Themenheft online 2020: "Tu deinen Mund auf für die Anderen"
„Verhalte dich so, als sei die DDR ein demokratischer Staat“
Gabriel Berger
Ohne mein Zutun hatte es sich ergeben, dass ich anders war als die anderen. Denn ich kam 1957 dreizehnjährig aus Polen in die DDR. Der zaghafte Versuch von 1956, unter dem Parteichef Gomulka Polen zu demokratisieren, wurde damals von antisemitischen Misstönen begleitet, die viele polnische Juden, auch zahlreiche Familien meiner Klassenkameraden und schließlich auch meinen Vater, aus dem Land trieben. Als Kommunist wählte er aber nicht Israel, sondern die DDR als seine neue Heimat, weil sie im Gegensatz zum wankelmütigen Polen nach wie vor unbeugsam an der Seite der Sowjetunion und des Sozialismus stand.
Mit dem Wechsel in die DDR änderte sich für mich, außer der Sprache, im Prinzip nicht viel. Wieder war ich in einem sozialistischen Land, mit mir weitgehend bekannten Ritualen bei den Pionieren und in der FDJ. Gewöhnungsbedürftig war für mich jedoch, dass ich jetzt unter Feinden, nämlich den Deutschen lebte, die aber unter sozialistischem Vorzeichen zu Antifaschisten mutiert waren. Offener Antisemitismus wurde in der DDR jedenfalls hart bestraft und zumindest das war für mich nach den Erfahrungen in Polen beruhigend. Trotz meiner anfangs absolut korrekten sozialistischen Überzeugung ging ich schon bald zu den Verhältnissen in der DDR auf Distanz. Denn es hatte sich in meinem Bewusstsein ein Virus eingenistet, der in mir zunächst nur leise Zweifel verursachte, sich aber mit den Jahren ausbreitete und schließlich meinen Abfall vom Glauben an die Unbeflecktheit und Güte der kommunistischen Idee zur Folge hatte. Es war der Virus demokratischer Ideen und Freiheiten, den ich schon als Kind in Polen eingefangen hatte.
Sofort nach der Ankunft in der DDR nahm ich die Restriktionen im Kulturbereich wahr, das Verbot der als vergiftet und dekadent geltenden westlichen populären Musik, die Strafen für das Hören von Westsendern, aber auch Androhungen von Repressalien für Besuche im Westen. Einige Jahre später fiel mir auf, dass die in der DDR obligatorische Doktrin des „sozialistischen Realismus“, die Künstlern und Literaten die Verherrlichung und Idealisierung des Sozialismus vorschrieb, in Polen schon 1956 auf der Müllhalde der Kulturgeschichte gelandet war und dass sich polnische Philosophen und Geisteswissenschaftler im Gegensatz zu DDR-deutschen weitgehend vom doktrinären Marxismus verabschiedet hatten. Seit dem ich ab 1962 an der Technischen Universität Dresden Physik studierte und die obligatorischen Marxismus-Vorlesungen besuchte, schärfte sich mein Blick für den Widerspruch zwischen dem hohen Anspruch und der von der Parteidiktatur geprägten Wirklichkeit des Sozialismus in der DDR.
Nachdem ich 1961 gegenüber Mitschülern noch den Bau der Mauer verteidigt hatte, war ich inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass keine Ideologie es rechtfertigen konnte, ein ganzes Volk in den Grenzen des Landes einzusperren. Und ich erkannte, dass man in der DDR nicht nur körperlich, sondern auch geistig eingemauert war. Immer wenn ich in Ferien meinen alten Freunden in Polen einen Besuch abstattete, hatte ich das Gefühl ein Gefängnis zu verlassen. Ich atmete auf, trotz der in Polen verglichen mit der DDR sehr dürftigen materiellen Bedingungen. In dieser Beziehung hatten es die Machthaber in der DDR leichter als in Polen: Für den permanente Mangel an Konsumgütern konnte sie Boykott, Sabotage, Abwerbung von Fachkräften sowie ideologische Diversion seitens der feindlichen Bundesrepublik als Begründung vorschieben. Polnischen Funktionären standen so bequeme Ausreden kaum zur Verfügung.
