Der barmherzige Samariter

Ansprache von Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff, Aachen, zu LK 10,25 - 37 bei der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier im Neuen Rathaus zu Leipzig am 10. März 2012 um 17.30 Uhr aus Anlass der "Woche der Brüderlichkeit"


Liebe Schwestern und Brüder,
verehrte Gäste, liebe Freunde!


Lukas erzählt mit der ihm eigenen Erzählkraft das Evangelium vom barmherzigen Samaritan. Ein Gesetzeslehrer - so hebt die Perikope an - fragte Jesus: "Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" Schon diese Frage geht aufs Ganze. Jesus aber antwortet geschickt mit einer Gegenfrage: "Was steht im Gesetz? Was liest du dort?" Und der Gesetzeslehrer antwortete treffend: "Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit all deinen Gedanken. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Er ist wie du. Hier ist die Grundweisung der Liebe zu Gott, wie Juden es täglich im "Schema Jisrael" beten (Dtn 6,4 f.), mit der Aufforderung der Liebe zum Nächsten (Lev 19,18) verknüpft. Das ist die ethische Grundweisung, die uns, Juden und Christen, miteinander verbindet und die im Alten und Ersten Testament wie im Munde Jesu und in den Katechismen aller christlichen Konfessionen zu finden ist. Sie ist Leitfaden für ethisches Handeln in Familie und Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft. So sagt Jesus: "Handle danach und du wirst leben". Handle so, das ist der Weg zum ewigen Leben.

Aber da wir gern Beispiele und Handlungsanweisungen haben wollen, fragt der Gesetzeslehrer: "Und wer ist mein Nächster?" Und Jesus antwortet mit der wunderbaren Geschichte vom barmherzigen Samaritan. "Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab.." 1000 m geht es hinab am Wadi Kelt entlang, über Stock und Stein, rechts die schroffen Felsen, links gelegentlich Schafe, Ziegen, schwarze Beduinenzelte, ab und zu ein Klippdachs, ein Habicht. So durchzieht der Weg die gelbrote Wüste. Der Mann wird von Räubern überfallen, ausgeplündert und halbtot liegengelassen. Wer den Weg kennt, weiß, dass noch heute oberhalb des St.Georgs-Klosters und kurz vor Jericho Leute herumstreunen, denen man nicht gern allein begegnet. Seit alters heißt die Straße oben Maale Adumim, die "Blutsteige" (Jos 15,7) und erinnert an den rot gefärbten Stein oder eben auch an die Gefährlichkeit dieses einsamen Weges.

Und dann kommt Bewegung in die Erzählung: ein Priester nähert sich. "Er sah ihn und ging vorüber", ein Levit folgt: "Er sah ihn und ging vorüber". Gewiß, es ist nach dem jüdischen Gesetz klar. Wenn ein Priester oder ein Levit eine Leiche berührt, wird er kultisch unrein, er kann keinen Tempeldienst versehen. Was geht in den beiden Geistlichen vor? Was wäre jetzt ethisch notwendig? Ich denke, die Abwägung zwischen dem starren Zeremonialgesetz und der ethischen Pflicht, in Todesgefahr Leben zu retten, denn "wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt" (Pirkei Avot), so die Wertschätzung lebensrettenden Handelns aus jüdischer Sicht.

Und dann kommt der Reisende, ein Mann aus Samarien, also ein Landesfremder, dazu einer, dessen Religiosität Juden suspekt war. Von ihm heißt es: "Als er ihn sah, hatte er Mitleid". Er leistet dem zusammengeschlagenen Mann Erste Hilfe. Er gibt ihm stärkenden Wein zu trinken und gießt heilendes Öl auf seine Wunden. Er lädt ihn auf sein Lasttier, unterbricht seine Geschäftsreise und bringt ihn zur Herberge, dem Khan el-Harthur, die auf halbem Wege liegt. Sie ist Gastwirtschaft, Hotel und Kurklinik zugleich. Der Samariter zahlt zwei Denare für Kost und Behandlung und verspricht, bei seiner Rückkehr vorzuschauen und gegebenenfalls eine weitere Zahlung zu leisten.

Diese Geschichte richtet unseren Blick auf den Samariter, der spontan hilft und das Richtige großzügig tut, ein Mensch, der sich von Leid und Not eines Fremden betreffen läßt und verantwortlich handelt und Leben rettet. Das trifft genau das Leitwort, unter dem die dies-jährige Woche der Brüderlichkeit steht: "In Verantwortung für den anderen". Diese Verantwortung nimmt der Landesfremde wahr und lebt das "für den anderen".

