"In Verantwortung für den Anderen"

Ansprache des Jüdischen Präsidenten des Deutschen Koordinierungsrates Landesrabbiner em. Dr. h.c. Henry G. Brandt bei der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit 2012 in Leipzig.


Aus der Perspektive der Geschichte gesehen ist eine Zeitspanne von 60 Jahren nicht besonders bemerkenswert. Nach biblischen Vorgaben sind sie nur eine Hälfte der Dauer eines Menschenlebens. Trotzdem markieren und feiern wir heute bewusst das 60jährige Bestehen der Woche der Brüderlichkeit hier in Deutschland und meinen auch jeden Grund dafür zu haben. Wer vor sechs Jahrzehnten, d. h. im Jahre 1952, noch im tiefen Schatten der Schoà und des mörderischen Weltkriegs stehend gewagt hat, sich auf den Weg zu machen um unter der Überschrift „christlich-jüdisch“ sich Brüderlichkeit auf die Fahnen zu schreiben, darf nach 60 Jahren unserer schnelllebigen Zeit mit Recht und Sinn Bilanz ziehen und Perspektiven bedenken. Er darf auch feiern und sich feiern lassen. So wollen wir das mit Ihnen, hier versammelt im Gewandhaus zu Leipzig oder mit uns vor den Fernsehschirmen vereint, gebührend tun.

Dazu gilt unser Gruß in erster Linie Ihnen Herr Ministerpräsident Tillich und dem Oberbürgermeister dieser großen Stadt Herrn Jung und Ihren Damen.

(In der Folge werden in freier Rede folgenden Gäste begrüßt: die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, namentlich die Herren Bischöfe Mussinghof, Hein und Dröge, Herr Mayzek vom Zentralrat der Muslime und Herr Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma. Die anwesenden Herrn Rabbiner, besonders Herrn Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, den Vertreter der israelischen Botschaft. Alle anwesenden hohen Vertreter von Religion, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien, die vielen Vertreter der Vorstände und Mitglieder der GCJZ landauf landab. Das Beste zuletzt: Preisträger Präses Nikolas Schneider und sein Laudator Frank-Walter Steinmeier)

Soll das Wort Brüderlichkeit nicht zu einer leeren Floskel verkommen, so wie es vielen edlen Bezeichnungen für große Werte in den Texten der professionellen Sonntagsredner geschieht, müssen wir diesen Begriff immer erneut auf den Prüfstand stellen. Die Brüderlichkeit, die ich meine, ist eine fundamentale Beziehung zwischen Menschen, die sich aus der Bibel ergibt und die auf alle Menschen anwendbar ist, ungeachtet Geschlecht, Herkunft, Besitz, Hautfarbe etc. Sie ergibt sich aus der Schöpfungsgeschichte sowie aus den Geboten der Nächsten- und Fremdenliebe.

Brüderlichkeit verlangt unsere Anerkennung, dass, a priori, das Leben und das Wesen jedes Menschen dem unsrigen gleichwertig sind.
Jüdische Weise haben schon vor ein paar Tausend Jahren auf die Frage, warum die Menschheit von nur einem Menschen, einem Paar, abstammt, geantwortet: „Auf dass du nicht sagen kannst, meine Abstammung ist höher, besser als die deine.“

Wir brauchen uns aber nicht vormachen, mit dieser Feststellung der Gleichwertigkeit aller Menschen sei es getan. Sie bildet nur den großen Rahmen in dem sich, in unzähligen und unterschiedlichsten Episoden, die Praxis der zwischenmenschlichen Beziehungen abspielt. Auf dem harten Boden der Realität zeigt uns Brüderlichkeit viele Facetten, bedingt durch viele Variablen wie Umfeld, Sitz im Leben, geschichtliche wie wirtschaftliche Faktoren, Werteskalen, mit denen man aufgewachsen ist und zu denen man steht. Was Brüderlichkeit von denen, die vor 60 Jahren nach ihr strebten, abverlangte ist ganz was anderes als was sie von uns heute fordert.

Damals: Mitgefühl, Verständnis oder gemeinsames Schweigen angesichts des unsäglichen Schmerzes des Verlorenen, des Ausgelöschten während der Zeit, da die Hölle herrschte in unseren Landen. Der zögernde, behutsame Aufbau der ersten Stadien baufälliger Brücken war das Gebot der Stunde. Heute sind die Anforderungen robuster im Lichte der globalisierten, verkabelten und vernetzten heterogenen Gesellschaft, in der wir uns befinden. Herauszufinden, was Brüderlichkeit nun fordert und auch wo ihre Grenzen liegen, scheint das Gebot der Stunde zu sein.

Wir haben als Arbeitsthema für dieses Jahr vorgeschlagen: In Verantwortung für den Anderen. Eigentlich ist es mehr Frage als apodiktische Forderung. Es spiegelt in sich wieder die Frage nach den Inhalten von Brüderlichkeit in den Umständen in denen wir leben. Gutmenschentum und Political Correctness – mit denen wir ja reichlich gesegnet sind – haben da eine einfache Antwort: Du gibst, er nimmt. Basta. Das kann und wird nicht funktionieren, gegeben, dass der Mensch ist wie er ist. Dazu kommt, dass diese Haltung den Nehmer eigentlich als Mensch abwertet und degradiert.

Voraussetzung für wahre Brüderlichkeit ist ihre Gegenseitigkeit, ihre Reziprozität. Denn wie der Andere eben jener ist, für den ich Verantwortung tragen soll, bin ich sein Anderer, für den er gleichermaßen Verantwortung tragen soll und muss. Natürlich bedeutet dies keineswegs Gleichheit oder Parallelität der Anforderungen, die sich aus der Verantwortung ergeben. Dafür sind meistens die Ausgangspositionen zu unterschiedlich. Doch in irgendeiner Weise muss etwas Wesentliches in entgegengesetzter Richtung fließen, auch wenn nur Wertschätzung, Respekt, Rücksicht und vieles mehr, das sich in dem Fundus des nicht materiellen finden lässt. Mute ich dem Anderen nicht zu, was von mir verlangt wird, degradiere ich ihn zu einem Menschen zweiter Klasse, weil – angeblich – ich ihm nicht zumuten kann, was man mir als Fähigkeit zu tragen, zumutet. Der Schritt zum Rassismus ist dann klein.

Daher, was Brüderlichkeit jeweils beinhaltet und fordert ist immer im Fluss. Die Verantwortungen, die sich daraus ergeben, müssen immer neu erforscht und konfrontiert werden. Die sich immer verändernde Welt erheischt auch in dieser Frage immer neues Denken und neues Tun. Doch eines wird wohl immer gleich bleiben: Ich bin des Anderen Anderer. Wir müssen beide uns gegenseitig etwas geben, sodass wir beide nehmend bereichert werden. Wie Brüder, eben!

Ich eröffne hiermit die Woche der Brüderlichkeit 2012.