"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Interview mit den Preisträgern

Interview mit den Preisträgern: Dervis Hizarci (KIgA) und Ralf Hron (NDC)


Amelie Fried: Herr Hizarci, gab es irgendwann einen Moment, in dem Sie gesagt haben: Jetzt muss ich etwas tun! Gab es so etwas wie einen Auslöser für Ihr Engagement?

Dervis Hizarci: Ja, das war das Jahr 2003. Da gab es den großen Anschlag auf die Neve-Schalom-Synagoge in Istanbul und zunehmender, wachsender Antisemitismus, zunehmende antisemitische Vorfälle haben die Gründer damals bewegt eine Kundgebung in Kreuzberg zu organisieren, um sich mit Juden und Jüdinnen solidarisch zu zeigen und ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen. Diese Kundgebung war in zwei Sprachen. Den türkischen Part hat mein Kollege, mein Partner, der Direktor der KIgA, Aycan Demirel übernommen, der leider aus gesundheitlichen Gründen heute nicht hier sein kann. Und den deutschen Part hat der Journalist Deniz Yücel übernommen. Und so entstand vor 15 Jahren die KIgA, als ein Protest gegen Antisemitismus. 

Amelie Fried: Wie wars bei Ihnen Herr Hron. Gab es bei Ihnen auch eine Initialzündung?

Ralf Hron: Also leider gab es mehrere Anlässe, aber der hervorstehende war: Am 1. Mai 1998 versuchte die NPD in Leipzig den Tag der Arbeit zu übernehmen. Und da haben Arbeiter-, Jugendverbände, Gewerkschaften, Naturfreunde, Jusos, verschiedene Gruppen und einzelne Personen versucht etwas dagegen zu tun. Wir haben mit verschiedenen Künstlern ein Konzert auf die Beine gestellt und nach diesem Konzert – sehr erfolgreich, unter sächsischen Verhältnissen – haben wir es geschafft zu sagen, miteinander: Das geht nicht, dass wir jetzt einen Tag etwas machen.
Das war die Zeit der DVU, ja, das war die Zeit später der NPD in den Landtagen. Wir müssen jeden Tag etwas machen. Da haben wir gesagt: Wie machen wir das? Wir holen viele junge Leute zusammen. Wir werten die Ergebnisse aus den 90er Jahren der Bildungsarbeit aus.
Und wir haben gesagt: Wir müssen etwas mit den jungen Leuten zusammen machen. Wir können das nicht für sie entwickeln, sondern müssen das mit ihnen entwickeln. Daraus ist das entstanden, was Sie heute gesehen haben.

Amelie Fried: Jetzt sind Sie beide schon viele Jahre aktiv.  Sie haben schon einiges an Erfahrung gesammelt. Welche Art der Ansprache kommt denn am besten an? Also – Sie haben nicht nur mit jungen Leuten zu tun, aber sehr viel mit jungen Leuten. Wie erreicht man die am besten?

Dervis Hizarci: Vor allem mit Glaubwürdigkeit. Also was die KIgA besonders macht ist ganz klar die Haltung der KIgA. Wir denken immer wieder darüber nach, wollen wir Mauern bauen oder Brücken. Wie wollen wir Menschen begegnen? Und das funktioniert nur mit einem einbeziehenden und einem wertschätzenden Ansatz. Auch und insbesondere bei so schwierigen Themen, wie Antisemitismus. Wenn man etwas bewirken will und gegen Antisemitismus kämpfen möchte, dann braucht man Partner. Und wir versuchen in Partnerschaft einbeziehend, wertschätzend Räume zu schaffen, um für das Thema zu sensibilisieren. So das Menschen sich angesprochen fühlen und sich dann selber auch Gedanken machen, was kann ich als einzelner oder in der Gruppe dagegen tun. Aber erst einmal muss eine Beziehungsebene aufgebaut werden. Und das geht nur mit Begegnungen, mit Begegnungen auf Augenhöhe.

Amelie Fried: Sie sagen also: Wir müssen das gemeinsam machen. Wir können das nicht sozusagen von oben herunter lehren, sondern es muss etwas Gemeinsames sein. Wie sieht das dann bei Ihnen in der Praxis aus?

Ralf Hron: Das sieht so aus, dass junge Menschen davon hören. Das ist inzwischen die zigste Generation, die im Netzwerk mitarbeitet, in der Regel so zwei, drei, vier Jahre. Die wollen etwas tun, wenn Polarisierung in der Gesellschaft, wenn Antisemitismus, wenn Rassismus, wenn verschiedene Dinge passieren, die sie umtreiben. Viele treibt das wirklich stark um, bis zur Körperlichkeit. Und die sagen: Wir wollen etwas aktiv tun. Und dann bieten wir ihnen eine Fläche, indem wir gemeinsam inzwischen über 20 Projekttage entwickelt haben. Also wir gehen nicht mal in die Schule und sagen, wir reden nun einen Tag gegen Rechts.
Wir haben sozusagen ein Raster, an dem wir arbeiten. Und das machen wir zusammen mit den jungen Leuten. Und das Prinzip, dass junge Leute zu jungen Leuten kommen, das ist das, was offensichtlich die Aufmerksamkeit a) steigert und b) natürlich auch die Möglichkeit bietet, dass viele Leute mitmachen. Und ich habe den Herrn Bundespräsidenten so verstanden, und wir haben uns damals auch gesagt, wir können nicht mehr weggucken. Wir müssen etwas tun. Das Netzwerk ist ein praktischer Versuch. Und die Menschen, die da mitarbeiten, die machen noch viele andere Dinge.