Jesus fragt den Gesetzeslehrer am Ende der Geschichte: "Was meinst du? Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der unter die Räuber gefallen war? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso". Diese Beispielsgeschichte zeigt uns eindring-lich, wie barmherziges Handeln geht. Dieses Handeln lehren Judentum und Christentum als Kern ethischer Haltung.

Ich möchte Ihren Blick aber auf einen anderen Aspekt der Geschichte lenken, nämlich auf die Herberge und den Wirt, die Ernährung und Pflege des überfallenen Mannes sicherstellen. Auch sie sind wichtig, weil nachhaltige Hilfe und vollständige Heilung des schwer verletzten Mannes nicht möglich sind ohne Strukturen der Hilfe wie Herberge und Wirt, pflegerisches und ärztliches Fachpersonal. So sehr das persönlich karitative Handeln zu Judentum und Christentum gehört, so bedarf es auch der Strukturen karitativen und diakonischen Handelns in fachlich professionell geführten Einrichtungen.

Diese Blickrichtung führt uns zu der Einsicht, dass jüdische und christliche Ethik vom Menschen verlangt, auch politisch zu sein. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erläutert das Neue der sozialethischen Perspektive gegenüber der traditionellen individualethischen Tugendethik der Moraltheologie. Während das Gleichnis in tugendethischer Lesart den Appell darstellt, den unter die Räuber Gefallenen nicht am Wegrand liegen zu lassen, sondern ihm zu helfen, blickt die Sozialethik über das Einzelschicksal und die konkrete Situation hinaus. Ihre konkrete Frage richtet sich darauf, wie die Straßen und Wege zwischen Jericho und Jerusalem sicherer gemacht und auf diese Weise Überfälle in Zukunft verhindert werden können und wie Opfer von Überfällen und Unfällen "Herbergen", d.h. Krankenhäuser mit professionellem, ärztlichem und pflegerischem Personal zu bezahlbaren Preisen finden können.

Sozialpolitisches Handeln kann heute in einer Zeit der Globalisierung nicht mehr mit den Mitteln einer "Nationalökonomie" allein geregelt werden. Sozialpolitik auch im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft ist mehr als ein "Lazarettwagen, der hinter der wirtschaftlichen Entwicklung herfährt und die Verletzten einsammelt" (Norbert Blüm). Zunächst einmal ist vielmehr dafür zu sorgen, dass Verletzungen möglichst vermieden werden. Hier ist weltweit die Beteiligungs-gerechtigkeit aller am wirtschaftlichen und sozialen Geschehen zu fordern. Die gegenwärtige Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise signalisiert meines Erachtens den hohen Bedarf europäischen und weltweiten ordnungspolitischen Handelns mit einer klaren Orientierung am Weltgemeinwohl, d.h. am bonum commune aller und jedes einzelnen. Wir brauchen das Leitbild eines subsidiären Sozialstaates. In unserer komplexen Wissens-gesellschaft muss Familien- und Bildungspolitik als vorsorgende Sozialpolitik begriffen werden. Kinder aus sozialschwachen Familien, Kinder mit Migrationshintergrund müssen möglichst früh Partizipationsmöglichkeiten an den kulturellen, sozialen und materiellen Rechten unserer Gesellschaften erhalten, um sie vor dem Schicksal lebenslanger Abhängigkeit von staatlicher Alimentation zu bewahren. Die gegenwärtige Schuldenkrise, die die Haushalte an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeiten führt und uns auf Kosten künftiger Generationen leben lässt, muss zu einer Sozialpolitik führen, die die existentiellen Lebensbedingungen der Menschen und das Gemeinwohl der ganzen Gesellschaft und der ganzen Menschheit im Blick hat. Es steht uns, Juden, Christen und allen Menschen guten Willens, gut an, in Solidarität miteinander "Verantwortung für den anderen" zu übernehmen - ortsnah und weltweit. Das darf ich auch aus Aachener Perspektive sagen, wo drei Bischöfliche Werke Misereor, Missio und Kindermissionswerk für eine weltweite Solidarität stehen.

Die ethische Weisung der Gottes- und Nächstenliebe, die Judentum und Christenheit prägt und in dem Gleichnis vom barmherzigen Samaritan ausgelegt wird, zeigt uns, wohin 60 Jahre Woche der Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit uns führen wollen.

Ich möchte schließen mit den Seligpreisungen Jesu, mit denen er den Kern seiner Lehre in der Bergpredigt eröffnet:

"Selig, die arm sind vor Gott,
selig die Trauernden,
selig, die keine Gewalt anwenden,
selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit,
selig, die Barmherzigen,
selig, die ein reines Herz haben,
selig, die Frieden stiften,
selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden,
denn ihnen gehört das Himmelreich "
(Mt 5,3-12)