"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Gemeinschaftsfeier

Begrüßung und Hinführung zum Thema von Regionalbischof Prof. Dr. Stefan Ark Nitsche bei der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier zur Woche der Brüderlichkeit am 9.3.2019 im Historischen Rathaus-Saal, Nürnberg


- Wörtliche Mitschrift -

Oh, dass ich doch hören könnte im Lande, dass sich Treue und Wahrhaftigkeit begegnen und Frieden und Gerechtigkeit sich küssen.

Mit diesen Worten aus dem 85. Psalm, aus der Schatztruhe unserer gemeinsamen Lieder und Gebete, aus diesem Füllhorn poetischer Theologie, begrüße ich Sie alle sehr herzlich an diesem Abend. Ich begrüße Sie am Vorabend der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit zu unserer gemeinsamen Feier.

Willkommen in Nürnberg – vor allem denen, die von weither kommen. Willkommen in einer Stadt, in der es immer wieder Menschen gab, die, so wie in der jüdischen Tradition die zehn Gerechten, diese Worte des Psalmisten im Herzen trugen und das Ihre dazu versuchten, dass sie nicht untergehen. Dass aus dieser sehnsüchtigen Vision, doch noch Realität werden könnte. 

Viele Jahreszahlen und die entsprechenden Ereignisse prägen unsere gemeinsame Geschichte hier in Nürnberg. 1349 die Zerstörung der Synagoge am jetzigen Hauptmarkt. Und dann viele Jahre keine Gemeinschaft. Eher durch Politiker, als durch die Einsicht von Theologen, konnten wir wieder zusammen leben in dieser Stadt. Und es gab neues Leben und vor 145 Jahren – diesen September jährt es sich wieder – hat der erste Rabbiner der Neuzeit hier in Nürnberg, Dr. Moritz Levin, folgendes gesagt bei der Einweihung der neuen Synagoge: „Gleich welche Sprache, welche Gesinnung, welche Welt- und Lebensanschauung – alle sollen im Gotteshaus durch das ewig Göttliche erhoben werden. Auf das jene Verheißung erfüllet wird. Wie beim Propheten Jesaja im 56 Kapitel steht: ‚Mein Haus wird ein Haus sein, für alle Menschen.‘“

Welch ein Wort über dieser Synagoge: „Neugründung“. Kein halbes Jahrhundert später, die Zerstörung. Noch bevor es anderswo in Deutschland so weit war, passierte es in Nürnberg. Und dann, gleich nach dem Krieg, kommen Menschen zurück. Einer, der jetzt nicht mehr unter uns weilt, Arno Hamburger, war mit dabei. Auf der Suche nach seinen Eltern, wird er fündig in dieser Stadt. Er bleibt hier und findet andere, um mit denen zusammen – manche von diesen sitzen heute unter uns – eine neue Gemeinde zu gründen. Und es beginnt etwas was unglaublich war für unsere Väter – ein neues Zusammensein.

Und so schreibt sich in diese Stadt die Sehnsucht des Psalmisten, immer wieder durch Menschen laut geworden, ein. Und es kommt dazu, dass aus der Stadt der Reichsparteitage und all dem, was damit an grausigen Gesetzen verbunden ist, die Stadt der Menschenrechte wurde. Manche von Ihnen haben heute Nachmittag vielleicht die Führung in der Straße der Menschenrechte mitgemacht oder waren draußen am Dokumentationszentrum oder im Memorium Nürnberger Prozesse. In dieser Stadt ist zusammengekommen, was zusammengehören sollte.

Auch durch die Allianz gegen Rechtsextremismus, die wir gemeinsam mit vielen, vielen anderen betreiben hier in der Metropolregion. Auch der Rat der Religionen tut das Seine und die Bürgerbewegung für Menschenwürde und manch andere, die engagiert sind in dieser Stadt.

Das Motto der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit im dritten Kapitel des Buches Genesis, des ersten Buches Mose:
וַיִּקְרָא יְהוָה אֱלֹהִים, אֶל-הָאָדָם; וַיֹּאמֶר לוֹ, אַיֶּכָּה. – Wo bist Du, Mensch?

Man kann das ja ganz verschieden hören, je nachdem wie es ausgesprochen wird. Ich denke, wir werden im Verlauf des Abends noch einiges dazu hören.

Ich höre es heute Abend nicht als Vorwurf, sondern als ein Locken. Ein Locken des Menschen in die Verantwortung. Er hat vom Baum der Erkenntnis gegessen und jetzt kann er sich nicht mehr rausreden. Er weiß um die Unterscheidung von Gut und Böse, auch wenn es ihm das Paradies der Kindheit kosten wird, trotzdem ist es ein Schritt ins Erwachsensein.

Wo bist Du Mensch? Mensch wo bist Du? Und ein Kapitel später, was wir Christen und Christinnen mühsam lernen müssen, ist erst die Rede von der Sünde, dort, wo es um Todschlag geht. Wo dann die Frage Gottes drängender wird:
ויאמר יהוה אל קין אי הבל אחיך ויאמר לא ידעתי השמר אחי אנכי׃ – Wo ist Abel, Dein Bruder?

Die Fragen werden drängender. Und zwischen diesen beiden biblischen Kapiteln ist die ganze Menschheitsgeschichte aufgespannt. Auch die Geschichte dieser Stadt. Zwischen diesen beiden Fragen leben wir. Die zweite Frage musste in dieser Stadt auch immer wieder gestellt werden und in unserem Land auch. Und es war gut, dass es Menschen gab, die im Auftrag Gottes und im Auftrag ihres eigenen Gewissens diese Fragen gestellt haben.

Aber wie schön wäre es doch, wenn wir aus der ersten Frage „Wo bist Du Mensch?“, die uns in die Verantwortung ruft, die uns herausruft aus dem sich verstecken, abschieben, nicht wahrhaben wollen, aus dem verschämt zurückgehen – wenn wir dieser Frage schon folgen könnten, und ins Licht treten würden, die Verantwortung, die uns mit unserem Erwachsensein als Menschen mitgegeben ist, wahrnehmen würden. Vielleicht würde dann die sehnsüchtige Stimme des Psalmisten „Oh, dass ich doch hören könnte, dass sich im Lande Treue und Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Frieden begegnen und einander küssen“ Wahrheit werden.

Die zweite Frage, die drängende Frage nach dem: „Wo bist Du, Bruder? Wo bist Du, Schwester?“ – Egal, wo Du herkommst. Dass die Frage nicht mehr gestellt werden muss, weil wir wirklich, wie Bruder und Schwester, wie Geschwister, miteinander umgehen.

Wunderbar, was heute vorgestellt wurde von den Preisträgerinnen und Preisträgern, heute Nachmittag, was wir morgen noch einmal hören werden. 

Lassen Sie uns in der Hoffnung darauf, dass die „Kain-Frage“ nicht mehr die aktuelle ist, alles dafür tun, dass wir in unserem Land einander Geschwister sein können und gemeinsam die Verantwortung wahrnehmen, in die uns die Frage „Wo bist Du, Mensch?“ hineinnimmt.

Amen.