Themenheft online 2009: "1949 – 2009 Soviel Aufbruch war nie"

Exodus und Revolution

Michael Walzer
 

Seit dem späten Mittelalter oder der frühen Neuzeit gibt es im Westen eine charakteristische Methode, über politischen Wandel nachzudenken - ein Muster, das wir den Ereignissen in der Regel auferlegen, eine Geschichte, die wir einander erzählen. Die Geschichte sieht etwa folgendermaßen aus: Unterdrückung, Befreiung, Gesellschaftsvertrag, politischer Kampf, neue Gesellschaft (Gefahr der Restauration). Wir nennen den gesamten Prozess revolutionär, obwohl die Ereignisse keinen Kreis beschreiben, wenn die Unterdrückung am Ende nicht von neuem erscheint; den Ereignissen wird eine starke Vorwärtsbewegung verliehen.

Dies ist keine Geschichte, die überall erzählt wird; sie stellt kein universelles Muster dar, sondern sie gehört dem Westen, insbesondere Juden und Christen im Westen, und ihre Quelle, ihre ursprüngliche Version, ist der Exodus Israels aus Ägypten. [...]

Das Exodus-Denken scheint, wenn auch in abgeschwächter Form, die Säkularisierung der politischen Theorie überlebt zu haben. Deshalb kleideten utopische Sozialisten, die der Religion gegenüber meist entschieden feindselig eingestellt waren, ihre Argumente weiterhin in vertraute Begriffe... [...]

Die Exodus-Geschichte ist, wie ich wiederholt erklärt habe, die Quelle der messianischen Politik. John Canne, ein Vertreter der englischen Fünften Monarchie, erhob im Jahre 1657 den entscheidenden Anspruch. >>Es ist eine allgemein anerkannte Meinung: In der Tatsache, dass der Herr Israel aus Ägypten hinausführte, zeichnete sich die Befreiung seiner Kirche und seines Volkes von aller Tyrannei und Unterdrückung in den letzten Tagen schattenhaft ab.<< Schattenhaft ist das richtige Wort, und die Schatten sind überlebensgroß: nicht Ägypten, sondern die Welt, nicht diese spezifische Tyrannei, sondern jede Tyrannei und Unterdrückung, nicht die Zukunft, sondern die Letzten Tage. Ohne seine Schatten bietet der Exodus jedoch die Hauptalternative zum Messianismus – wie Oliver Cromwells Auseinandersetzung mit der fünften Monarchie andeutet. Denn der Exodus beginnt mit einem konkreten Übel und endet (oder endet nicht ganz) mit einem partiellen Erfolg. Allerdings schafft der partielle Erfolg ein Problem. Das Ende der Exodus-Geschichte ist so weit vom Ende der Zeiten entfernt, dass mehr als genug Platz für die Rückfälle und die erneute Unterdrückung bleibt, welche die Hoffnung des Exodus immer wieder in messianische Phantasterei verwandeln. Der Messianismus hat seine Ursprünge in der Enttäuschung, in all jenen Ländern Kanaan, die sich als >>fast unfruchtbar<< erweisen. Aber wer kann bezweifeln, dass es besser ist, in Kanaan als in Ägypten zu sein? Und dass es besser ist, auf eine weitere örtliche Befreiung hinzuarbeiten, als die Schrecken der >>vorletzten<< Tage zu riskieren? In jeder revolutionären Bewegung gibt es Männer und Frauen, die, mit Cromwell, sagen möchten: >>Wir sind soweit…<< - und sie möchten genau wissen, wo sie sind. Für die ist die Exodus-Geschichte der Auslöser der Exodus-Politik.

Gemessen am politischen Messianismus, steht der Exodus für eine vorsichtige und gemäßigte Politik. Gemessen an >>der alten Kategorie des gesellschaftlichen Kampfes<< oder der noch verbreiteteren Passivität und Ergebung der Unterdrückten, steht er für revolutionäre Politik. Aber diese Begriffe sind irreführend. Wie wir gesehen haben, kann die Exodus-Geschichte unterschiedlich interpretiert werden, und es ist denkbar, dass Sozialdemokraten und (einige) Bolschewiki mit ihr vertraut sind. Der biblische Text erzählt eine Geschichte von Auseinandersetzung und Kontroverse, und die Kommentatoren lesen den Text im selben Geiste; es gibt stets eine >> weitere Interpretation<<. Der politische Messianismus verhält sich ganz anders. Man kann die Zahl der Tage bis zu den Letzten Tagen endlos berechnen; es gibt stets eine weitere Berechnung; aber sobald eine Entscheidung getroffen worden ist, das Ende der Zeiten zu erzwingen, gibt es keinen Platz mehr für Auseinandersetzungen. Dann wird Politik absolut, sind Feinde satanisch und Kompromisse unmöglich. Die Exodus-Politik gleitet – manchmal – in Richtung Absolutismus, wie in einer Predigt, die Stephen Marshall im Jahre 1641 vor dem Unterhaus hielt: >> Alle Menschen sind verflucht oder gesegnet, je nachdem, ob sie ihre Kräfte vereinen und dem Volk des HERRN die beste Hilfe gegen dessen Feinde leisten, oder ob sie es nicht tun.<< Fluch und Segnung stammen vermutlich aus dem Deuteronomium, aber Marshall kommt der späteren bolschewistischen Parole nahe: >> Du bist entweder für uns oder gegen uns.<< Nur wenn der Kampf als endgültig verstanden wird, lässt sich die Wahl so radikal einschränken. Für Männer und Frauen, die innerhalb der Exodus-Tradition arbeiten, hat die Wahl jedoch meist einen anderen Charakter. Es gibt keinen Endkampf, sondern eine lange Reihe von Entscheidungen, Rückfällen und Reformen. Der apokalyptische Krieg zwischen >>dem Volk des HERRN<< und >> dessen Feinden<< ist im Exodus nicht leicht zu finden.

