen. Dazu gehört unweigerlich auch das Risiko, dass das Leben und dieses Zeugnis jemanden dazu motivieren könnte, sozusagen die Seiten zu wechseln. In einer freien Gesellschaft muss dieses Risiko akzeptiert werden. Und Tatbestand ist, dass es eine solche Bewegung in beide Richtungen gibt. Judenmission, das aktiv „Bekehren wollen“, ist allerdings etwas ganz anderes, insbesondere wo es noch mit materiellen Anreizen verbunden ist. Das verbietet sich von selbst – und besonders hier in diesem Land unter den vorhin beschriebenen Umständen.
Eine jüdische Theologie über das Christentum – darüber lässt sich trefflich streiten! Gleichwohl soll das, was Sie, Herr Kardinal, angemahnt haben auch auf offene Ohren stoßen. Was ich hier sagen möchte, ohne dass es bei allen meinen Kollegen Beifall finden mag, ist, dass es an der Zeit ist, dass wir Juden mehr über das Christentum lernen und es uns zum Anliegen machen, herauszufinden, worin das Wesen und das Selbstverständnis des Christentums liegen. Nur so kann ein Dialog geführt werden. Auch hier muss ich allerdings wieder im Blick auf die Zusammensetzung unserer Gemeinden um Nachsicht bitten. Sie müssen erst einmal Judentum, ihre eigene Identität kennenlernen. Aber das bedeutet keineswegs, dass wir nicht wenigstens mental bereit sein sollten, mehr über das Christentum zu erfahren, um mit ihm auf gleicher Augenhöhe und mit adäquatem Wissen sprechen zu können. Wer den Anderen nicht kennt, fürchtet ihn. Und aus Furcht erwächst mitunter Ablehnung und Hass. Die Wahrheit ist, unsere Kinder und wir Erwachsenen, ich spreche jetzt einmal nicht von den Zuwanderern, wissen wenig, fast nichts über das Christentum. Und das muss sich ändern. Denn ich glaube, die frühere, wenn auch verständliche Wagenburgmentalität, die abwehrende Igelstellung, die bestimmt einmal notwendig war, sollten in einer freien demokratischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben. Wir müssen genug Selbstvertrauen in unseren eigenen Glauben und genug Verantwortung in unsere eigene Praxis haben, um ohne Furcht auch die Inhalte anderer Religionsgemeinschaften kennen lernen zu können. Wenn wir das nicht tun, können wir nicht beanspruchen als gleichwertige Gesprächspartner akzeptiert zu werden. Und deshalb ist dies eine Voraussetzung für die gemeinsame Zukunft.
Seit fast 2000 Jahren hat sich ein tiefer Abgrund zwischen Juden und Christen aufgetan. Ströme von Blut und Tränen haben tiefe Furchen in das Gesicht der Geschichte eingegraben – Furchen, die im Lauf der Zeit immer tiefer wurden. Nun, Herr Kardinal, meine lieben christlichen Freunde, ist die Zeit gekommen, eine Brücke über diesen Abgrund zu schlagen – und hier bin ich wieder bei der Asymmetrie. Denn ich muss Ihnen den Auftrag mitgeben, dass Sie die meiste Arbeit an diesem Brückenbau leisten müssen mit Ihren Mitteln und Ihrer großen Zahl. Schauen Sie sich doch die zur Verfügung stehenden Bauleute beiderseits an: Wenn alle christlichen Theologen in Deutschland sich treffen würden, dann bräuchten wir die Hallen der Philharmonie. Wenn alle Pfarrer zusammenkämen, bräuchten wir das Olympiastadion. Wenn Sie aber alle Rabbiner Deutschlands herbei rufen, dann reichen die wenigen Stühle in diesem Saal hier aus. Deshalb, und es ist ein ehrenwerter Auftrag, müssen Sie die größere Last dieses Brückenwerks auf sich nehmen. Sie haben breitere Schultern und mehr Bauleute. Aber wenn die Brücke gebaut ist, dann können alle über sie schreiten und man fragt nicht mehr, wer sie gebaut hat. Wir kommen Ihnen schon ein Stück Wegs entgegen, auch wenn es am Anfang ein bisschen zögerlich sein wird, aber irgendwo werden wir uns treffen und uns als Brüder begrüßen. Dabei sind faule Kompromisse oder Konzessionen nicht gefragt. Die guten Christen sollen gute Christen bleiben – und die guten Juden gute Juden. Nicht gute Christen, gute Juden! Aber ich bitte Sie, ich fordere Sie auf, Geduld und Verständnis aufzubringen und diese schwere geschichtliche Verantwortung anzunehmen. Ja, letztlich erhoffe ich von Ihnen sogar mehr als Zuneigung, Liebe nämlich, Liebe für ihren älteren, aber sehr geschundenen Bruder. Wenn Sie das aufbringen können, dann wird Gott das Bauwerk der Brücke mit seinem Licht erleuchten und sein Angesicht wird uns alle segnen und uns allen bescheren, wonach wir streben, wie Sie es bereits gesagt haben.
Shalom!