"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Ansprache
Ansprache von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Rahmen der Zentralen Eröffnungsfeier der Woche der Brüderlichkeit am 10. März 2019 im Staatstheater Nürnberg
Ein jüdischer Schüler einer neunten Klasse in Berlin wird von Mitschülern monatelang gemobbt und bedroht. Er verlässt die Schule, eine, die als besonders international und weltoffen gilt. Männer, die Kippa tragen, werden beschimpft, beleidigt und angegriffen: in Berlin, in Bonn, in anderen deutschen Städten. In der Nähe des Brandenburger Tors brennen israelische Flaggen. Stolpersteine und jüdische Grabsteine werden beschmiert und geschändet. Die Liste ließe sich fortsetzen. Lang, zu lang. Und noch länger ist die Liste der Fälle, von denen wir gar nichts wissen, weil sie nie irgendwo gemeldet wurden.
Als Bundespräsident dieses Landes beschämt mich jeder einzelne dieser Vorfälle zutiefst. Es beschämt mich und es schmerzt mich, dass Antisemitismus in Deutschland – gerade hier! – wieder häufiger und offen seine Fratze zeigt. Deshalb wünsche ich mir, dass wir, auch heute hier aus Nürnberg, ein eindeutiges Signal senden: Antisemitismus ist immer ein Angriff auf unsere gesamte Gesellschaft! Er gilt immer uns allen. „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen, nichts tun“ ist keine Option, für niemanden von uns. Wer ein freiheitliches, ein lebenswertes Land will, der muss einstehen und aufstehen gegen Antisemitismus in jeder Form. Wir wollen und wir dürfen das nicht dulden in unserem Land!
„Vor Antisemitismus“, so schrieb es Hannah Arendt im Jahr 1941 bitter-ironisch, und Sie alle kennen diesen Satz, „vor Antisemitismus aber ist man nur noch auf dem Monde sicher“. Antisemitismus ist auch fast 80 Jahre später mitnichten überwunden – bei uns in Deutschland nicht und auch bei unseren europäischen Nachbarn nicht. Heute steigt in Deutschland die Zahl antisemitischer Straftaten, zehn Prozent mehr waren es im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr.
„Mensch, wo bist Du?“ – das Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit ist also ein drängendes, hochaktuelles, vor allem forderndes. Diese erste Frage Gottes an den Menschen, wie sie im Alten Testament überliefert ist, ist die nach seiner Verantwortung. Moderner formuliert, ist es auch die Frage nach seiner Zivilcourage. Mensch, wo bist Du also, wenn Juden verhöhnt, beleidigt, angegriffen werden?
Diese Frage wiegt in Deutschland besonders schwer. Unsere Geschichte, der unvergleichliche Zivilisationsbruch der Shoah, ist uns eine Verpflichtung und eine Verantwortung. Und gegen manche, die das anders sehen: eine Verantwortung, die keinen Schlussstrich kennt.
Ich empfinde tiefe Dankbarkeit, dass jüdisches Leben wieder aufgeblüht ist in Deutschland. Viele der jüdischen Gemeinden sind gewachsen, auch junge Rabbiner werden wieder in Deutschland ausgebildet und ordiniert. Tausende junger Israelis kommen jedes Jahr nach Deutschland, studieren und feiern, gründen Start-ups oder organisieren Theater-Festivals. In Berlin, versichern mir israelische Freunde, kriegt man heute sogar einen ordentlichen Bagel. Ganz im Ernst: Dieses vielfältige jüdische Leben ist ein unschätzbares Glück für unser Land. Vor einigen Wochen habe ich in Berlin an den Feierlichkeiten zu Chanukka teilgenommen, und ich betrachte es als großes Geschenk, dass wir uns über den Abgrund der Geschichte hinweg die Hand reichen können, dass Juden und Christen in unserem Land gemeinsam und öffentlich die Chanukka-Lichter anzünden.
Zugleich erfüllt es mich mit großer Sorge, dass Antisemitismus in Deutschland auch in der Mitte der Gesellschaft wieder salonfähig wird.