Doch viele polnische Intellektuelle schienen den allgegenwärtigen materiellen Mangel mit stoischer Gelassenheit hinzunehmen. Sie fühlten sich höheren, nichtkommerziellen Werten verpflichtet und testeten in ihrem Land die Grenzen der Freiheit aus. Auf Bühnen polnischer studentischer Theater wurde Kritik am sozialistischen System geübt, für die in der DDR das gesamte Ensemble in der Stasi-Haft landen würde. Auch schien in Polen der eiserne Vorhang durchlässiger als in der DDR zu sein. Denn man konnte im Prinzip aus Polen in den Westen reisen, wofür allerdings die allgemeine Armut und der Mangel an Devisen eine Schranke bildeten. Und in den polnischen Presseklubs konnte man, sofern man sprachkundig war, auch nichtkommunistische westliche Zeitungen und Zeitschriften frei lesen, undenkbar in der DDR. Polen war weiß Gott kein Paradies, aber im Vergleich zur DDR ein freies Land. Das motivierte mich, 1967, nach Abschluss des Physik-Studiums, beim Innenministerium meine Entlassung aus der DDR-Staatsbürger¬schaft und in der polnischen Botschaft die Wiedererlangung der polnischen Staatsbürgerschaft zu beantragen. Das Innenministerium verlangte von mir die Zusage der polnischen Botschaft, die ich aber nicht erhielt, weil Juden die Polen verließen endgültig die polnische Staatsbürgerschaft entzogen wurde, und das galt auch für mich.
Da ich nun den DDR-Behörden als unsicherer Kantonist bekannt geworden war, wurde meinen Bemühungen um das Ablegen der DDR-Staatsbürgerschaft ein Riegel vorgeschoben, indem ich als einziger Dresdener Physik-Absolvent zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee einberufen wurde. Das war für mich ein GAU, nicht nur wegen dem mit dem Wehrdienst verbundenen Verlust individueller Freiheit, sondern besonders wegen der Rolle, die der Volksarmee im Konflikt der „Bruderländer“ mit der Tschechoslowakei zugedacht war. Denn damals, im Jahr 1968, setzte sich in der Tschechoslowakei ein Reformkurs durch. Im westlichen Ausland sprach man vom „Prager Frühling“, das war ein Aufbruch des ganzen Volkes zur Demokratie und Selbstbestimmung. Der Traum von einem freiheitlichen, demokratischen Sozialismus breitete sich über den ganzen Ostblock aus und erfasste besonders junge Menschen, auch mich. Mit Gleichgesinnten diskutierte ich über demokratische Alternativen zum stalinistischen „realen Sozialismus“. Das tat ich auch in der Armee, was mir aber unter Androhung der Haftstrafe streng untersagt wurde. Damals erörterte ich mit Freunden, ob es wohl sinnvoll sei, in die SED einzutreten. Denn es war in der Tschechoslowakei die kommunistische Partei, die die Gesellschaft zur Demokratie hin veränderte. In der DDR müsste es folglich die SED sein.
Die tschechoslowakischen Führer der kommunistischen Partei und des Staates um Alexander Dubcek prägten das Diktum vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, womit sie dem Sowjet-Sozialis¬mus, der mit unterschiedlichen Facetten im ganzen Ostblock herrschte, die Menschlichkeit absprachen. Das war eine Provokation, von der sich besonders die spätstalinistische Sowjetunion und die mit Brettern vernagelte DDR bedroht fühlten. Also planten und realisierten die Ostblock-Staaten einen Cup: das Niederwalzen des tschechoslowakischen Reformsozialismus mit Tausenden Panzern und hunderttausenden Soldaten. Ich bangte, dass auch meine Einheit in die Tschechoslowakei einrücken würde, was aber zum Glück nicht geschah, vermutlich weil man den Tschechen und Slowaken nicht zumuten wollte, noch einmal von deutschen Truppen besetzt zu werden. Eine der Folgen der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ war eine, zumindest in der DDR, um sich greifende Resignation, der Rückzug politisch interessierter, engagierter junger Menschen in die innere Emigration. Viele warteten von nun an auf eine Gelegenheit, aus der hermetisch abgeriegelten DDR zu fliehen.