Der Absolutismus wird, wie ich meine, schon durch das Wesen des Volkes wirksam gebannt; die Menschen sind verängstigt, halsstarrig, streitsüchtig und gleichzeitig Mitglieder des Bundes. Sie können nicht getötet (jedenfalls nicht alle) oder beiseitegestoßen oder auf wunderbare Weise geändert werden. Sie müssen geführt, gezüchtigt, verteidigt, durch Diskussionen überzeugt, ausgebildet werden – Tätigkeiten, die jede simple Kennzeichnung von >>Feinden << untergraben und unmöglich machen. Die revolutionäre Idee eines heiligen Volkes bringt natürlich Feinde hervor, aber der Kampf ist nie so melodramatisch, wie Marshalls Rezept vermuten lässt. Die Gegenwart des Volkes schafft Realismus, nicht nur weil einige angehörige des Volkes hartnäckige und skeptische Realisten sind und schwierige Fragen stellen, etwa der Psalmist, der wissen möchte: >>Ja, GOTT sollte wohl können einen Tisch bereiten in der Wüste?<<, oder der Midrasch-Rabbi, der sich erkundigt: >>Aus welchem Grund tötest du dreitausend Menschen an einem einzigen Tag?<< Das Volk schafft auch Realismus, weil das Tempo des Marsches seinen Gefühlen angepasst werden muss, weil man seinen Rebellionen entgegenwirken, Führer aus seiner Mitte zu wählen und das Gesetz vor seinen Ohren darzulegen hat. Es lässt sich nicht leicht in Freunde und Feinde einteilen; gerade seine Halsstarrigkeit ist irgendwie bewundernswert. Viele Hebräer fühlten sich immer noch zu Ägypten hingezogen, schrieb Benjamin Franklin in einem >>Vergleich des Benehmens der alten Juden und der Anti-Föderalisten<<, aber >>im großen und ganzen scheint (aus dem text) hervorzugehen, dass die Israeliten ein Volk waren, das seine neugewonnene Freiheit sorgsam hütete<<. Sie seien nur unerfahren gewesen und, wie die Amerikaner, >>von verschlagenen Männern bearbeitet worden…“

Dies ist ein typisches Beispiel der Exodus-Politik, aber es gibt keine hinreichende Vorstellung von der ernüchternden Kraft der biblischen Geschichte, denn Franklin war schwerlich geneigt, die Anti-Föderalisten als Vertreter des Antichrists zu betrachten. In den Schriften zeitgenössischer Befreiungstheologen wird die Kraft der Geschichte deutlicher. Man kann in ihren Büchern und Essays ein stetiges Drängen hin zu politischem Messianismus verspüren, aber da der Exodus der übliche Bezugspunkt für die Befreiung und das Gelobte Land das übliche Ziel ist, findet man auch ein starkes Gefühl innerweltlicher Komplexität. Exodus-Geschichte und –Politik hemmen die christliche Eschatologie. Und Befreiung ist keine Bewegung aus unserem entehrten Zustand hin zum messianischen Königreich, sondern aus >>der Sklaverei, Ausbeutung und Entfremdung in Ägypten<< hin zu einem Land, in dem die Menschen >>menschenwürdig<< leben können. Die Bewegung spielt sich in der historischen Zeit ab; die schwere und kontinuierliche Arbeit von Männern und Frauen ist für sie verantwortlich. Der beste der Befreiungstheologen warnt seine Leser ausdrücklich vor >> jeder Absolutsetzung der Revolution<< und vor >>jeder Idolatrie hinsichtlich eines unvermeidlich mehrdeutigen menschlichen Erfolgs<<. Auch dies ist Exodus-Politik.

Pharaonische Unterdrückung, Befreiung, Sinai und Kanaan sind also immer noch zugegen – nachdrückliche Erinnerungen, die unsere Wahrnehmung der politischen Welt gestalten. Die >>Tür der Hoffnung<< ist immer noch geöffnet; die Dinge sind nicht das, was sie sein könnten – selbst wenn das, was sie sein könnten, sich nicht völlig von dem unterscheidet, was sie sind. Dies ist ein Zentralthema der westlichen Philosophie, stets gegenwärtig, wenn auch auf viele verschiedene Arten weiterentwickelt. Wir – oder viele von uns – glauben immer noch an das, was der Exodus uns zuerst über Sinn und Möglichkeit von Politik und über ihre angemessene Gestalt lehrte (oder was er uns nach allgemeiner Annahme lehrte): erstens, dass wo immer man lebt, wahrscheinlich Ägypten ist; zweitens, dass es einen besseren Ort, eine reizvollere Welt, ein Gelobtes Land gibt; und drittens, dass >>der Weg zu dem Land durch die Wüste führt<<. Wir können von hieraus nur dorthin gelangen, wenn wir uns zusammenschließen und marschieren.

(Quelle: Michael Walzer, Exodus und Revolution, Rotbuch-Verlag, Berlin 1988, vergriffen; mit frdl. Gehnehmigung des Autors)


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