Er zeigt sich auf der Straße, in Klassenzimmern und auf Schulhöfen. Er zeigt sich in völkischem Gedankengut in politischen Reden, er zeigt sich als Hass und Hetze im Netz. Gerade dort, in den sozialen Netzwerken, verbreiten sich antisemitische Ressentiments und Verschwörungstheorien, oft anonym, besonders schnell.
Antisemitismus besteht fort in jahrhundertealten Klischees und Vorurteilen gegenüber Juden und dem angeblich Jüdischen, die es in allen europäischen Gesellschaften gab und gibt. Er ist menschenverachtend und widerspricht diametral unseren Wertvorstellungen.
Dazu kommt ein neuer Antisemitismus, den, und auch das müssen wir offen ansprechen, einige Zuwanderer aus israelfeindlich geprägten Ländern mitbringen. Daraus darf kein Generalverdacht gegen alle Zuwanderer aus muslimischen Ländern oder gar „die Muslime“ in Deutschland werden. Aber wir dürfen, ja wir müssen einfordern, dass diejenigen, die bei uns Schutz suchen und hier leben wollen, sich zu unseren demokratischen Werten und auch zu den Lehren bekennen, die wir aus unserer Geschichte des 20. Jahrhunderts gezogen haben.
Unser Grundgesetz garantiert die individuellen Bürger- und Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit. Und es garantiert, dass niemand wegen seines Glaubens diskriminiert oder ausgegrenzt werden darf, egal, was er glaubt und ob er überhaupt glaubt, ob er ein Kreuz, ein Kopftuch oder eine Kippa trägt.
Unser Grundgesetz, unser Strafgesetz, unsere Rechtsordnung ist nicht neutral, wenn es um Antisemitismus geht. Und unsere Demokratie ist es erst recht nicht.
Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass jüdische Synagogen für immer und ewig von der Polizei geschützt werden müssen. Und wir wollen es nicht hinnehmen, wenn jüdische Mitbürger zum Ziel von Hass und Herabwürdigung werden. Jeder solche Hassangriff, jede Herabwürdigung und erst recht jede Gewalttat gegen Juden ist ein Angriff auf die Grundlagen unseres Zusammenlebens, auf unsere Verfassung, ja: auf unsere Demokratie und unsere offene Gesellschaft. Und diese Gesellschaft, wenn sie bleiben will, was sie ist, muss sich wehren gegen jede Form von Antisemitismus: den alten wie den neuen, den lauten wie den leisen, den linken wie den rechten, gegen den in Springerstiefeln genauso wie gegen den in Nadelstreifen! Nichts davon darf seinen Platz haben in unserer Gesellschaft!
Am 9. November vergangenen Jahres haben wir in Berlin der Reichspogromnacht vor 80 Jahren gedacht. „Kann man als Jude in diesem Land leben?“, fragte Jeanine Meerapfel damals. Meine Antwort war und ist: Es ist unsere Pflicht, es ist die Pflicht der deutschen Politik, dafür zu sorgen, dass kein Jude in Deutschland sich durch Furcht gedrängt fühlt, diese Frage mit Nein zu beantworten. Denn in einem Land, in dem Juden nicht leben können, wollen wir alle nicht leben. Ich habe es wiederholt gesagt: Nur wenn Juden in Deutschland vollkommen sicher, vollkommen zuhause sind, ist dieses Land vollkommen bei sich.
Und deshalb darf es uns nicht gleichgültig sein, dass sich Juden bei uns wie in anderen europäischen Ländern zunehmend unsicher fühlen. Es darf uns nicht gleichgültig sein, dass jüdische Schulen und Einrichtungen schwer bewacht werden müssen. Es darf uns nicht gleichgültig sein, dass Sie, lieber Josef Schuster, davor warnen müssen, auf der Straße eine Kippa zu tragen. Ja, es ist die Verantwortung des Staates, die Sicherheit und Freiheit jüdischen Lebens zu garantieren, aber es ist auch die Verantwortung der Gesellschaft und jedes Einzelnen!