Nach dem Militärdienst nahm ich 1969 die Arbeit als Physiker am Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf bei Dresden auf. Zugleich beobachtete ich mit Spannung die immer wieder von Streiks und nachfolgenden staatlichen Repressionen erschütterte Lage in Polen. Nach Studentenprotesten von 1968, die der Staat mit einer Welle antisemitischer Hetze erstickt hatte, und dem allgegenwärtigen wirtschaftlichen Niedergang des Landes, ging es der sich in Polen formierenden Oppositionsbewegung immer mehr um den Ausstieg aus dem missglückten sozialistischen Experiment. Seit Mitte der siebziger Jahre lautete die Losung polnischer Oppositioneller: „Verhalte dich so, als sei Polen ein demokratischer Staat.“ Diese Haltung war nicht zuletzt ein Echo der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 in Helsinki stattgefunden hat In der KSZE-Schlussakte, die auch von allen Ostblock-Staaten, außer Albanien, unterzeichnet wurde, verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten zur Einhaltung grundlegender Menschenrechte, darunter Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Freiheit das Land zu verlassen. Nun konnten sich alle kritischen Bürger der Staaten Osteuropas auf die KSZE-Schlussakte berufen, um ihre Rechte einzufordern.
Seitdem 1976 in Polen das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) entstanden ist, druckten polnische Oppositionelle systemkritische Flugblätter, Zeitschriften und Bücher im Untergrund und nahmen dafür Repressionen des Staates in Kauf. 1977 kam noch die „fliegende Universität“ dazu, unabhängige, vom Staat nicht kontrollierte Kurse in Geschichte und Sozialwissenschaften. Eine gesellschaftliche Veränderung, das war die Einsicht polnischer Oppositioneller, war nur durch Mut zur Verbreitung der Wahrheit zu erzielen, durch einen Mut, der ein Vorbild für Wankelmütige sein könnte. Doch was schon in den siebziger Jahren mit Adam Michnik und Jacek Kuron in Polen, mit Vaclav Havel in der Tschechoslowakei und mit Andrej Sacharow in der Sowjetunion möglich war, war in der DDR damals kaum denkbar. Zu mächtig war die Staatssicherheit und zu abschreckend die Haftstrafen. Vielen Gegnern des repressiven DDR-Systems erschien es sinnvoller, auf abenteuerlichen und zum Teil Lebensgefährlichen Wegen aus dem hermetisch abgeschotteten Land zu fliehen, als unter Inkaufnahme drohender langjähriger Gefängnisstrafen in der DDR aktiv zu werden. Die Mutigsten und Entschlossensten wagten die Flucht. So blutete in der DDR die Opposition systematisch aus. Mein Freundeskreis in Dresden und Ostberlin schrumpfte.
Auch ich musste mich fragen, ob es einen Sinn hatte, den Rest des hoffentlich noch langen Lebens in der Unfreiheit der DDR zu fristen. Deshalb sah ich in der Schlussakte der KSZE eine Chance. Ich konnte mich auf sie berufen, um legal die DDR zu verlassen. So dachten damals hunderttausende DDR-Bürger, von denen zahlreiche Anträge auf Verlassen der DDR stellten. Ich schloss mich dieser Massenbewegung an. Im November 1975, vier Monate nach Veröffentlichung der KSZE-Schlussakte, stellte ich einen Antrag auf Verlassen der DDR und Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Den Antrag begründete ich politisch. Die DDR sei nicht sozialistisch, weil ein Sozialismus ohne Demokratie undenkbar sei, argumentierte ich im Sinne der Ideen des „Prager Frühlings“. Außerdem berief ich mich darauf, dass mein Vater freiwillig in die DDR gekommen war und ich nichts anderes wollte, als ebenso freiwillig die DDR zu verlassen. Zudem stellte ich das Recht der DDR als eines deutschen Staates in Frage, nach dem Holocaust Juden vorzuschreiben, in dem Land zu bleiben.
