Themenheft online 2017: "Nun gehe hin und lerne"
Etgar Keret: „Die sieben guten Jahre – Mein Leben als Vater und Sohn“
Gelesen im Lichte des Jahresthemas
Eva Schulz-Jander
„So dich dein Sohn morgen fragen wird…(Deuteronomium 6,20) oder Und berichte deinem Sohne an jenem Tage und sprich, (Exodus 23,8) lehre es deinem Sohne… wie oft finden wir dies Anweisungen an den Vater in den jüdischen Schriften? Am Seder Abend sind die Fragen des Sohnes und die Antworten des Vaters ein zentraler Teil des Abends. Anweisungen an den Vater, seinen Sohn (Tochter) zu lehren sind gewissermaßen die Ursituation des Lernens in den jüdischen Schriften. Wie oft ist in den fünf Büchern Mose oder den Sprüchen der Väter die Rede vom Lernen aber dieses Lernen findet nicht in der Schule sondern im Haus, auf der Straße, unterwegs statt. Lernen geschieht immer und überall. Und nun hat Etgar Keret ein Buch geschrieben, in dem er Sohn und Vater ist, er lernt und lehrt zugleich. Dieses Buch umfasst sieben Jahre und zwar die Jahre zwischen der Geburt seines Sohnes Lev und dem Tod seines Vaters. Eine Zeit in der der Sohn Etgar Vater eines Sohnes wird und gleichzeitig Sohn bleibt – auch über den Tod des Vaters hinaus.
Das Buch erschien 2016, aus dem Englischen übersetzt von Daniel Kehlmann, der den ironisch, schwebenden Ton, wie wir ihn von Keret kennen, gut trifft. Einige kleine Übersetzungsnachlässigkeiten, wie ein Flugzeug „vermissen“ oder in die Armee „eintreten“, kann man ihm gern verzeihen, aber dass der Mount of Olives im Deutschen der Olivenberg und nicht der Ölberg ist, zeugt nicht nur von Nachlässigkeit sondern von Unkenntnis der christlichen Tradition.
Das Buch ist nicht in Kapitel sondern in sieben Jahre gegliedert und jedes dieser Jahre enthält zwischen vier und sieben wohl autobiographischen Alltagsgeschichten, wobei manche nicht mehr als Skizzen sind.
Das Buch gegen den Strich zu lesen ist nicht ganz einfach. Aber ich habe versucht, es nicht nur als eine witzig, selbstironisch erzählte israelische Geschichte zu lesen, sondern in den vielen kleinen und großen Episoden nach Spuren des Lernens zu suchen, getreu unserem Jahresthema: Nun gehe hin und lerne.
Leben und Tod eröffnen und begleiten das Buch bis zum Ende. Sie gehören zum Vaterwerden und Vatersein. Sein Sohn wird kurz nach einem Selbstmordanschlag geboren. Während seiner Geburt werden die Opfer des Anschlags versorgt. Das erste was der neugeborene Vater für seinen neugeborenen, schreiende Sohn tut, ist ihn beruhigen. Er versucht dem Neugeborenen die ganze Gegenwart und Zukunft des Landes, in das hinein er gekommen ist, zu erklären.
Ich versuche ihn zu überzeugen, dass man sich gar keine Sorgen machen muss. Dass alles im Mittleren Osten geklärt sein wird, wenn er erwachsen ist. Frieden wird kommen, es wird keine weiteren Terroranschläge mehr geben, … aber nicht einmal er glaubt mir, und nach einer Sekunde des Zögerns und einem kurzem Schluckauf, fängt er wieder an zu weinen.
Unter dem Eindruck dessen, was sich gerade auf den Straßen Tel-Avivs ereignet hat, versucht der Vater vergebens seinen neugeborenen Sohn vor der Realität zu schützen und merkt, dass er es nicht kann, der Sohn weint weiter.
Von Anfang an versucht der neue Vater, genau wie sein eigener Vater, „der immer da war, wenn ich gerettet werden musste“, der bedrohlichen Realität ihre Macht zu nehmen und sie mit Spielen und Erzählungen auf die kindliche Ebene herrunter zu brechen. In dieser Hinsicht erinnert das Buch an Roberto Beninis Film Das Leben ist schön.
Es beginnt mit einer fiktionalen Realität, Dass alles im Mittleren Osten geklärt sein wird, wenn er erwachsen ist, und endet mit einer solchen. Im letzten Kapitel ist die Familie auf der Autobahn auf dem Weg in den Norden, als die Sirenen zu heulen anfangen. Sie halten an und müssen sich auf den Boden legen, doch der siebenjährige weigert sich. Da schlägt der Vater vor, Pastrami Sandwich zu spielen – Mutter unten, Lev in der Mitte als Pastrami und der Vater oben. Mit ihren Körpern geben sie ihm Schutz.
Das fühlt sich gut an, sagt Lev lächelnd. Pastrami sein ist das Beste, sagt Shira unter ihm. Pastrami rufe ich. Pastrami ruft meine Frau. Pastrami ruft Lev entweder aus Freude oder aus Furcht mit zitternder Stimme. Papa, schau, da krabbeln Ameisen auf Mama. Pastrami mit Ameisen rufe ich. Pastrami mit Ameisen ruft meine Frau. Igitt, ruft Lev.