Große Verantwortung kommt den Schulen zu. Das Wissen, was Antisemitismus ist, welch lange unselige Tradition er hat, wie der moderne Antisemitismus entstanden ist und wie fanatischer Rassenhass Deutschland in die Barbarei stürzte, wird vor allem in der Schule vermittelt. Alle Kinder, die in Deutschland aufwachsen, brauchen aber auch ein breites Bild des Judentums, von der Vielfalt jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, wie sie sich in Deutschland über Jahrhunderte entfaltet haben. Und auch das lernen sie – wenn sie es lernen – zu allererst in der Schule.
Enorm wichtige Arbeit bei der Prävention und beim Kampf gegen Antisemitismus leisten auch zivilgesellschaftliche Gruppen, und ich möchte Ihnen, den diesjährigen Preisträgern der Buber-Rosenzweig-Medaille, der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus und dem Netzwerk für Demokratie und Courage, ganz herzlich gratulieren!
Gratulieren möchte ich aber auch Ihnen, sehr geehrte Vertreter des Deutschen Koordinierungsrats, zu Ihrem 70-jährigen Bestehen, das Sie in diesem Jahr feiern. Sie haben entscheidend zur Aussöhnung, zum Dialog und zur Verständigung zwischen Juden und Christen in unserem Land beigetragen, und für Ihr unschätzbares Engagement möchte ich Ihnen danken!
Wir leben in Zeiten, in denen Respekt und Vernunft weniger geachtet werden und die demokratischen, auf Vernunft gründenden Regeln unseres Zusammenlebens stärker unter Druck geraten. Zeiten, in denen auch antisemitische Vorurteile und Verschwörungstheorien wieder das gesellschaftliche Klima vergiften.
Insofern müssen wir über den erstarkenden Antisemitismus gleich in zweifacher Hinsicht besorgt sein: Antisemitismus ist immer zutiefst menschenverachtend. Er ist aber auch ein Seismograf für den geistigen und moralischen Zustand einer Gesellschaft. Wo Verschwörungstheorien ihre Verführungskraft entfalten und die gesellschaftliche Polarisierung zunimmt, wo Wut und Hass lauter geäußert werden, wächst auch der Antisemitismus. Ganz grundsätzlich gilt: Je offener und unverhohlener Antisemitismus zutage tritt, umso mehr sind Respekt und Vernunft, umso mehr sind unsere demokratischen Werte ganz allgemein in Bedrängnis. Erschreckende Beispiele dafür sehen wir nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch in unseren Nachbarländern – und Ungarn ist nicht mehr das einzige Beispiel.
Antisemitismus ist in jeder demokratischen Gesellschaft so etwas wie eine rote Linie. Sie muss es sein. Und diese Linie ist nicht verhandlungsfähig.
Vor wenigen Wochen hielt Saul Friedländer im Deutschen Bundestag eine zutiefst bewegende Rede, und viele seiner Worte an jenem 31. Januar sind mir noch im Ohr. Sie müssen uns Mahnung und Ansporn zugleich sein. Ich wünschte mir, wir müssten nirgendwo – erst recht nicht in diesem Land – den Kampf gegen den Antisemitismus, gegen den menschenverachtenden Hass auf Jüdinnen und Juden erneut führen.
Aber, ja, wir müssen es! Und wir müssen es noch viel entschiedener tun!
Dafür brauchen wir staatliches Handeln ebenso wie Zivilcourage. Dafür müssen wir das Gespräch miteinander suchen, Gläubige und Nichtgläubige, Christen, Juden und Muslime. Und wir müssen streiten, gemeinsam gegen jede Form von Antisemitismus.
Lassen Sie uns auf die Frage „Mensch, wo bist Du?“ antworten: Hier! Wir sind hier! Jeder einzelne von uns. Und wir werden nicht wegschauen!
Herzlichen Dank!
Es gilt das gesprochene Wort.