Der Antrag wurde abgelehnt, vielleicht weil er zu provozierend war, vielleicht aber, weil alle Anträge zunächst abgelehnt wurden, um eine Nachahmung zu verhindern. Schon damals sinnierte ich, was wohl passieren würde, wenn der Drang die DDR zu verlassen eine Lawine von Ausreiseanträgen und Fluchtversuchen auslösen würde und wenn sich ein Zug von hunderttausenden Menschen auf die verriegelten Grenzen zu bewegte. Das wäre mehr als ein Misstrauensvotum gegenüber der DDR-Führung, wie es sich in den obligatorischen Pseudowahlen mit dem von vornherein festgelegtem Ergebnis niemals ergeben konnte. Doch die im Gedächtnis haftenden Bilder der rollenden sowjetischen Panzer am 17. Juni 1953 in der DDR, am 4. November 1956 in Ungarn und am 21. August 1968 in der Tschechoslowakei schienen die Absurdität solcher Gedankenspiele zu untermauern. Aber genau eine solche Situation ergab sich mehr als zehn Jahre später, in den Jahren 1988 und 1989. Sie führte schließlich zum Fall der Berliner Mauer und zum Ende der DDR.
Nachdem mein Antrag im Februar 1976 abgelehnt wurde, war mir klar dass ich, um nicht in der DDR als Paria zu leben, um jeden Preis meine Ausreise erzwingen musste. Dazu musste ich mir in dem von der Staatsicherheit fast lückenlos kontrollierten Land eine Öffentlichkeit verschaffen und meine unbeugsame Haltung demonstrieren. Ich machte mir die Maxime der polnischen Opposition zu Eigen „verhalte dich so, als sei die DDR ein demokratischer Staat“. Ich musste meine Angst überwinden und handeln. Also protestierte ich in einem Schreiben an zuständige Behörden und an die Staatssicherheit gegen die Ablehnung meines Ausreiseantrages und kündigte, ohne konkret zu werden, Protestaktionen an. Wenige Tage später hängte ich in der Kantine des Instituts für Kernforschung in Form einer Wandzeitung auf rotem Untergrund die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte auf. Diejenigen Menschenrechte, die in der DDR permanent verletzt wurden, darunter das Recht das Land zu verlassen, unterstrich ich rot. Meine Aktion meldete ich in Briefform bei der Polizei und der Staatssicherheit. Mit der Belegschaft des Instituts für Kernforschung verschaffte ich mir in dem gleichgeschalteten Land eine Ersatz-Öffent¬lichkeit. Und mit der Ankündigung und Meldung der Aktion bei Behörden unterstrich ich ihren streng legalen Charakter. Denn die DDR hat mit dem UNO-Beitritt im Jahre 1973 die Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formal anerkannt. Meine Aktion blieb nicht ohne Resonanz seitens der Kollegen und der Institutsleitung, aber wegen ihres legalen Charakters ohne Konsequenzen. Danach bombardierte ich die Behörden, immer auch die Staatssicherheit, mit Briefen, in denen ich klarstellte, dass meine politische Haltung, meine Auffassung von Sozialismus und Demokratie, mit den Verhältnissen in der DDR unvereinbar waren und ich deshalb das Land verlassen musste, um weitere Konflikte zu vermeiden. Auch distanzierte ich mich von der Verurteilung meiner Person durch die Institutsleitung. Dass ich nicht fristlos entlassen wurde, hatte ich dem Schutz zu verdanken, den ich wegen meiner Geburt in einer jüdischen Familie im deutsch besetzten Frankreich als anerkannter Verfolgter des Naziregimes genoss.
