Wer miteinander fühlt, ist tief verbunden
Ansprache von Weihbischof Prof. Dr. Karlheinz Diez bei der christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier anlässlich der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit im Ständehaus zu Kassel, 02. März 2013
Sehr geehrter, lieber Herr Bischof Prof. Dr. Hein, lieber Bruder Hein,
sehr geehrte liebe Schwestern und Brüder im jüdischen und im christlichen Glauben!
Zuerst muss ich Ihnen mitteilen, dass Herr Landesrabbiner em. Dr. h.c. Henry G. Brandt leider nicht anwesend sein kann; er ist durch Krankheit verhindert. Wir bedauern sehr seine Abwesenheit, am meisten bedauert er es selbst. In den 27 Jahren als jüdischer Präsident ist es das erste Mal, dass ihm die Teilnahme verwehrt ist. Wir grüßen ihn sehr herzlich und wünschen ihm gute Genesung. Herr Dr. Lagodinsky aus Berlin wird ihn beim Aaronitischen Segen vertreten.
Ganz herzlich darf ich Sie alle heute zu unserer christlich-jüdischen Gemeinschaftsfeier hier in Kassel begrüßen. Ich darf dies tun und danke den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit und dem Deutschen Koordinierungsrat für ihre sorgfältigen Vorbereitungen für diesen Tag. Es ist zu einer lebendigen und sehr wichtigen Tradition geworden, dass Menschen des jüdischen und christlichen Glaubens in regelmäßigen Abständen zusammenkommen und sich in der Woche der Brüderlichkeit als Geschwister begegnen und austauschen. Sie – wir alle - drücken damit unsere Verbindung im Glauben und unsere Verbundenheit als Bürgerinnen und Bürger unseres Landes aus. Dieses Land Deutschland steht für nie gekannte Grausamkeiten an jüdischen Frauen, Männern und Kindern. So ist diese Woche der Brüderlichkeit in Deutschland nicht nur so wichtig, um daran zu erinnern, sie steht auch auf einem Fundament, das der beständigen guten Pflege bedarf.
Sachor (Gedenke): Der Zukunft ein Gedächtnis – unter diesem Leitgedanken steht die diesjährige Woche der Brüderlichkeit. Der Begriff sachor steht ganz häufig in der hebräischen Bibel, in unserem „Ersten“ Testament. Weit über 150mal wird er wiederholt. Erinnere dich, gedenke, vergiss nicht, bewahre deine Geschichte, hole das wieder in den gegenwärtigen Augenblick zurück, was ohne dein Erinnern verloren gehen würde – so kann man das Wort sachor auch interpretieren. Israel soll sich nach der jüdischen Tradition seines Gottes, seiner Geschichte, seiner Anfeindungen und Wüstenzeiten erinnern. Sachor bedeutet letztlich Existenzsicherung durch Erinnerung, ohne diese Fähigkeit gäbe es das jüdische Volk vielleicht heute nicht mehr. Erinnern heißt aber auch, Zukunft zu ermöglichen, nachkommende Generationen in den großen Fluss der Geschichte und Religion einzubinden, sie in die religiösen Traditionen einzuführen und sie weiterzugeben. Es ist die Verheutigung dessen, was in Jahrtausenden geschehen ist.
Sachor (Gedenke): Was wir heute hier in dieser Gedenkfeier tun, ist also mehr als ein Revue passieren lassen von Zahlen und Fakten im Sinne einer geschichtlichen Aufzeichnung. Was wir tun, verbindet die Menschen unserer Religionen, es schafft einen Bezug zu den Vorfahren und gerade zu denen, die in der jüngsten Geschichte einen so unfassbaren, grausamen Tod sterben mussten. Gerade sie wollen wir zurückholen in unser Gedächtnis. Wir nehmen sie mit in unsere Zukunft, damit wir vor falschen Zukunftsvisionen bewahrt bleiben. Lion Feuchtwanger drückt es so aus: „Jedes Erlebnis Israels wird betrachtet als Fortsetzung früherer und als Verknüpfung mit zukünftigen Ereignissen“. Es geht also um das wirkliche Sicheinlassen, um das Spüren und Schmecken der Vergangenheit, um das sich berühren lassen als Quelle einer Vergewisserung, die sich und uns selbst erneuert.
Im Jahr 1999 lehrte hier an der Universität Gesamthochschule Kassel im Rahmen der Franz-Rosenzweig-Gastprofessur Rabbiner Albert H. Friedlander. Er wurde 1927 in Berlin geboren, konnte mit seiner Familie dem Holocaust in die USA entfliehen und verstarb 2004 in London. Er schreibt einmal: „Einen Wirbelsturm kann man nicht lehren, man muss ihn erfahren.“ Und weiter: „Was während der Shoa, jenem Wirbelsturm der Vernichtung, der in Hitlers Deutschland sechs Millionen Juden tötete, geschehen ist, davon können wir nichts wissen, indem wir ausschließlich von Fakten und Figuren und wissenschaftlichen Erklärungen hören. Darüber hinaus müssen wir jene dunklen Tage und brennenden Nächte auch berühren, fühlen, schmecken. Unsere Herzen müssen sich in Schrecken und Schmerzen zusammenziehen. Unser Geist muss sich weiten, um Raum für das Unbegreifliche zu schaffen. Und unsere Liebe zum Gut des Lebens muss stark genug werden, um in diese Dunkelheit hinein zu reichen und um in das Herz dieser Finsternis zu gelangen, um sie selbst zu erfahren.“
Erinnerung als berühren, fühlen und schmecken. Wer sich darauf einlässt, wird nicht vergessen können. Wer den anderen berührt, ihn fühlt, fühlt auch mit. Wer miteinander fühlt, ist tief verbunden. In einer solchen Verbindung können Freundschaft und Frieden gedeihen. Danken wir Gott, dass Freundschaft und Verbundenheit möglich geworden sind. Der Gott der Liebe und der Versöhnung, auf den wir jetzt in dieser Gemeinschaftsfeier besonders hören, möge uns alle darin bestärken und schützen.