"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Interview mit Oberbürgermeister Dr. Maly
Interview mit Dr. Ulrich Maly, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg
"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" -
Interview mit Oberbürgermeister Dr. Maly, Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg
Amelie Fried: Meine Damen und Herren, wir sind in Nürnberg, der Stadt, die untrennbar mit den Rassegesetzen von 1935 verbunden bleiben wird, mit denen im Handstreich das Unrecht gegen Juden zu Recht erklärt wurde. Einer Stadt, die aber auch in Verbindung steht mit den Nürnberger Prozessen, bei denen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Staates vor Gericht standen.
Wie geht man als Stadt mit einer solchen historischen Verantwortung um? Darüber möchte ich gern sprechen mit dem Oberbürgermeister von Nürnberg, Herrn Dr. Ulrich Maly.
Herzlich willkommen!
Herr Maly, was bedeutet es für Sie, für Nürnberg, dass diese Veranstaltung heute hier stattfindet?
Dr. Ulrich Maly: Wir freuen uns, ganz einfach! Nach Nürnberg zu kommen, ist ja für viele Menschen aus Israel und Menschen jüdischen Glaubens über lange Zeit unvorstellbar gewesen, weil diese Stadt, in der ganzen Welt durch die von Ihnen schon erwähnte Vergangenheit stigmatisiert war. Und für Nürnberg heißt es auch, dass wir uns verpflichtet fühlen - wir nennen es „verpflichtende Vergangenheit“- , diesen Linien der Vergangenheit gerecht zu werden. Das sind zum einen natürlich die „Nürnberger Gesetze“, die die Blaupause für den Massenmord darstellen. Das sind die Nürnberger Prozesse als überstaatliche Gerichtsbarkeit. Das ist aber auch - das wird, glaube ich, oft unterschätzt - mit dem Reichsparteitagsgelände der Ort, an dem die Täter sich selbst inszeniert haben und an dem letztlich Goebbels und die Propagandaabteilung die Zutaten gemixt haben, die heute noch von Unrechtsregimes auf der ganzen Welt ebenso angewandt werden wie damals. Das heißt, der Blick geht in die Vergangenheit, aber er muss, im Sinne verpflichtender Vergangenheit, immer auch in die Zukunft gehen.
Amelie Fried: Wie wirkt sich diese historische Verpflichtung im Nürnberg von heute aus? Wie nehmen Sie diese Verantwortung auf?
Dr. Ulrich Maly: Ja, es ist natürlich nicht damit getan, Gedenkstätten zu bauen oder Museen aufzumachen. Es muss sich auch im Alltag zeigen. Die Nürnberger Zivilgesellschaft, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Verbände, Vereine, viele davon sind heute hier vertreten, ist in dem Bündnis ‚Nürnberg hält zusammen‘, organisiert. Nürnberg versteht sich als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“, mit dem Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis, der Straße der Menschenrechte, dem städtischen Menschenrechtsbüro und vielen Aktiven in der Stadtgesellschaft. Es gibt unzählige „Schulen gegen Rassismus“. Wir haben ganz viele Projekte; erst neulich hat eine Gruppe von Jugendlichen die Geschichte eines in den 30er Jahren enteigneten Hauses verfolgt, hat die ehemaligen jüdischen Eigentümer und ihre Nachfahren aufgesucht und, ich glaube, dass die Jugendlichen mit solchen konkreten Projekten mehr lernen (anwesende Lehrer mögen mir verzeihen) als in drei oder zehn Schulstunden, weil über die Forschung am konkreten Objekt Geschichte auch ein Gesicht bekommt. Und das wird die Aufgabe bleiben. Das Ziel ist, vom Bundespräsidenten zurecht beschrieben, eigentlich ganz einfach: Ich möchte, dass vor unserer Synagoge kein Polizeiauto mehr stehen muss, dass Normalität einkehrt, weil die jüdische Gemeinschaft sich ja nicht etwas Besonderes wünscht, sondern nichts Einfacheres als Normalität und Selbstverständlichkeit, und da gibt’s natürlich den Auftrag für die Polizei, aber mindestens genauso für unsere Zivilgesellschaft.
Amelie Fried: Was kann denn ein Oberbürgermeister oder überhaupt die Politik dafür tun, dass eine Stadtgesellschaft solidarisch ist und eben nicht rassistisch oder antisemitisch wird? Hat das nicht eine Menge mit sozialer Gerechtigkeit zu tun? Weil es ja meistens die Abgehängten sind, die dann anfällig für populistisches Gedankengut werden.
Dr. Ulrich Maly: Ja, nicht nur. Das wäre zu einfach in der Analyse. Antisemitismus ist, das ist ja gut untersucht, tatsächlich in der Geschichte, auch in der Nachkriegsgeschichte, durchaus in bestimmten Feldern sozial korreliert. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit findet sich aber in allen Schichten. Auch in allen Bildungsschichten. Das heißt, wir müssen die Zivilgesellschaft organisieren: ‚Nürnberg hält zusammen‘. Man braucht eine Politik, die versucht, offensichtliche Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Es ist ja derzeit auch auf der Bundesebene spürbar, dass sich alle Parteien in dieser Richtung intensiv Gedanken machen. Aber das ist das eine. Und das andere ist tatsächlich, dass wir versuchen, in unserem täglichen Arbeiten Haltung zu zeigen. Und dass wir bestimmte Dinge auch, ja, zur Chefsache erklären. Das ist immer so ein etwas großspuriger Begriff, aber es macht schon etwas aus, wenn diejenigen – wir haben es heute sehr schön gesehen, beim Bundespräsidenten, beim Ministerpräsidenten –, die Verantwortung tragen und im Licht der Öffentlichkeit stehen, sich hinstellen und sagen: „Hier ist die rote Linie, die ist nicht verhandelbar!“ Das gehört schon auch dazu.
Amelie Fried: Wie soll man denn damit umgehen, dass in jüngster Zeit Rechtsradikale ganz gerne zu Gedenkstätten gehen, die eigentlich dem Holocaustgedenken dienen und diese missbrauchen für ihre Aufmärsche, für ihre Propaganda, auch z.B. hier auf dem Parteitagsgelände. Wie soll man damit umgehen, als Politik, als Öffentlichkeit?
Dr. Ulrich Maly: Man sitzt da, wenn man ehrlich ist, in der Zwickmühle. Denn denen, die bei-spielsweise unlängst in Nürnberg die Fackeln angezündet haben, ging es ja nur darum, ein Fünfminutenvideo ins Netz zu stellen und damit zu provozieren. So dass man sich im Einzelfall immer überlegen muss: Mache ich mich zum Werkzeug dieser Provokation und stelle die Öffentlichkeit erst her? Dagegen spricht, und es spricht immer dagegen, dass Ignorieren falsch ist. Wir müssen uns dagegen wehren und auch dagegen aufstehen. Wir dürfen auf der anderen Seite aber solche Inszenierungen, die nur dafür abgehalten werden, um möglichst viele Klicks zu erzielen, auch nicht überbewerten.
Das heißt, das eine Rezeptbuch dafür gibt es nicht. Man muss sich im Einzelfall überlegen, wie man reagiert. Ich glaube, dass das Gedicht von Erich Fried immer eine gute Richtschnur ist: „Das Ungetane fällt oft genug auf fruchtbaren Boden. Es geht auf, es gedeiht, es wird groß. Und seine Frucht ist die Untat.“
Und das ist ja die Botschaft der Woche der Brüderlichkeit: Wir müssen etwas tun.
Amelie Fried: Vielen herzlichen Dank, Oberbürgermeister Ulrich Maly