"Mensch, wo bist du? Gemeinsam gegen Judenfeindschaft" - Gemeinschaftsfeier
Ansprache zum Thema von Erzbischof Dr. Ludwig Schick bei der Christlich-Jüdischen Gemeinschaftsfeier zur Woche der Brüderlichkeit am 9.3.2019 im Historischen Rathaus-Saal, Nürnberg
Liebe Schwestern und Brüder!
1. Am Anfang des Öffentlichen Lebens Jesu steht die dreimalige Versuchung durch den Teufel. Sie ist bedeutend für Jesu Leben und Wirken, aber auch für das Leben eines jeden Menschen, der gottgefällig und gerecht leben und für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt wirken will. Aufgabe und ein Ziel des Judentums und Christentums ist: der gottgefällige und gerechte Mensch!
Die Perikope „Die Versuchung Jesu“ ist auch ein Text, der uns, Juden und Christen, in besonderer Weise verbindet. Die Worte, die Jesus dem Versucher entgegenhält und mit denen er die drei Versuchungen des Teufels überwindet, sind Worte aus der Heiligen Schrift der jüdischen Tradition, aus dem Ersten Testament. Papst Johannes Paul II. hat 1986 in der Synagoge von Rom erklärt: „Ihr (die Juden) seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“ Die Versuchung Jesu unterstreicht diese Aussage.
2. Die drei Versuchungen und die drei Schriftworte haben mit dem Thema der diesjährigen Woche der Brüderlichkeit zu tun: „Mensch, wo bist du? – Gemeinsam gegen Judenfeindlichkeit“.
„Mensch, wo bist du?“, fragt Gott Adam. Wir können diese Frage auch etwas abwandeln und sagen: „Wo bist du Mensch?“ oder: „Wo stehst Du, Mensch?“ und noch einmal anders: „Wie wirst du zum Menschen und bleibst Mensch, gottgefällig und gerecht?“ Adam und Eva hatten sich vor Gott versteckt, weil sie sich von IHM abgewandt hatten; sie hatten vom verbotenen Baum der Erkenntnis gegessen, von dem zu essen, ihnen verboten war. Und was erkannten sie? Dass sie nackt waren! Ohne Gott steht der Mensch nackt da.
3. Jeder Mensch ist nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen. Um dieses Sein und diese Bestimmung zu leben, muss er den drei Versuchungen widerstehen, nicht nur einmal, sondern sein Leben lang.
• Die erste Versuchung besteht darin, dass der Mensch von Gott unabhängig, ganz autonom werden will. Selbst das Brot, das Grundnahrungsmittel, will er sich selbst aus den Steinen „machen“ können, um nicht mehr beten zu müssen: „Unser tägliches Brot gib uns heute“.
• Die zweite Versuchung zielt darauf hin, Macht über alle anderen zu gewinnen, Allherrscher und Alleinherrscher zu sein. Das Judentum und das Christentum lehren dagegen, dass es über allen Mächtigen dieser Erde den Allmächtigen gibt, der allein Herrscher über alle Menschen, Völker und Reiche ist. Ihm sind auch alle Mächtigen dieser Welt unterworfen und verantwortlich; das zähmt alle weltliche Macht und weist alle Mächtigen dieser Erde in die Schranken!
• Die dritte Versuchung ist die Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung, der Narzissmus und die Selbstverliebtheit. Im religiösen Bereich kommt noch die Selbstsakralisierung hinzu. Mit den Engeln, die den Menschen, der sich selbstherrlich von der Zinne des Tempels hinabstürzt, auf ihren Händen tragen, kann er beweisen, dass er ein Übermensch ist, der dann auch alles tun und lassen kann, was er will. Aber das will Gott nicht! Der Mensch soll Mensch sein und nicht Gott; nur so ist und bleibt er Mitmensch.
Nur wer diesen drei Versuchungen widersteht, kann und wird gottgefällig und gerecht sein, kann entsprechend leben und handeln.
4. Das „Vater unser“, ein jüdisch-christliches Gebet, ist das tägliche Gebet gegen die drei Versuchungen des Menschen.
• Vater unser im Himmel – Es gibt den Allmächtigen im Himmel und auf der Erde; er allein ist Schöpfer und Herr und wir dürfen weder uns noch andere ihm gleichstellen.
• Geheiligt werde dein Name – Nicht meiner und nicht der irgendeines anderen Menschen darf geheiligt werden, der Name Gottes ist zu heiligen; keine Selbstsakralisierung, keine Sakralisierung eines Menschen.
• Dein Reich komme – Sein Reich ist Gerechtigkeit und Friede, Solidarität und Einheit mit allen.
• Dein Wille geschehe – Gottes Wille ist, dass wir ihn lieben und unseren Nächsten wie uns selbst; keine narzisstische Selbstverliebtheit.
• Unser tägliches Brot gib uns heute. Von IHM, zusammen mit allen Menschen das tägliche Brot zu erbitten, bewahrt die Solidarität und Mitmenschlichkeit.
• Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern – „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein!“, sagt Jesus. Wer wagt es? In Wahrhaftigkeit die eigene Schuld anerkennen und die Schuld der anderen vergeben, erhält die Gemeinschaft.
• Führe uns nicht in Versuchung – Lass uns in der Versuchung nicht untergehen, barmherziger Gott. Gib uns wie Jesus zur rechten Zeit die heiligen Worte ein, mit denen wir den Versuchungen widerstehen können.
• Erlöse uns von dem Bösen – Mach uns frei von aller Ungerechtigkeit und aller Feindschaft, allem Unheil und Unfrieden.
5. Der gottgefällige und gerechte Mensch ist nicht feindlich gegen seine Mitmenschen, nicht judenfeindlich, sondern gerecht und friedvoll allen gegenüber, unabhängig von ihrer Ethnie, Herkunft, Einstellung und Religion.
Judenfeindschaft ist, religiös gesprochen, Blasphemie und Gotteslästerung. Sie missachtet Gott, sie erhebt sich über Gott, der allen Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte gibt. Der Mensch, der sich einfügt in den Willen Gottes, wird den Menschen gerecht. Er kann nicht judenfeindlich sein, sondern handelt menschenfreundlich. Das müssen wir gemeinsam verkünden und fördern, immer und heute wieder besonders.
„Mensch, wo bist du“ - vor Gott, IHM wohlgefällig und so gerecht zu allen Menschen?