Dieses Spiel macht dem Jungen so viel Spaß, dass er, als sie wieder ins Auto steigen, sagt:
„Papa, Versprich mir, wenn es wieder eine Sirene gibt, spielen du und Mama wieder Pastrami mit mir.“ „Das verspreche ich“, sage ich. „Und wenn es langweilig wird, bringe ich dir bei, gegrillten Käse zu spielen.“ „Toll“, sagt Lev, und nach einer Sekunde fügt er ernsthafter hinzu, „Aber wenn es nie mehr Sirenen gibt?“ „Keine Sorge“, beruhige ich ihn, ich glaube mindestens eine oder zwei gibt es noch.“ „Und wenn nicht“, sagt Shira im Vordersitz, „spielen wir ohne Sirenen.“
So endet das Buch. Diese zwei Szenen scheinen eine Klammer um den Text. Sie zeigen einen Vater, der seinem Sohn in einer bedrohlichen Welt Vertrauen lehrt, und noch etwas, die Wirklichkeit darf keine Macht über uns haben, wir können sie verwandeln, wir dürfen uns nicht von der Angst lähmen lassen. Etwas das der Vater-Sohn schon von seinem eigenen Vater, dem unverbesserlichen Optimisten, gelernt hat.
Aber auch der Vater lernt von seinem Sohn. Beim Seder Abend wäre Lev der kluge Sohn, der mit seinen Fragen dem Vater hilft, gewisse Situationen in einem anderen Licht zu sehen. Bei einer Taxifahrt schreit der Fahrer den kleinen Sohn an, weil er den Aschenbecher runtergeworfen hat. Der Vater schreit zurück, die Situation ist angespannt. Da fragt der kleine Lev, „was hat der Mann gesagt“. Aber die Antwort des Vaters „dass du in einem Auto aufpassen musst..“ befriedigt den Kleinen nicht. Er fragt weiter „und was hast du gesagt?“ „Ich habe dem Mann gesagt, dass er völlig recht hat ...“ auch diese Antwort reicht dem Kind nicht. „Aber du hast ihn angeschrien“, „Ich weiß und das war nicht richtig. … Ich werde mich jetzt entschuldigen." Was der Vater auch tut und denkt damit ist die Sache erledigt. Aber der Sohn gibt nicht nach und fordert, dass der Fahrer sich nun auch bei ihm entschuldige, ihm dem Kind. Dies scheint unmöglich und der Vater erfindet Geschichten warum es nicht geht, aber der Junge glaubt ihm nicht. Das Verhältnis zu Taxifahrern ist immer wieder ein Thema in diesem Buch, je unfreundlicher, desto besser geeignet zum Taxifahrer, das weiß er aus Erfahrung. Und nun passiert das Überraschende, der noch vor kurzem schreiende Fahrer hält plötzlich an, beugt sich nach hinten, schaut Lev in die Augen und flüstert: “Glaub mir Junge. Es tut mir leid.“ Eine Phantasiegeschichte löst nicht jede Bedrohung. Der Unterschied zwischen der Pastrami Sandwich- und der Taxigeschichte ist die Art von Bedrohung. Zwei exemplarische Lerngeschichten.
Ein Urquell der Kinder-Eltern Beziehung sind Gute-Nacht Geschichten, die Eltern am Bett des Kindes erzählen. Den Eltern Kerets, beide Holocaustüberlebende, wurden im Krieg keine Geschichten vorgelesen, es gab keine Bücher. Sie hörten selbsterfundene Geschichten. Und diese Tradition setzen sie fort mit ihren eigenen Kindern. Die von der Mutter handelten von Zwergen und Feen, die des Vaters von Trinkern und Prostituierten, in denen das Kind Keret die Magie erkannte, ohne zu wissen, was Trinker und Prostituierte seien. Nach dem Krieg war der Vater Kerets in Süditalien, um Waffen für den Irgun zu besorgen. Dort kaufte er Waffen von der Mafia, die ersten Menschen nach den Grauen des Krieges, vor denen er keine Angst zu haben brauchte, die ihn respektierten. Von dieser Magie handeln die Geschichten. Viele Jahre später, auf einer Lesereise in Sizilien, erkennt Keret, dass die Geschichten seines Vaters ihn etwas lehren sollten:
Etwas über das fast schon verzweifelte menschliche Bedürfnis, das Gute auch noch an den unwahrscheinlichsten Orten zu finden. Etwas über die Sehnsucht, nicht etwa die Wirklichkeit schöner zu machen, sondern nicht darin nachzulassen, nach einer Perspektive zu suchen, die die Hässlichkeit in besserem Licht erscheinen lässt….
Der Vater lehrte dies seinem Sohn und dieser wiederum lehrte es dem seinem. Von Generation zu Generation dieses Wissen weitergeben. Es ist die Folie auf der die vielen kleinen Episoden dieses Buches erzählt werden.