Nach wenigen Wochen wurde ich von der Staatssicherheit vorgeladen. Es wurde mir zugesichert, meinen Ausreisefall rasch zu bearbeiten, aber unter der Bedingung dass ich auf weitere Aktionen verzichten würde. Ich gab der Staatssicherheit eine Frist von drei Wochen für eine glaubwürdige Bestätigung des Willens, mich aus der DDR herauszulassen. Nachdem diese Frist ohne ein Zeichen seitens der Staatssicherheit verstrichen war, kündigte ich die Wiederaufnahme meiner Protestaktionen an, deren Konsequenzen ich aber nicht absehen konnte. Als ich nach der Wende, im Jahre 1993, in der Gauck-Behörde die mir geltenden Stasi-Akten zu lesen bekam, war ich geschockt. Denn ich las darin, dass ich damals, im Jahre 1976 gesiegt hatte. Die Stasi hatte intern beschlossen, mich so bald wie möglich in den Westen abzuschieben, um die Nachahmung meiner Aktionen durch Kollegen im Institut für Kernforschung zu vermeiden. Doch diese Information wurde mir damals vorenthalten und ich meinte Grund genug zu haben, der Staatssicherheit nicht zu trauen. Zwei Wochen vor dem 1. Mai 1976 beantragte ich bei der Volkspolizei und der Staatssicherheit die Durchführung einer Demonstration gegen die Verletzung der Menschenrechte in der DDR. In dem Antrag schrieb ich unter anderem: Sollte Ihnen eine Demonstration nicht als das geeignete Mittel erscheinen, meinen staatsbürgerlichen Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte in der DDR kundzutun, dann bitte ich Sie, mir andere in der DDR legale Formen öffentlichen Protestes vorzuschlagen. Das war wohl für die Stasi des Guten zu viel. Am 28.04.1976 wurde ich in meiner Arbeitsstelle verhaftet und in die Dresdner Stasi-Untersuchungshaft gefahren. Damit erübrigte sich für mich die schwierige Entscheidung über die Form meiner Demonstration am 1. Mai.
Nachdem ich mich vom Schock der Verhaftung erholt hatte, setzte ich im Stasi-Gefängnis meine Aktionen fort, indem ich unter anderem mit dem Gummistöpsel des Waschbeckens auf den Ölsockel Protestlosungen schrieb. Dabei stellte ich wiederum das Recht deutscher Behörden in Frage, mich als Juden mit Gewalt in ihrem Land zu halten. Meinen Protest unterstrich ich mit einem Davidstern aus Toilettenpapierstreifen, den ich an die Zellenwand klebte. Für die Beschimpfung der Wachmannschaft als Nazis und Gestapo musste ich mit einem fünftägigen Aufenthalt in der Gummizelle büßen. Nach Ablauf der einjährigen Haftstrafe wegen „Staatsverleumdung“, deren Rest ich in der Haftanstalt Cottbus verbüßte, durfte ich schließlich in den Westen ausreisen. Mit meinem Widerstand habe ich nicht die Gesellschaft verändert, wohl aber meine persönliche Freiheit erkämpft. Doch ich war mir sicher, wenn Millionen um ihre individuelle Freiheit kämpfen würden, könnten sie die Gesellschaft verändern. Das geschah in der DDR im Jahre 1989.
Ich war in der DDR ein Sonderfall, von dem sich ein Schluss auf die übrige Gesellschaft verbietet. Es war die in Deutschland je nach Standpunkt kritisierte oder idealisierte „doppelte Loyalität“ zur DDR und zu Polen, nimmt man Israel hinzu, sogar eine „dreifache Loyalität“, die mich in der DDR zum Insider mit dem kritischen Outsider-Blick machte, wodurch ich für das totalitäre System unbrauchbar wurde.. Vielleicht können mehrere Blickwinkel auf die Geschehnisse im eigenen Land dessen Bewohner vor den Versuchungen des Totalitarismus bewahren. Denn sie schaffen einerseits eine Barriere gegen nationalen Chauvinismus und Geringschätzung anderer Kulturen, schärfen andererseits den Blick für die Unvollkommenheit der Verhältnisse, in denen man lebt. Eine solche Distanz zur provinziellen Enge einer national „homogenen“ Gesellschaft ist nötig, um den Werbungen menschenverachtender Ideologien und dem Anpassungsdruck der Mehrheit zu widerstehen, der seinem Wesen nach totalitär ist.
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