Amelie Fried: Antisemitische Stereotype sind ja leider sehr fest verwurzelt in den Köpfen bestimmter Menschen. Sie haben vorhin im Film gesagt, wenn wir darauf stoßen, versuchen wir, sie zu entkräften. Wir versuchen die Vielseitigkeit des jüdischen Lebens darzustellen und das Phänomen Antisemitismus zu erklären. Reicht das? Oder hilft am Ende einfach nur die persönliche Begegnung, zwischen denen, die die meisten Vorurteile gegeneinander haben?

Dervis Hizarci: Ich befürchte, dass man Antisemitismus wahrscheinlich nie ganz bekämpfen können wird.  Aber wir schaffen es immer wieder den einzelnen zu treffen, den einzelnen zu überzeugen. Und mit diesen vielen einzelnen schafft man hoffentlich irgendwann, dass der Kampf gegen Antisemitismus, das Engagement gegen Antisemitismus zu einer bürgerlichen Tugend wird.
Es ist wichtig Haltung zu zeigen. Das wurde heute mehrfach gesagt, aber vorher ist es wichtig erst einmal eine Haltung einzunehmen. Man kann keine Haltung zeigen, die man nicht hat. Und das muss erstmal vermittelt werden. Und das ist zum Beispiel auch Aufgabe von Lehrern und Lehrerinnen. Deshalb arbeiten wir in Schulen nicht nur mit Schülern und Schülerinnen, sondern führen viele Fortbildungen für Lehrkräfte durch.

Amelie Fried: Da haben Sie offenbar einen ganz zentralen Punkt angesprochen. Der eben dann auch die Glaubwürdigkeit am Ende ausmacht.
Jetzt kämpfen Sie beide gegen Phänomene, die leider keine rein deutschen Phänomene sind, sondern mittlerweile auch europäische, oder sogar darüber hinaus zu beklagen sind. Sind Sie in Ihrer Arbeit denn auch international vernetzt und wenn ja, in welcher Weise?

Ralf Hron: Also das Projekt Netzwerk für Demokratie und Courage begann ja in Sachsen und ist dann schnell in andere Bundesländer gegangen. Wir sind auch sehr stolz darauf, dass es ein Ost-West-Transfer war – und ja, sowas gibt es nicht so oft.
Und wir haben dann Freunde in Frankreich getroffen, wir arbeiten inzwischen mit österreichischen Freunden zusammen. Und sowieso arbeiten an dem Projekt viele Leute mit, die mehrere Heimaten haben. Da ist die interkulturelle Bewegung, das praktische Erlernen, miteinander etwas tun – das ist der Anker, das nennt man dann Lebensweltorientierung. Außerschulische Bildungsarbeit – das war natürlich auch nicht immer so einfach. Am Anfang dachte man, nee, da kommen nicht Experten in die Schule. Da hat man Schule noch sehr, sehr starr verstanden. Inzwischen ist das normal: In den meisten Ländern, dass man da hingehen kann und das auch außerhalb der Schule Leute Bildungsarbeit gemeinsam machen, weil wir wollen ja eine gemeinsame Verantwortung tragen.  
Viele haben selber Kinder. Viele arbeiten an verschiedenen Positionen. Und wir verstehen diesen Preis, über den wir uns sehr freuen, der für uns natürlich auch Inspiration ist, gleichzeitig dann auch als Aufforderung weiterzumachen und gemeinsam etwas zu tun.

Dervis Hizarci: Wir haben einige internationale Projekte und Programme. Ganz wichtig ist auch der Austausch mit Israel. Schulklassen aus Israel und Schulklassen aus Deutschland zusammenzubringen ist ein Teil unserer Arbeit. Wir haben in der Vergangenheit auch mit der Türkei ein Austauschprojekt gehaben, wo wir sowohl zum Thema Antisemitismus sensibilisiert haben als auch Holocaustbildung vermittelt haben. Und durch diese Arbeit wollten wir ganz klar auch die Zivilgesellschaft in der Türkei stärken.
Das aktuellste internationale Projekt ist ein transatlantischer Austausch- Hier haben wir einen Fokus auf dem jüdisch-muslimischen Dialog gelegt und setzen auf die Bedeutung von jüdisch-muslimischen Allianzen. Und wir hoffen, dass man es auch schafft in Deutschland diese Allianzen anzugehen und aufzubauen.

Amelie Fried: Vielen Herzlichen Dank – Ihr Beifall – nochmal große Gratulation und weiterhin alles Gute für Ihre wichtige Arbeit. Dankeschön.