Alle drei Kinder in Kerets Familie haben diese Lehre auf ihre Weise aufgenommen, der ältere Bruder als Aktivist in der Friedensbewegung, die Schwester in einer ultraorthodoxen Gemeinschaft und Etgar eben als Schriftsteller.
Der Vater als Leitbild des Sohnes begleitet ihn sein ganzes Leben.
Als Kind fragte ich meinen Vater, was er für seine grösste Leistung halte. Er sagte, er habe in fünf Kriegen gekämpft und nie jemanden verletzt. Ich wollte mir diese Lektion zu Herzen nehmen: mutig sein, aber nicht beleidigen. Dafür zu kämpfen, was ich will, aber niemandem weh zu tun. (Neue Zürcher Zeitung „Platonische One-Night Stands“ von Carmen Eller 20.6.2016)
Der Vater, dessen Optimismus ihn sein Leben lang begleitet von dem Erdloch in Polen, in dem er und seine Familie sechshundert Tage versteckt waren, nach Israel / Palästina, wo er als freudig optimistischer, aber nicht unbedingt erfolgreicher Geschäftsmann die Sorgen seiner Familien mit überraschenden Geschäftspraktiken besänftigte, bis zu seinem Tod. Selbst als er erfährt, dass es kaum Hoffnung für ihn gibt, hält er die Hand seines Sohnes im Taxi und meint:
…und jeder ist sicher, dass ich die Operation nicht überleben werde, weil ich dreiundachtzig bin. Kannst du dir vorstellen, wie viele Grundstücke ich genau so gekauft habe? Wenn der Eigentümer nicht verkaufen wollte und ich keine Groschen in der Tasche hatte?...Genau so treffe ich gern Entscheidungen, wenn es nichts zu verlieren und alles zu gewinnen gibt.
Solche Entscheidungen trifft auch der Sohn. Seine Frau hatte eine Fehlgeburt, er hat sich bei einem Autounfall den Rücken verletzt und die Diagnose seines Vaters, inoperabler Krebs, steht fest, da lässt er sich einen Schnurrbart wachsen „um allen Small Talk in Richtung des dicken Gesichtshaarbüschels über meiner Oberlippe zu lenken.“
Lehren und beschützen – zwei Verben, wie Seile Vater und Sohn verwebend.
Warum muss ein Vater seinen Sohn immer schützen?, fragt Lev, „die Welt in der wir leben, kann manchmal sehr rau sein. Und es ist nur fair, dass jeder, der in sie hineingeboren ist, mindestens eine Person hat, die da ist, um ihn zu beschützen. Wer beschützt dich jetzt, da Opa tot ist?“
Diese Unterhaltung findet unmittelbar vor einer Lesereise statt, für die er, kurz bevor er ins Taxi stieg, noch ein paar Schuhe seines Vaters eingepackt hat. Als sein Zimmer in New York aufgrund eines Wasserschadens überflutet, der Inhalt seines Koffers völlig durchnässt ist, bleiben ihm nur noch die Schuhe seines Vaters, die auf dem Tisch trocken blieben. „Ich sah die Schuhe meines Vaters an, die trocken auf dem Tisch standen. Ich zog sie an und verschnürte die Bänder. Sie passten perfekt.“ „Schuhe“ heißt eine der frühesten Erzählungen von Etgar Keret. In dieser Geschichte zieht ein kleiner Junge Adidas Schuhe an, um Fußball zu spielen. Obwohl ihm in Vorbereitung auf den Holocaust Gedenktag gesagt wurde, dass deutsche Produkte zu meiden sind. Er zieht sie an, und es ist ihm als ob diese Schuhe, mit denen er auch noch ein Tor schießt, sein im Holocaust ermordeter Opa seien, der sozusagen die Deutschen besiegt hat. Die Schuhe in der frühen Geschichte erwecken den Großvater zum Leben. Das Gleiche geschieht dem erwachsenen Keret in New York. Die Kraft des Vaters geht über auf den Sohn.
Ist nicht Kerets ironisch, satirischer, oftmals grotesker Stil, ein Versuch, die Wirklichkeit in seinem Land, über die er so erschrocken ist, aus einer andern Perspektive zu sehen, die Hässlichkeit in einem besseren Licht erscheinen zu lassen? In dem gleichen Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte er „Literarisches Schreiben heißt, mit der Ambivalenz des Lebens zu ringen“. Und ich möchte hinzufügen, Lernen und Lehren, Vater und Sohn/Tochter, Eltern und Lehrende zu sein, heißt „mit der Ambivalenz des Lebens zu ringen“. Dieses persönlichste seiner Bücher entfaltet diese Einsicht in all ihren Verästelungen.
Etgar Keret:
Die sieben guten Jahre
Mein Leben als Vater und Sohn
S. Fischer Verlag
Frankfurt/M. 2016
224 S.
Euro 19,90
Dr. Eva Schulz-Jander war 20 Jahre Mitglied des
Redaktionsteams des "Themenheftes" und
langjährige katholische Präsidentin des DKR
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